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〈Josef Breuer und das kathartische Verfahren〉

Als ich im Jahre 1909 auf dem Katheder einer amerikanischen Universität zuerst öffentlich von der Psychoanalyse reden durfte?, habe ich, von der Bedeutung des Moments für meine Bestrebungen ergriffen, erklärt, ich sei es nicht gewesen, der die Psychoanalyse ins Leben gerufen. Dies Verdienst habe ein anderer, Josef Breuer, erworben zu einer Zeit, da ich Student und mit der Ablegung meiner Prüfungen beschäftigt gewesen sei (1880 bis 1882).1 Aber wohlmeinende Freunde haben mir seither die Erwägung nahegelegt, ob ich meiner Dankbarkeit damals nicht einen unangemessenen Ausdruck gegeben. Ich hätte, wie bei früheren Veranlassungen, das „kathartische Verfahren“ von Breuer als ein Vorstadium der Psychoanalyse würdigen und diese selbst erst mit meiner Verwerfung der hypnotischen Technik und Einführung der freien Assoziation beginnen lassen sollen. Nun ist es ziemlich gleichgültig, ob man die Geschichte der Psychoanalyse vom kathartischen Verfahren an oder erst von meiner Modifikation desselben rechnen will. Ich gehe auf dieses uninteressante Problem nur ein, weil manche Gegner der Psychoanalyse sich gelegentlich darauf zu besinnen pflegen, daß ja diese Kunst gar nicht von mir, sondern von Breuer herrührt. Dies ereignet sich natürlich nur in dem Falle, daß ihnen ihre Stellung gestattet, einiges an der Psychoanalyse beachtenswert zu finden; wenn sie sich in der Ablehnung keine solche Schranke auferlegen, dann ist die Psychoanalyse immer unbestritten mein Werk. Ich habe noch nie erfahren, daß Breuers großer Anteil an der Psychoanalyse ihm das entsprechende Maß von Schimpf und Tadel eingetragen hätte. Da ich nun längst erkannt habe, daß es das unvermeidliche Schicksal der Psychoanalyse ist, die Menschen zum Widerspruch zu reizen und zu erbittern, so habe ich für mich den Schluß gezogen, ich müßte doch von allem, was sie auszeichnet, der richtige Urheber sein. Mit Befriedigung füge ich hinzu, daß keine der Bemühungen, meinen Anteil an der vielgeschmähten Analyse zu schmälern, je von Breuer selbst ausgegangen ist oder sich seiner Unterstützung rühmen konnte.

Der Inhalt der Breuerschen Entdeckung ist so häufig dargestellt worden, daß deren ausführliche Diskussion hier entfallen darf: die Grundtatsache, daß die Symptome der Hysterischen von eindrucksvollen, aber vergessenen Szenen ihres Lebens (Traumen) abhängen, die darauf gegründete Therapie, sie diese Erlebnisse in der Hypnose erinnern und reproduzieren zu lassen (Katharsis), und das daraus folgende Stückchen Theorie, daß diese Symptome einer abnormen Verwendung von nicht erledigten Erregungsgrößen entsprechen (Konversion). Breuer hat jedesmal, wo er in seinem theoretischen Beitrag zu den „Studien über Hysterie“ der Konversion gedenken muß, meinen Namen in Klammern hinzugesetzt, als ob dieser erste Versuch einer theoretischen Rechenschaft mein geistiges Eigentum wäre. Ich glaube, daß sich diese Zuteilung nur auf die Namengebung bezieht, während sich die Auffassung uns gleichzeitig und gemeinsam ergeben hat.

