I. Die Rolle der Sexualität in der Neurose


Die Frage ist müßig, ob eine Neurose ohne Einbeziehung des Sexualtriebes möglich sei. Hat er doch im Leben aller eine ähnlich große Bedeutung. Fragt sich also, ob in seinen Schicksalen der Anfang und das Ende, alle Symptombildungen der Neurose zu erblicken seien. Ich muß darauf mit einer kurzen Schilderung — nicht des losgelösten Sexualtriebs, sondern seiner Entwicklung im Ensemble des Trieblebens antworten. Biologisch wäre die Auffassung nicht zu halten, daß jeder Trieb eine sexuelle Komponente habe, also auch der Freßtrieb, der Schautrieb, der Tasttrieb usw. Man muß vielmehr annehmen, daß die Evolution im organischen Reich zu Ausgestaltungen geführt hat, die wir uns als Differenzierung ursprünglich vorhandener Zellfähigkeiten zu denken haben. So ist dem Willen und der Not zur Assimilation ein Nahrungsorgan gefolgt, ein Tast-, Gehörs-, Gesichtsorgan dem Willen und Zwang zum Fühlen, Hören, Sehen, ein Zeugungsorgan dem Willen und Zwang zu Nachkommenschaft. Die Behütung aller dieser Organe war so sehr nötig, daß sie von zwei Seiten in Angriff genommen wurde: durch Schmerz- und durch Lustempfindung. — Da diese nicht genügte, durch eine dritte Sicherung, durch ein Organ der Voraussicht, das Denkorgan, das Gehirn. Auf dem Experimentierfelde der Natur finden sich Variationen aller drei Sicherungsgrößen. Der Anstoß kommt aus Angriffen in der Aszendenz, die Deszendenz weicht aus. Bald kommt es zu peripheren Defekten, bald zu erhöhten Schmerz- und Lustempfindungen im minderwertigen Organ. Der variabelste Anteil, das Zentralnervensystem, übernimmt die endgültige Kompensation. Es ist ein zweifaches Unrecht, den Begriff des minderwertigen Organs und den der »erogenen Zone« Havelock Ellis' zu konfundieren. Nur ein kleiner Teil der minderwertigen Organe zeigt erhöhte Lust- oder Kitzelgefühle im peripheren Anteil. Will man, wie Sadger versucht, einen minderwertigen Nierenleiter, eine Gallenblase, Leber-Pankreas, adenoide Vegetationen und Lymphdrüsen zu den erogenen Zonen zählen? Die Otosklerose zeigt nach neueren Untersuchungen einen Mangel des Kitzelgefühls im äußeren Gehörgang. Ferner: wo stellen Sie bei der Auffassung von den erogenen Zonen die Gehirnkompensation und Überkompensation hin?

Zweitens: es präjudiziert den Begriff »erogene Zone«, und zwar mit Unrecht. Nicht als ob ich leugnen wollte, daß sich am minderwertigen Organ bewußte und unbewußte perverse Phantasien anknüpfen könnten. Aber erst im späteren Leben, unter Zuhilfenahme falscher Sexualvorstellungen oder unter dem Drucke bestimmter Sicherungstendenzen. Um erogen zu werden, bedürfen diese Zonen einer sekundären Triebverschränkung unter dem Drucke falscher Sexualtheorien, oder gegensätzlicher überflüssiger Sicherungstendenzen. Die Behauptung, daß das Kind polymorph-pervers ist, ist ein Hysteron-Proteron, eine dichterische Lizenz. Die »sexuelle Konstitution« kann durch Erlebnisse, durch Erziehung, insbesondere auf Basis der Organminderwertigkeit beliebig gezüchtet werden. Selbst die Frühreife kann niedergehalten oder gefördert werden. Sadistische und masochistische Regungen aber entwickeln sich erst aus den harmloseren Beziehungen von regelmäßig vorhandenem Anlehnungsbedürfnis und Selbständigkeits­regungen, sobald der männliche Protest in Frage kommt, mit seiner Aufpeitschung von Wut, Zorn und Trotz.

