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I.

〈Vorläufer der Psychoanalyse〉

Die Psychoanalyse ist sozusagen mit dem zwanzigsten Jahrhundert geboren; die Veröffentlichung, mit welcher sie als etwas Neues vor die Welt tritt, meine „Traumdeutung“, trägt die Jahreszahl 1900. Aber sie ist, wie selbstverständlich, nicht aus dem Stein gesprungen oder vom Himmel gefallen, sie knüpft an Älteres an, das sie fortsetzt, sie geht aus Anregungen hervor, die sie verarbeitet. So muß ihre Geschichte mit der Schilderung der Einflüsse beginnen, die für ihre Entstehung maßgebend waren, und darf auch der Zeiten und der Zustände vor ihrer Schöpfung nicht vergessen.

Die Psychoanalyse ist auf einem engbegrenzten Boden erwachsen. Sie kannte ursprünglich nur das eine Ziel, etwas von der Natur der sogenannt „funktionellen“ Nervenkrankheiten zu verstehen, um die bisherige ärztliche Ohnmacht in der Behandlung derselben zu überwinden. Die Neurologen dieser Zeit waren in der Hochschätzung chemisch-physikalischer und pathologisch-anatomischer Tatsachen erzogen worden, sie standen zuletzt unter dem Eindruck der Funde von Hitzig und Fritsch, Ferner, Goltz u. a., welche eine innige, vielleicht eine ausschließliche Bindung gewisser Funktionen an bestimmte Teile des Gehirns zu erweisen scheinen. Mit dem psychischen Moment wußten sie nichts anzufangen, sie konnten es nicht erfassen, überließen es den Philosophen, Mystikern und — Kurpfuschern und hielten es auch für unwissenschaftlich, sich mit ihm abzugeben; dementsprechend eröffnete sich auch kein Zugang zu den Geheimnissen der Neurosen, vor allem der rätselhaften „Hysterie“, die ja das Vorbild der ganzen Gattung war. Noch als ich 1885 an der Salpetriere hospitierte, erfuhr ich, daß man sich für die hysterischen Lähmungen mit der Formel begnügte, sie seien in leichten funktionellen Störungen derselben Hirnpartien begründet, deren schwere Schädigung die entsprechende organische Lähmung hervorrufe.

Unter dem Mangel an Verständnis litt natürlich auch die Therapie dieser Krankheitszustände. Sie bestand in allgemein „roborierenden“ Maßnahmen, in der Verabreichung von Arzneimitteln und in meist sehr unzweckmäßigen, unfreundlich ausgeführten Versuchen zur seelischen Beeinflussung wie Einschüchterungen, Verspottungen, Mahnungen, seinen Willen aufzubieten, sich „zusammenzunehmen“. Als spezifische Therapie der nervösen Zustände wurde die elektrische Behandlung ausgegeben, aber wer diese je nach den detaillierten Vorschriften von W. Erb auszuüben unternahm, durfte sich verwundern, welchen Raum die Phantasie auch in der angeblich exakten Wissenschaft behaupten konnte. Die entscheidende Wendung trat ein, als in den achtziger Jahren die Phänomene des Hypnotismus wieder einmal um Einlaß in die medizinische Wissenschaft warben, diesmal dank der Arbeit von Liebeault, Bernheim, Heidenhain, Forel mit besserem Erfolg als schon so oft vorher. Es kam vor allem darauf an, daß man die Echtheit dieser Erscheinungen anerkannte. War dies zugestanden, so mußte man aus dem Hypnotismus zwei grundlegende und unvergeßliche Lehren ziehen. Erstens überzeugte man sich, daß auffällige körperliche Veränderungen doch nur der Erfolg von seelischen Einflüssen waren, die man in diesem Falle selbst in Tätigkeit gerufen hatte; zweitens bekam man besonders aus dem Verhalten der Versuchspersonen nach der Hypnose den deutlichsten Eindruck von der Existenz solcher seelischer Vorgänge, die man nur „unbewußte“ nennen konnte. Das „Unbewußte“ stand zwar schon seit langem als theoretischer Begriff bei den Philosophen zur Diskussion, aber hier in den Erscheinungen des Hypnotismus wurde es zuerst leibhaft, handgreiflich und Gegenstand des Experiments. Es kam hinzu, daß die hypnotischen Phänomene eine unverkennbare Ähnlichkeit mit den Äußerungen mancher Neurosen zeigten.

Man kann die Bedeutung des Hypnotismus für die Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse nicht leicht überschätzen. In theoretischer wie therapeutischer Hinsicht verwaltet die Psychoanalyse ein Erbe, das sie vom Hypnotismus übernommen hat. Die Hypnose erwies sich auch als ein wertvolles Hilfsmittel zum Studium der Neurosen, wiederum in erster Linie der Hysterie. Einen großen Eindruck machten die Versuche von Charcot, der vermutet hatte, daß gewisse Lähmungen, die nach Trauma (Unfall) aufgetreten waren, hysterischer Natur seien, und nun durch die Suggestion eines Traumas in der Hypnose Lähmungen von den nämlichen Charakteren künstlich hervorrufen konnte. Es verblieb seitdem die Erwartung, daß traumatische Einflüsse ganz allgemein an der Entstehung der hysterischen Symptome beteiligt sein konnten. Charcot selbst bemühte sich weiter nicht um ein psychologisches Verständnis der hysterischen Neurose, aber sein Schüler P. Janet nahm diese Studien auf und konnte mit Hilfe der Hypnose zeigen, daß die Krankheitsäußerungen der Hysterie in fester Abhängigkeit von gewissen unbewußten Gedanken (idées fixes) stehen. Janet charakterisierte die Hysterie durch eine von ihm angenommene konstitutionelle Unfähigkeit, die seelischen Vorgänge zusammenzuhalten, aus der ein Zerfall (Dissoziation) des Seelenlebens hervorgehe.