Es ist auch bekannt, daß Breuer die kathartische Behandlung nach seiner ersten Erfahrung durch eine Reihe von Jahren ruhen ließ und sie erst wieder aufnahm, nachdem ich, von Charcot zurückgekehrt, ihn dazu veranlaßt hatte. Er war Internist und durch eine ausgedehnte ärztliche Praxis in Anspruch genommen; ich war nur ungern Arzt geworden, hatte aber damals ein starkes Motiv bekommen, den nervösen Kranken helfen oder wenigstens etwas von ihren Zuständen verstehen zu wollen. Ich hatte mich der physikalischen Therapie anvertraut und fand mich ratlos angesichts der Enttäuschungen, welche mich die an Ratschlägen und Indikationen so reiche Elektrotherapie von W. Erb erleben ließ. Wenn ich mich damals nicht selbständig zu dem später von Moebius durchgesetzten Urteil durcharbeitete, daß die Erfolge der elektrischen Behandlung bei nervösen Störungen Suggestionserfolge seien, so trug gewiß nichts anderes als das Ausbleiben dieser versprochenen Erfolge die Schuld daran. Einen ausreichenden Ersatz für die verlorene elektrische Therapie schien damals die Behandlung mit Suggestionen in tiefer Hypnose zu bieten, die ich durch die äußerst eindrucksvollen Demonstrationen von Liébeault und Bernheim kennenlernte. Aber die Erforschung in der Hypnose, von der ich durch Breuer Kenntnis hatte, mußte durch ihre automatische Wirkungsweise und die gleichzeitige Befriedigung der Wißbegierde ungleich anziehender wirken als das monotone, gewalttätige, von jeder Forschung ablenkende suggestive Verbot.

Wir haben kürzlich als eine der jüngsten Erwerbungen der Psychoanalyse die Mahnung vernommen, den aktuellen Konflikt und die Krankheitsveranlassung in den Vordergrund der Analyse zu rücken. Nun das ist genau das, was Breuer und ich zu Beginn unserer Arbeiten mit der kathartischen Methode getan haben. Wir lenkten die Aufmerksamkeit des Kranken direkt auf die traumatische Szene, in welcher das Symptom entstanden war, suchten in dieser den psychischen Konflikt zu erraten und den unterdrückten Affekt frei zu machen. Dabei entdeckten wir den für die psychischen Prozesse bei den Neurosen charakteristischen Vorgang, den ich später Regression genannt habe. Die Assoziation des Kranken ging von der Szene, die man aufklären wollte, auf frühere Erlebnisse zurück und nötigte die Analyse, welche die Gegenwart korrigieren sollte, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Diese Regression führte immer weiter nach rückwärts, zuerst schien es, regelmäßig bis in die Zeit der Pubertät, dann lockten Mißerfolge wie Lücken des Verständnisses die analytische Arbeit in die dahinterliegenden Jahre der Kindheit, die bisher für jede Art von Erforschung unzugänglich gewesen waren. Diese regrediente Richtung wurde zu einem wichtigen Charakter der Analyse. Es zeigte sich, daß die Psychoanalyse nichts Aktuelles aufklären könne außer durch Zurückführung auf etwas Vergangenes, ja daß jedes pathogene Erlebnis ein früheres voraussetzt, welches, selbst nicht pathogen, doch dem späteren Ereignis seine pathogene Eigenschaft verleiht. Die Versuchung, bei dem bekannten aktuellen Anlaß zu verbleiben, war aber so groß, daß ich ihr noch bei späten Analysen nachgegeben habe. In der 1900 durchgeführten Behandlung der ‚Dora‘ genannten Patientin war mir die Szene bebekannt, welche den Ausbruch der aktuellen Erkrankung veranlaßt hatte. Ich bemühte mich ungezählte Male, dieses Erlebnis zur Analyse zu bringen, ohne auf meine direkte Aufforderung jemals etwas anderes zu erhalten als die nämliche kärgliche und lückenhafte Beschreibung. Erst nach einem langen Umweg, der über die früheste Kindheit der Patientin führte, stellte sich ein Traum ein, zu dessen Analyse die bis dahin vergessenen Einzelheiten der Szene erinnert wurden, womit das Verständnis und die Lösung des aktuellen Konfliktes ermöglicht waren.

Man kann aus diesem einen Beispiel ersehen, wie irreführend die vorhin erwähnte Mahnung ist und welcher Betrag wissenschaftlicher Regression in der so angeratenen Vernachlässigung der Regression in der analytischen Technik zum Ausdruck kommt.

