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Nette Bücher

Heute wollen wir uns einmal ganz leicht und locker anziehen – damals, als man sich noch nicht darüber freute, wenn einer eine ganze Warenladung ins Meer gesenkt hatte, nahm man dazu weißen Flanell – und weit, weit von dieser entsetzlichen Erzieherhaftigkeit teutscher Wochenschriften wollen wir ein bißchen in ein paar Büchern blättern, in ein paar netten Büchern.

Im Jahre 1909 ist von Paul Busson ein kleiner Band ›Arme Gespenster‹ erschienen, und es gibt heute noch die Exemplare der ersten Auflage, mit ihrem anständigen Papier, in gutem Leinenband, in der saubern Ausstattung, in der der Verlag Albert Langen die meisten seiner Bücher herausgebracht hat. Laßt einmal den ganzen Kram mit den Lehrsätzen beiseite: solch ein Buch macht Spaß. Es enthält an die zehn Geschichten, reizend erzählt, knapp und fettfrei. Sie spielen in verschollenen Jahrhunderten, und es ist Kraft darin, etwas von jener Kraft, mit der der Student Busson einmal auf dem Paukboden gestanden haben mag – und das bunte Abenteurertum ist nicht aus blassen Tintenfässern gesaugt, sondern wirklich ausgefüllt. Herr Busson wird wahrscheinlich nachts nur selten unter den Galgen seiner Heimatstadt gehen und da die armen Gehenkten abschneiden, aber es ist zu fühlen, wie er solche Kerls bejaht, die's tun. Und lange, bevor Edschmid (von dem ich immer annehme, dass er eigentlich Kasimir Eduard Schmid geheißen hat, einfach Schmid) in gewundener Qual mit der imaginären Kraft andrer protzte, lange, bevor es Mode war, seine Helden mit verächtlich geschürzten Lippen einen ganzen Harem ausschlagen zu lassen (»Sie würden das nicht können!«) – lange vor dieser schönen Zeit lag in diesen Geschichten so eine Art Romantik spielender Kraft. Ob man dazu nun ja oder nein sagt, das ist Geschmackssache; ich mag den Band immer wieder lesen: die hübsche kleine Erzählung von dem erstochenen Dichter mit den Versen:

Je suis mort de l'amour, entrepris
entre les jambes d'une dame;
bienheureux, d'avoir rendu l'âme
au même lieu, où je l'ai pris.

Oder – und die gefiel mir immer am besten – die famose Geschichte vom ›Probestück‹, das der künftig anzustellende Henkersknecht an einem armen Jüden in der Folterkammer ausüben soll. Wie da die scheußliche Roheit – golden leuchtet der alte Satz: confessio regina probatorum – von der simpel bürgerlichen Seite angesehen ist, wie still und sachlich die Marterung beschrieben und betrieben wird, denn sie wird bezahlt und ist schließlich ein Gewerbe gewesen wie andres auch: das ist meisterhaft. Nicht ein Flocken Mitleid ist darin, aber doch schreit einer zum Himmel aus dem finstern Turm: Adonai – Adonai! Der alte Henker und sein fröhlicher Nachfolger aber gehen nachher einen Schoppen trinken ›auf den schönen Tag‹.

