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III.

〈Ausbreitung der Psychoanalyse〉

Um halbwegs zu verstehen, wie sich bei einem hysterischen Mädchen ein verbotener sexueller Wunsch in ein schmerzhaftes Symptom umsetzen kann, hatte man tiefgehende und verwickelte Annahmen über Struktur und Leistung des seelischen Apparats machen müssen. Das war ein offenbarer Widerspruch zwischen Aufwand und Erfolg. Wenn die von der Psychoanalyse behaupteten Verhältnisse wirklich bestanden, so waren sie fundamentaler Natur und mußten sich auch in anderen Phänomenen als den hysterischen äußern können. Traf diese Folgerung aber zu, so hätte die Psychoanalyse aufgehört, nur für Neurologen interessant zu sein; sie durfte dann Anspruch auf die Aufmerksamkeit aller erheben, denen psychologische Forschung etwas bedeutete. Ihre Ergebnisse kamen dann nicht nur für das Gebiet des pathologischen Seelenlebens in Betracht, sondern durften auch für das Verständnis der normalen Funktion nicht vernachlässigt werden.

Der Nachweis ihrer Brauchbarkeit zur Aufklärung anderer als krankhafter Seelentätigkeit gelang der Psychoanalyse frühzeitig an zweierlei Phänomenen, bei den so häufigen alltäglichen Fehlleistungen, Vergessen, Versprechen, Verlegen usw., und bei den Träumen gesunder und psychisch normaler Menschen. Die kleinen Fehlleistungen, wie das zeitweilige Vergessen von sonst bekannten Eigennamen, das Versprechen, Verschreiben und ähnliches, waren bisher einer Erklärung überhaupt nicht gewürdigt worden oder sollten in Zuständen von Ermüdung, Ablenkung der Aufmerksamkeit u. dgl. ihre Aufklärung finden. Referent wies nun in seiner Psychopathologie des Alltagslebens (1901 und 1904) an zahlreichen Beispielen nach, daß solche Vorkommnisse sinnreich sind und durch die Störung einer bewußten Intention durch eine andere, unterdrückte, oft direkt unbewußte entstehen. Meist reicht eine rasche Besinnung oder eine kurze Analyse hin, um den störenden Einfluß aufzufinden. Bei der Häufigkeit solcher Fehlleistungen wie das Versprechen wird es jedermann leicht gemacht, sich an der eigenen Person die Überzeugung von der Existenz nicht bewußter seelischer Vorgänge zu holen, die doch wirksam sind und sich wenigstens als Hemmungen und Modifikationen anderer, beabsichtigter, Akte Ausdruck verschaffen.

Weiter führte die Analyse der Träume, die Referent schon 1900 in der Traumdeutung der Öffentlichkeit vorlegte. Es ergab sich aus ihr, daß der Traum nicht anders gebaut ist als ein neurotisches Symptom. Er mag wie ein solches fremdartig und sinnlos erscheinen; wenn man ihn mittels einer Technik untersucht, die sich von der in der Psychoanalyse verwendeten freien Assoziation wenig unterscheidet, gelangt man von seinem manifesten Inhalt zu einem geheimen Sinn des Traumes, zu den latenten Traumgedanken. Dieser latente Sinn ist allemal eine Wunschregung, die als in der Gegenwart erfüllt dargestellt wird. Aber außer bei kleinen Kindern oder unter dem Druck imperativer Körperbedürfnisse kann dieser geheime Wunsch niemals kenntlich ausgesprochen werden. Er muß sich erst eine Entstellung gefallen lassen, welche das Werk einschränkender, zensurierender Kräfte im Ich des Träumers ist. So entsteht der manifeste Traum, wie er im Wachen erinnert wird, bis zur Unkenntlichkeit entstellt durch die Konzessionen an die Traumzensur, durch die Analyse aber noch als Ausdruck einer Befriedigungssituation oder Wunscherfüllung zu entlarven, ein Kompromiß zwischen zwei miteinander ringenden Gruppen seelischer Strebungen, ganz so, wie wir es für das hysterische Symptom gefunden haben. Die Formel, der Traum ist eine (verkappte) Erfüllung eines (verdrängten) Wunsches, trifft im Grunde das Wesen des Traumes am besten. Durch das Studium jenes Prozesses, der den latenten Traumwunsch in den manifesten Trauminhalt umwandelt (die Traumarbeit), haben wir das beste, was wir vom unbewußten Seelenleben wissen, erfahren.