Die erste Differenz zwischen Breuer und mir trat in einer Frage des intimeren psychischen Mechanismus der Hysterie zutage. Er bevorzugte eine sozusagen noch physiologische Theorie, wollte die seelische Spaltung der Hysterischen durch das Nichtkommu-nizieren verschiedener seelischer Zustände (oder wie wir damals sagten: Bewußtseinszustände) erklären und schuf so die Theorie der „hypnoiden Zustände“, deren Ergebnisse wie unassimilierte Fremdkörper in das „Wachbewußtsein“ hineinragen sollten. Ich hatte mir die Sache weniger wissenschaftlich zurechtgelegt, witterte überall Tendenzen und Neigungen analog denen des täglichen Lebens und faßte die psychische Spaltung selbst als Ergebnis eines Abstoßungsvorgangs auf, den ich damals „Abwehr“, später „Verdrängung“ benannte. Ich machte einen kurzlebigen Versuch, die beiden Mechanismen nebeneinander bestehen zu lassen, aber da mir die Erfahrung stets das nämliche und nur eines zeigte, stand bald seiner Hypnoidtheorie meine Abwehrlehre gegenüber.

Ich bin indes ganz sicher, daß dieser Gegensatz nichts mit unserer bald darauf eintretenden Trennung zu tun hatte. Dieselbe war tiefer motiviert, aber sie kam so, daß ich sie anfangs nicht verstand und erst später nach allerlei guten Indizien deuten lernte. Man erinnert sich, daß Breuer von seiner berühmten ersten Patientin ausgesagt hatte, das sexuale Element sei bei ihr erstaunlich unentwickelt gewesen und habe niemals einen Beitrag zu ihrem reichen Krankheitsbilde geliefert. Ich habe mich immer verwundert, daß die Kritiker diese Versicherung Breuers meiner Behauptung von der sexuellen Ätiologie der Neurosen nicht öfter entgegengestellt haben, und weiß noch heute nicht, ob ich in dieser Unterlassung einen Beweis für ihre Diskretion oder für ihre Unachtsamkeit sehen soll. Wer die Breuersche Krankengeschichte im Lichte der in den letzten zwanzig Jahren gewonnenen Erfahrung von neuem durchliest, wird die Symbolik der Schlangen, des Starrwerdens, der Armlähmung nicht mißverstehen und durch Einrechnung der Situation am Krankenbette des Vaters die wirkliche Deutung jener Symptombildung leicht erraten. Sein Urteil über die Rolle der Sexualität im Seelenleben jenes Mädchens wird sich dann von dem ihres Arztes weit entfernen. Breuer stand zur Herstellung der Kranken der intensivste suggestive Rapport zu Gebote, der uns gerade als Vorbild dessen, was wir „Übertragung“ heißen, dienen kann. Ich habe nun starke Gründe zu vermuten, daß Breuer nach der Beseitigung aller Symptome die sexuelle Motivierung dieser Übertragung an neuen Anzeichen entdecken mußte, daß ihm aber die allgemeine Natur dieses unerwarteten Phänomens entging, so daß er hier, wie von einem „untoward event“ betroffen, die Forschung abbrach. Er hat mir hievon keine direkte Mitteilung gemacht, aber zu verschiedenen Zeiten Anhaltspunkte genug gegeben, um diese Kombination zu rechtfertigen. Als ich dann immer entschiedener für die Bedeutung der Sexualität in der Verursachung der Neurose eintrat, war er der erste, der mir jene Reaktionen der unwilligen Ablehnung zeigte, die mir später so vertraut werden sollten, die ich damals aber noch nicht als mein unabwendbares Schicksal erkannt hatte.

Die Tatsache der grob sexuell betonten, zärtlichen oder feindseligen Übertragung, die sich bei jeder Neurosenbehandlung einstellt, obwohl sie von keinem Teil gewünscht oder herbeigeführt wird, ist mir immer als der unerschütterlichste Beweis für die Herkunft der Triebkräfte der Neurose aus dem Sexualleben erschienen. Dies Argument ist noch lange nicht ernsthaft genug gewürdigt worden, denn geschähe dies, so bliebe der Forschung eigentlich keine Wahl. Für meine Überzeugung ist es entscheidend geblieben, neben und über den speziellen Ergebnissen der Analysenarbeit.


  1. „Über Psychoanalyse“. Fünf Vorlesungen, gehalten zur 20jährigen Gründungsfeier der Clark University in Worcester, Mass., gewidmet Stanley Hall. Gleichzeitig englisch erschienen im „Amer. Journ. of Psychology“, March 1910; übersetzt ins Holländische, Ungarische, Polnische, Russische, Spanische und Italienische.