Man gewinnt ja gemeinhin, wenn man die Dinge so bürgerlich pathosfrei wie der alte Fontane ansieht, dem nach seinem eigenen Geständnis nichts so sehr fehlte als der Sinn für Feierlichkeit. Wohl ihm und uns! Und es ist nur zu wünschen, dass recht viele lernten, die Große Zeit auch einmal von hinten zu sehen, aus dem Kulissenloch, hinter dem sonst der Feuerwehrmann steht. So sah der junge Gustave Doré die Weltgeschichte; Peter Scheer hat seine illustrierte historische Abhandlung über Rußland in 477 Bildern herausgegeben. (›Das heilige Rußland‹, gleichfalls bei Albert Langen.) Es sind unendlich komische Bildchen in dem Buch. Gewiß, man darf nicht an die Hunderte seiner (Dorés) kleinen Bilderchen zu Balzacs ›Contes drôlatiques‹ denken; da überkugelt sich sein Witz, in denen steckt aufgeplustertes Mittelalter mit Offenbachschen Ritterrüstungen, fabelhaften Schleppen, dicken, angesoffenen Mönchen mit vier Nasen im Gesicht, und in denen steckt die restlose Bewältigung des winzigen Formats. Gewiß, man darf nicht an Daumier denken; hier wird nicht getötet, sondern nur gekitzelt und geneckt, aber wie lustig und spaßig wird das gemacht! Doré hatte Zeit, obgleich er so viel in seinem Leben gezeichnet hat; ich glaube, das ist sein großes Geheimnis. In unsern trostlosen Witzblättern erschöpft sich der Witz des Zeichners meist in einem einzigen Einfall: Doré zeichnete noch richtige Bilder zum Anbegucken; man kann mit dem Zeigefinger darauf herumfahren, und man wird immer noch eine lustige Einzelheit entdecken. Am lustigsten ist seine Technik, in ganz kleinen Bildern furchtbar viele Menschen anzuhäufen: kolossale Reiterscharen, von denen man meist nur ein dickes Gewoge und die Lanzen sieht; besonders amüsant ist es, wie der König Wladimir wehenden Mantels und wehenden Bartes vor einer drei Kilometer langen Front junger Damen sich eine Gattingemahlin aussuchen will, bis zum Horizont läuft die Linie der jugendlichen Schönen. Und Doré kommt immer auf neue zeichnerische Ideen, die meist mit dem darunter gesetzten Text auf das Lustigste kontrastieren; es ist leider etwas aktuelle Allegorie in den Blättern, auf denen unter einem wilden Tohuwabohu von Reiterkämpfen jedesmal etwas andres politisch Wichtiges druntersteht. »Stimmen erheben sich: ›Sind wir denn Barbaren, dass wir uns so zerfleischen?‹ – ›Ihr seid Barbaren!‹ brüllen andre, ›wir dagegen sind zivilisierte Völker!‹« Und dann immer dasselbe zeichnerische Durcheinander. Wie witzig das Problem gelöst ist, die nächtliche und tägliche Regierungstätigkeit Katharinas zu schildern, möge jeder selbst nachsehen. Man staunt über diese Fülle graphischen Witzes, der über die Worte »Die Regierung Peters des Zweiten« und »Die Regierung Peters des Dritten« einfach je eine dicke Null setzt, und der unerschöpflich Metzeleien abbildet, denen der Stachel des Ernstes ausgezogen ist; man muß über diese maßlosen und unmenschlichen Übertreibungen immer wieder lachen: Menschen werden zersägt, in vierzehn sorgfältig abgewogene Teile zerlegt, und was vor den Toren Konstantinopels vor sich geht, ist mit Worten gar nicht zu sagen. Das Ganze ist ein sauberer und freundlicher Spaß.

Von dem letzten Buch, das vor mir liegt, traue ich mich gar nichts zu sagen. Lest ihr gern Kriminalromane? Ich ja. Das heißt, wenn sie gut sind – und sie sind gut, wenn sie sich nicht ganz ernst nehmen, sondern noch so viel Gemächlichkeit und Behaglichkeit haben, auch die Nebenumstände, das Drum und Dran sorgfältig zu schildern. Doyle hatte das (Panter! verkriech dich in die Tabaksbuchenwaldungen der Ostsee! Wenn dich die Teutschen erwischen, schießen sie zwanzig Treiber an!), und in dem dicken Wälzer von Gaston Leroux ›Das Phantom der Oper‹ geht es bei aller Furchtbarkeit gemütlich zu. Das Buch ist lange nicht so spaßig wie von dem gleichen Verfasser ›Das Geheimnis des gelben Zimmers‹ (also, ich muß schon selbst lachen, mit welchem Ernst ich diese Hintertreppentitel aufschreibe, aber ich glaube, jeder Mensch hat einmal Stunden, wo er auch solchen Kram lesen mag). Die erste Hälfte des ›Phantoms‹ ist spannend, »es liest sich schön«, sagt man in solchen Fällen, und entzückend ist vor allem dieser heilige Ernst, mit dem das alles erzählt ist, und durch den noch manchmal ganz leise die Ironie zwinkert, wie das Auge des Regisseurs durch das Guckloch im Vorhang … Der Schluß ist ein wenig zu sehr Jules Verne.

Wir Deutschen sind merkwürdige Leute. Nicht etwa, dass wir uns ruhig gestehen: auch wir wollen uns einmal ausruhen und leichte Bücher lesen, auch wohl ruhig einmal einen richtigen Quark – das ist kein Mann, der nicht aus vollen Kräften banal sein kann – nein, wenn wirs schon tun, dann lügen wir uns irgend ein Brimborium darum herummer. Es gibt Leute, denen dieser Karl May – mir ist der Bursche immer als Ausbund der Fadheit vorgekommen – lieb und teuer ist. Aber sie sagens nicht. Sie malen ihm eine Glorie an: ihr meint, das sei einfach ein Unterhaltungsschriftsteller für die reifere Jugend gewesen? Gott bewahre, ein Philosoph war das, ein Mann mit den allegorischsten Hintergedanken, ein schwerer, vollbärtiger, sächsischer Denker, weiland zu Radebeul, jetzt in der Unsterblichkeit.

In diesen Blättern wird rechtens dauernd und ausgiebig auf gute Literatur hingewiesen. Ich halte es für kein Zeichen mangelnder Lebenskraft, wenn man auch einmal beherzt und klar sagt: heute, Sonntag nachmittag, habe ich mich auf ein Sofa hingelümmelt und geschmökert. Was? Allerhand. Aber es waren nette Bücher.

Peter Panter
Die Weltbühne, 29.08.1918, Nr. 35, S. 193.