Nun ist der Traum kein krankhaftes Symptom, sondern eine Leistung des normalen Seelenlebens. Die Wünsche, die er als erfüllt darstellt, sind die nämlichen, die in der Neurose der Verdrängung verfallen. Der Traum verdankt die Möglichkeit seiner Entstehung bloß dem günstigen Umstand, daß sich während des Schlafzustandes, der die Motilität des Menschen lähmt, die Verdrängung zur Traumzensur ermäßigt. Doch wenn die Traumbildung gewisse Grenzen überschreitet, macht ihm der Träumer ein Ende und wacht erschreckt auf. Es ist also erwiesen, daß im normalen Seelenleben dieselben Kräfte und dieselben Vorgänge zwischen ihnen bestehen wie im krankhaften. Von der Traumdeutung an hatte die Psychoanalyse eine zweifache Bedeutung, sie war nicht nur eine neue Therapie der Neurosen, sondern auch eine neue Psychologie; sie erhob den Anspruch, nicht nur von Nervenärzten, sondern von allen, die eine Geisteswissenschaft betrieben, beachtet zu werden.

Der Empfang aber, der ihr in der wissenschaftlichen Welt bereitet wurde, war kein freundlicher. Etwa ein Jahrzehnt lang kümmerte sich niemand um die Arbeiten Freuds. Etwa um das Jahr 1907 wurde durch eine Gruppe von Schweizer Psychiatern (Bleuler und Jung in Zürich) die Aufmerksamkeit auf die Psychoanalyse gelenkt, und nun brach, besonders in Deutschland, ein Sturm der Entrüstung los, der in seinen Mitteln und Argumenten wahrlich nicht wählerisch war. Die Psychoanalyse teilte dabei das Schicksal von so vielen Neuheiten, die dann nach Ablauf einer gewissen Zeit allgemeine Anerkennung gefunden haben. Allerdings lag es in ihrem Wesen, daß sie besonders heftigen Widerspruch erwecken mußte. Sie verletzte die Vorurteile der Kulturmenschheit an einigen besonders empfindlichen Stellen, unterwarf gewissermaßen alle Menschen der analytischen Reaktion, indem sie das aufdeckte, was durch allgemeines Übereinkommen ins Unbewußte verdrängt worden war, und zwang so die Zeitgenossen, sich wie die Kranken zu benehmen, die in der analytischen Behandlung vor allem ihre Widerstände zum Vorschein bringen. Es muß auch zugestanden werden, daß es nicht leicht war, sich von der Richtigkeit der psychoanalytischen Lehren zu überzeugen oder Unterricht in der Ausübung der Analyse zu bekommen.

Die allgemeine Feindseligkeit konnte indes nicht verhindern, daß sich die Psychoanalyse im Laufe des nächsten Jahrzehnts ständig nach zwei Richtungen ausdehnte; auf der Landkarte, indem das Interesse für sie in immer neuen Ländern auftauchte, und auf dem Felde der Geisteswissenschaften, indem sie auf immer neue Disziplinen Anwendung fand. 1909 lud Präsident G. Stanley Hall Freud und Jung ein, an der von ihm geleiteten Clark University in Worcester, Mass., Vorlesungen über Psychoanalyse zu halten, denen auch eine freundliche Aufnahme zuteil wurde. Die Psychoanalyse ist seither in Amerika populär geblieben, wenngleich gerade in diesem Lande viel Seichtigkeit und mancher Mißbrauch sich mit ihrem Namen deckt. Schon 1911 konnte Havelock Ellis konstatieren, daß die Analyse nicht nur in Österreich und der Schweiz, sondern ebensowohl in den Vereinigten Staaten, in England, Indien, Kanada und gewiß auch in Australien gepflegt und betrieben werde.

