I. Schädigung der Kinder durch Übertreibung der Autorität


Ich habe den bestimmten Eindruck gewonnen, daß die menschliche Psyche eine dauernde Unterwerfung nicht verträgt. Nicht unter die Naturgesetze, die sie durch List und Gewalt zu überwinden trachtet, nicht in der Liebe und Freundschaft, und am wenigsten in der Erziehung. In diesem Ringen, frei, selbständig zu werden, oben zu sein, liegt offenbar ein Teil jenes übermächtigen Antriebes zutage, der die ganze Menschheit empor zum Lichte führt. Selbst die Frommen und Heiligen hatten ihre Stunden des inneren Aufruhrs, und die fußfällige Anbetung der Naturgewalten dauerte nur so lange, bis ein Mensch den Blitz den Händen des Gottes entriß, bis die gemeinsame Einsicht den tobenden Gewalten des Meeres und der Flüsse und der Herrscher Dämme erbaute und die Herrschaft erlistete.

Über die Herkunft dieses Drängens nach oben erfährt man durch genaue Einzelbeobachtungen folgendes: je kleiner oder schwächer ein Kind sich in seiner Umgebung fühlt, desto stärker wird sein Hang, seine Hast und Gier, an erster Stelle zu sein; je unsicherer und minderwertiger es den Erziehern gegenübersteht, um so stürmischer sehnt es deren Überwindung herbei, um Anerkennung und Sicherheit zu finden. Jedes Kind trägt Züge dieser Unsicherheit und zeigt die Spuren des Weges dauernd in seinem Charakter, wie es sich zu schützen suchte, fürs ganze Leben. Bald sind es Charakterzüge, die wir als aktive, bald solche, die wir als passive empfinden. Trotz, Mut, Zorn, Herrschsucht, Wißbegierde sollen uns als aktive Sicherungstendenzen gelten, durch die sich das Kind vor dem Unterliegen, vor dem »Untensein« zu schützen sucht. Die deutlichsten Sicherungstendenzen der passiven Reihe sind Angst, Scham, Schüchternheit und Unterwerfung. Es ist wie beim Wachstum der Organismen überhaupt, etwa der Pflanzen: die einen durchbrechen jeden Widerstand und streben mutig empor, die andern ducken sich und kriechen ängstlich am Boden, bis sie sich zögernd und anklammernd erheben. Denn hinauf, zur Sonne, wollen sie alle. Das organische Wachstum des Kindes hat in dem seelischen Aufwärtsstreben, in seinem Geltungsdrang, eine durchaus nicht zufällige Parallele.

Wie gesagt, da gibt es nun Eltern — und vielleicht sind wir alle ihnen ähnlich —, die sich nicht vollends ausgewachsen haben. Irgendwo sind sie im Wachstum gehemmt, geknickt, nach unten gebeugt, und nun steckt noch das machtvolle Drängen und Sehnen nach aufwärts in ihnen. Die Außenwelt nimmt keine Rücksicht auf sie. Aber innerhalb ihrer Familie darf nur ihr Wort gelten. Sie sind die brennendsten Verfechter der Autorität. Und wie immer, wenn einer die Autorität verteidigt, meinen sie stets die ihrige, nie die des anderen. Nicht immer sind sie brutale Tyrannen, obgleich sie die Neigung dazu haben. Auch Schmeichelei und List und Gnaden wenden sie an, um die andern zu beherrschen. Und immer sind sie voll von Grundsätzen und Prinzipien. Alles müssen sie wissen und besser wissen, stets soll ihre Überlegenheit zutage treten. Die anderen Familienglieder sind strenge verpflichtet, die Ehre und Bedeutung der herrschenden Person in der Außenwelt zu bekunden. Nur Lichtseiten des Familienlebens müssen der Umgebung vor Augen geführt werden, in allen anderen Beziehungen muß gelogen und geheuchelt werden. Der geistige und körperliche Fortschritt der Kinder soll dem Ruhme des Vaters oder der Mutter dienen, jeder Tadel in der Schule und alle die kleinen Streiche der Kindheit werden zum Elternmord aufgeblasen und ununterbrochen verfolgt. Vater oder Mutter spielen dann lebenslänglich den Kaiser, den unfehlbaren Papst, den Untersuchungsrichter, den Weltweisen, und die schwache Kraft des Kindes zwingt sich vergeblich zum Wettlauf. Ewig beschämt und verschüchtert, bestraft, verworfen und von Rachegedanken gequält, verliert das Kind allmählich seinen Lebensmut oder flüchtet sich in den Trotz. Allenthalben schwebt das Bild des Erziehers als Autorität um den Heranwachsenden, droht und fordert, hält ihm Gewissen und Schuldgefühl rege, ohne daß dabei mehr herauskommt als feige Unterwerfung mit folgender Wut oder trotziges Aufbäumen mit folgender Reue.

Des Kindes ferneres Leben verrinnt dann in diesem Zwiespalt. Seine Tatkraft wird gelähmt; die ihm auferlegten Hemmungen erscheinen ihm unerträglich. Man kann solche Menschen im späteren Leben leicht erkennen: sie zeigen auffällig viele Halbheiten in ihrem Wesen, stets ringen zwei entgegengesetzte Regungen um die Herrschaft in ihrer Seele, lösen jederzeit den Zweifel aus, der sich gelegentlich in die Angst vor der Tat oder in den Zwang zur Tat auflöst. Der Idealtypus dieser Art Menschen, der psychische Hermaphrodit, ist auf halb und halb eingestellt und fürchtet sich vor jeder Beziehung, die er als Zwang empfinden könnte.


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