Die Psychoanalyse knüpfte aber keineswegs an diese Forschungen Janets an. Für sie wurde die Erfahrung eines Wiener Arztes, Dr. Josef Breuer, maßgebend, der unabhängig von fremdem Einfluß um das Jahr 1881 ein hysterisch erkranktes Mädchen von hoher Begabung mit Hilfe der Hypnose studieren und herstellen konnte. Breuers Ergebnisse sind der Öffentlichkeit erst fünfzehn Jahre später mitgeteilt worden, nachdem er den Referenten (Freud) zum Mitarbeiter angenommen hatte. Der von ihm behandelte Fall hat seine einzigartige Bedeutung für unser Verständnis der Neurosen bis auf den heutigen Tag behalten, so daß es unvermeidlich ist, länger bei ihm zu verweilend Es ist notwendig, klar zu erfassen, worin die Eigentümlichkeit des Breuerschen Falles bestand. Das Mädchen war an der Pflege ihres zärtlich geliebten Vaters erkrankt. Breuer konnte nun nachweisen, daß alle ihre Symptome sich auf diese Krankenpflege bezogen und durch sie ihre Aufklärung fanden. Es war also zum erstenmal ein Fall der rätselhaften Neurose restlos durchschaut worden, und alle Krankheitserscheinungen hatten sich als sinnvoll herausgestellt. Ferner war es ein allgemeiner Charakter der Symptome, daß sie in Situationen entstanden waren, welche einen Impuls zu einer Handlung enthielten, der aber dann nicht ausgeführt, sondern infolge anderer Motive unterdrückt worden war. An Stelle dieser unterbliebenen Aktionen waren eben die Symptome aufgetreten. Somit wurde man für die Ätiologie der hysterischen Symptome auf das Gefühlsleben (die Affektivität) und auf das Spiel der seelischen Kräfte (den Dynamismus) verwiesen, und diese beiden Gesichtspunkte sind seither niemals wieder fallengelassen worden. Die Anlässe für die Entstehung der Symptome wurden von Breuer den Charcotschen Traumen gleichgestellt. Es war nun bemerkenswert, daß diese traumatischen Anlässe und alle seelischen Regungen, die sich an sie knüpften, für die Erinnerung der Kranken verloren waren, als ob sie nie vorgefallen wären, während deren Wirkungen, eben die Symptome, unveränderlich fortbestanden, als ob es für sie keine Abnützung durch die Zeit gäbe. Man hatte also hier einen neuen Beweis für die Existenz unbewußter, aber gerade darum besonders mächtiger seelischer Vorgänge gefunden, wie man sie zuerst an den posthypnotischen Suggestionen kennengelernt hatte. Die Therapie, die Breuer übte, bestand darin, daß er die Kranke in der Hypnose veranlaßte, die vergessenen Traumen zu erinnern und mit kraftvollen Affektäußerungen auf sie zu reagieren. Dann verschwand das Symptom, das bisher an Stelle einer solchen Gefühlsäußerung gestanden war. Dasselbe Verfahren diente also gleichzeitig der Erforschung und der Beseitigung des Leidens, und auch diese ungewöhnliche Vereinigung wurde von der späteren Psychoanalyse festgehalten.

Nachdem Referent in den ersten neunziger Jahren die Breuerschen Ergebnisse an einer größeren Anzahl von Kranken bestätigt hatte, entschlossen sich die beiden, Breuer und Freud, zu einer Publikation, welche ihre Erfahrungen und den Versuch einer auf sie gegründeten Theorie enthielt (Studien über Hysterie, 1895). Diese sagte aus, das hysterische Symptom entstehe, wenn der Affekt eines stark affektiv besetzten seelischen Vorgangs von der normalen bewußten Verarbeitung abgedrängt und somit auf eine falsche Bahn gewiesen werde. Er gehe dann im Falle der Hysterie in ungewöhnliche Körperinnervation über (Konversion), könne aber durch Auffrischung des Erlebnisses in der Hypnose anders gelenkt und erledigt werden (Abreagieren). Die Autoren nannten ihr Verfahren Katharsis (Reinigung, Befreiung vom eingeklemmten Affekt).

Die kathartische Methode ist der unmittelbare Vorläufer der Psychoanalyse und trotz aller Erweiterungen der Erfahrung und aller Modifikationen der Theorie immer noch als Kern in ihr enthalten. Aber sie war nichts anderes als ein neuer Weg zur ärztlichen Beeinflussung gewisser nervöser Erkrankungen, und nichts ließ ahnen, daß sie Gegenstand des allgemeinsten Interesses und des heftigsten Widerspruches werden könnte.