In dieser Zeit des Kampfes und der ersten Blüte entstanden auch die literarischen Organe, die ausschließlich der Psychoanalyse dienten. Es waren das Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, herausgegeben von Bleuler und Freud, redigiert von Jung (1909—1914), das mit dem Ausbruch des Weltkrieges eingestellt wurde, das Zentralblatt für Psychoanalyse (1911), redigiert von Adler und Stekel, das alsbald von der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse (1913, heute im zehnten Jahrgang) abgelöst wurde; ferner seit 1912 die von Rank und Sachs begründete Imago, eine Zeitschrift für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften. Das große Interesse der angloamerikanischen Ärzte äußerte sich 1913 in der Gründung der noch jetzt bestehenden Psychoanalytic Review durch White und Jelliffe. Später, 1920, trat das speziell für England bestimmte, von Ernest Jones redigierte International Journal of Psycho-Analysis ins Leben. Der Internationale Psychoanalytische Verlag und das ihm entsprechende englische Unternehmen (I. PsA. Press) bringen unter dem Namen einer Internationalen Psychoanalytischen Bibliothek (Int. PsA. Library) eine fortlaufende Reihe analytischer Publikationen. Natürlich ist die Literatur der Psychoanalyse nicht ausschließlich in diesen periodischen Veröffentlichungen zu finden, die zumeist von psychoanalytischen Vereinigungen unterhalten werden, sondern an einer Unzahl von Stellen zerstreut, in wissenschaftlichen wie in literarischen Produktionen. Unter den Zeitschriften der romanischen Welt, die der Psychoanalyse besondere Aufmerksamkeit schenken, ist die von H. Delgado in Lima (Peru) geleitete Rivista de Psiquiatria hervorzuheben.

Ein wesentlicher Unterschied dieses zweiten Jahrzehnts der Psychoanalyse vom ersten lag darin, daß Referent nicht mehr ihr einziger Vertreter war. Ein stetig wachsender Kreis von Schülern und Anhängern hatte sich um ihn gesammelt, deren Arbeit zuerst für die Ausbreitung der psychoanalytischen Lehren sorgte und dieselben dann fortführte, ergänzte und vertiefte. Von diesen Anhängern fielen im Laufe der Jahre, wie unvermeidlich, mehrere ab, gingen ihre eigenen Wege oder wandten sich zu einer Opposition, welche die Kontinuität in der Entwicklung der Psychoanalyse zu bedrohen schien. Zwischen 1911 und 1913 waren es C. G. Jung in Zürich und Alfred Adler in Wien, die durch ihre Umdeutungsversuche an den analytischen Tatsachen und ihre Bestrebungen zur Ablenkung von den Gesichtspunkten der Analyse eine gewisse Erschütterung hervorriefen, aber es zeigte sich bald, daß diese Sezessionen keinen nachhaltigen Schaden gestiftet haben. Was ihnen an zeitweiligem Erfolg zugefallen war, erklärte sich leicht aus der Bereitwilligkeit der Menge, sich vom Druck der psychoanalytischen Anforderungen befreien zu lassen, welchen Weg immer man ihnen dazu eröffnete. Die überwiegende Mehrzahl der Mitarbeiter hielt aus und setzte die Arbeit längs der ihnen angezeigten Richtlinien fort. Wir werden ihren Namen in der nun folgenden, sehr verkürzten Darstellung der Ergebnisse der Psychoanalyse auf den mannigfachen Gebieten ihrer Anwendung wiederholt begegnen.