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So etwas wäre im Ausland nicht möglich!

»Ja, ja, Mohrchen«, läßt Th. Th. Heine im ›Simplicissimus‹ den Fürsten Bülow mit Engelsflügeln sagen, »soviel Mut hätten wir bei Lebzeiten haben sollen! – Schade, dass Wilhelm es uns nicht erlaubt hat!«

Der Vorgang ohnegleichen, dass sich ein Volk über das Autofahren bei Chauffeuren unterrichtet, die den Karren dauernd umgeworfen haben, wird nur noch durch die Charakterlosigkeit der Chauffeure überboten. Wie dieses Mohrchen versucht, sich weißzuwaschen, indem es seinen kaiserlichen Herrn, der ihm so oft gepfiffen, scheinbar schützt, in Wahrheit ihn aber auf das unritterlichste preisgibt, das ist mehr als gemein.

Nun, neben den zahllosen Ungenauigkeiten, Unwahrheiten, Halbund Ganz-Lügen, die in diesen lächerlichen Memoiren zu finden sind, ist da besonders eine, die denn doch berichtigt werden soll.

Wenn dem Fürsten Bülow etwas Unangenehmes gesagt wird, dann bricht er, an vier, fünf verschiedenen Stellen des Buches, in den Ruf aus: »So etwas wäre in England oder in Frankreich ganz unmöglich!« Was wäre dort unmöglich? Die Kritik am eignen Volk?

Dieser Satz ist eine Lüge. Er ist nicht eine Unwahrheit; er ist eine Lüge. Denn der Fürst Bülow, dessen glitzernde Lackbildung nicht überschätzt werden soll, war immerhin gebildet und vor allem weitgereist genug, um die Wahrheit zu wissen. Und die Wahrheit ist:

Die strengsten Kritiker Englands sitzen im Unterhaus. Die bissigsten Kritiken des eignen Landes stehen in den ›Times‹. Die Witze, die ein englischer Minister auf das eigne Regime macht, sind unzählbar. Was öffentliche Redner in England und in Frankreich sagen dürfen, wäre in Deutschland niemals denkbar.

Nun könnte man sagen:

»Diese Leute kritisieren ihr Land aus Liebe – die Gegner Bülows taten es aus Haß.« Das ist Unfug. Die Sozialdemokratie, mit der Bülow zu tun hatte, war schon damals in Wahrheit das, was sie heute ist: eine sanft zum Liberalismus hinüberneigende Partei – sie hat Deutschland übrigens nicht gehaßt. Und jede dieser Kritiken des eignen Landes wurde im Ausland, auf das es hier ankommt, tausendfach überboten.

Dies ist nur ein winziger Webefehler im Lügenteppich dieses feingebildeten Diplomaten. »Herr Bülow lüftet sein Gesäße Vom Stuhl und spricht naturgemäße … « sagte Ludwig Thoma von ihm. Der ›Simplicissimus‹ hat den Mann damals schonungslos enthüllt. Es scheint aber, als ob dergleichen nicht nützt und dass noch immer Leute auf einen Mann hereinfallen, der alle seine Lebtage zu feige gewesen ist, dem Kaiser die Wahrheit zu sagen. Der sagte sie ihm nicht immer. In einem goldnen Alphabet Thomas, in dem der unsterbliche Zweizeiler prangt:

Der Himmel ist des Menschen Ziel.
Der Hase rammelt ziemlich viel –

steht unter B zu lesen:

Was in Berlin so vor sich geht,
erfährt der Bülow manchmal spät.

Und manchmal gar nicht. Und wir erfahren nun in vier dicken Bänden, wie er es niemals erfahren hat. Daß er aber noch nach dem Tode die Deutschen in einer Selbstgefälligkeit bestärkt, die da keinen Tadel ertragen kann, ohne sofort »Landesverrat!« zu brüllen, das wollen wir denn doch anmerken.

Wir sind Zeuge, wie sich Geschichtslegenden bilden. Wenn wir mit unsrer Epoche so in die Geschichte eingehen, wie sie die Memoirenschreiber und die Professoren, so etwa der Tübinger Haller, gestalten –: dann werden wir uns im Jenseits nicht wiedererkennen. Und denen glaubt ihr –? So etwas wäre im Auslande nicht möglich.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 30.12.1930, Nr. 53, S. 1001.