Das Sexualorgan entwickelt einzig und allein den sexuellen Faktor im Leben und in der Neurose. Sowie die Sexualität Beziehungen eingeht zum gesamten Triebleben und seinen Ursachen, so gilt dies von jedem anderen Trieb. Bevor der Sexualtrieb eine nennenswerte Größe erreicht, etwa am Ende des ersten Jahres, ist das psychische Leben des Kindes bereits reich entwickelt. Freud erwähnt die Auffassung aller Autoren, denen sich Czerny anschließt, daß Kinder, die sich beim Stuhlabsetzen trotzig benehmen, oft nervös werden. Im Gegensatz zu anderen Autoren führt er ihren Trotz darauf zurück, daß sie bei der Stuhlverhaltung sexuelle Lustgefühle haben. Ich habe keinen einwandfreien derartigen Fall gesehen, will aber nicht leugnen, daß Kinder, die derartige Kitzelgefühle bei der Retention haben, wenn sie in die Trotzeinstellung geraten, gerade diese Art des Widerstandes bevorzugen. Dabei ist aber doch der Trotz maßgebend, und die Organminderwertigkeit ist für die Lokalisation und Auswahl des Symptoms ausschlaggebend. Ich habe viel öfters beobachtet, daß derartige trotzige Kinder den Stuhl knapp vor oder nach der Inszenierung des nötigen Apparates oder auch neben dem Apparat produzieren. Dasselbe gilt vom Urinieren solcher Kinder, dasselbe aber auch vom Essen und Trinken. Man braucht gewissen Kindern das Trinken bloß einzuschränken und ihre »Libido« steigt ins Unermeßliche. Man braucht ihnen nur zu sagen, daß man auf regelmäßiges Essen Wert legt, und ihre Libido sinkt auf Null. Kann man diese »Libidogrößen« ernst oder gar energetisch nehmen und zu Vergleichen benützen? Ich sah einen 13 Monate alten Knaben, der kaum stehen und gehen gelernt hatte. Setzte man ihn in seinen Sessel, so stand er auf. Sagte man ihm: »Setze dich nieder«, so blieb er stehen und sah schelmisch drein. Seine sechsjährige Schwester rief ihm bei einer solchen Gelegenheit zu: »Bleib stehen!« und das Kind setzte sich nieder. Dies sind die Anfänge des männlichen Protestes, und die inzwischen aufkeimende Sexualität ist seinen Stößen und seinem Drängen fortwährend ausgesetzt. Auch die Wertschätzung des Männlichen beginnt auffällig früh. Ich sah einjährige Kinder, Knaben und Mädchen, die männliche Personen sichtlich bevorzugten. Vielleicht ist es der Klang der Stimme, das sichere Auftreten, die Größe, die Kraft, die Ruhe, die dabei den Ausschlag gibt. Ich habe auf diese Wertschätzung in einem Referat über Jungs »Konflikte der kindlichen Seele« kritisch 1) hingewiesen. Sie löst regelmäßig den Wunsch aus, auch ein Mann zu werden. Neulich hörte ich ein Kind von zwei Jahren, einen Knaben, sprechen: »Mama dumm, Fräulein dumm, Toni (Köchin) dumm, Usi (Schwester) dumm, O-mama (Großmama) dumm!« Als er gefragt wurde, ob der Großpapa auch dumm sei, sagte er: »O-papa doß (groß).« — Allen fiel es auf. daß er den Vater ausgenommen hatte. Man hielt es für ein Zeichen des Respektes. Es war leicht zu verstehen, daß er die sämtlichen weiblichen Mitglieder seiner Umgebung für dumm erklären wollte, sich und die männlichen für klug. Er identifizierte dumm und weiblich, klug und männlich, aber diese Gleichstellung verhalf ihm zur Geltung.

Ich habe in mehreren Arbeiten hervorgehoben, daß vor allem die Kinder mit fühlbarer Organminderwertigkeit, Kinder, die an Fehlern leiden, deren Unsicherheit größer, deren Furcht vor Blamage und vor Strafe ausgiebiger ist, jene Gier und jene Hast entwickeln, die schließlich zur Neurose disponieren. Sie sehnen sich frühzeitig schon nach dem Beweis ihres Wertes oder weichen Verletzungen ihrer Empfindlichkeit aas. Sie sind schüchtern, erröten leicht, fliehen vor jeder Prüfung ihres Könnens und verlieren frühzeitig die Natürlichkeit des Benehmens. Dieser unbehagliche Zustand drängt mit Macht nach Sicherungen. Bald wollen sie gehätschelt sein, bald alles allein machen, sie schrecken vor jeder Arbeit zurück oder lesen ununterbrochen. In der Regel sind sie frühreif. Ihre Wißbegierde ist ein kompensatorisches Produkt ihrer Unsicherheit und greift frühzeitig auch nach den Fragen über den Geburtshergang und über den Geschlechtsunterschied. Diese angestrengte und andauernde Phantasie­tätigkeit muß als ein Reiz für den Sexualtrieb aufgefaßt werden, sobald primitive Kenntnisse von Sexualvorgängen zustande gekommen sind. Auch hier gilt ihnen als Ziel der Beweis ihrer Männlichkeit.

Ich habe in der »Minderwertigkeitslehre« hervorgehoben, daß die Sexualminderwertigkeit mit ihrer oft größeren Lustempfindung zur Frühreife disponiert. Treffen, wie so häufig, männlicher Protest und größere Lustempfindung am Genitale zusammen, so resultieren Frühmasturbation und frühzeitige Sexualwünsche. Vorstellungen von den Schrecken und Schmerzen des Geburtsaktes, des Geschlechtsverkehrs sind es, die den Protest in männlicher Richtung weitertreiben. Wo in der Neurose Geburtsphantasien, Kastrationsgedanken oder analog zu verstehende Gedanken vom Untensein, von Atemnot, vom Überfahrenwerden usw. auftauchen, sind es weder Wünsche noch verdrängte Phantasien, sondern symbolisch gefaßte Befürchtungen, zu unterliegen, gegen die sich der Neu-rotiker zu sichern trachtet oder die er als Warnungen sich vor die Seele ruft. Ein nicht seltener Typus, den ich bisher nur selten in den Kreis meiner Erwägungen gezogen habe, meist Söhne starkgeistiger, männlicher Mütter, hat die Angst vor der Frau tief im Gemüte. In ihren Phantasien, spielt die männliche Frau häufig eine Rolle, das ist die Frau, die oben, ein Mann sein will. Oder sie haben die symbolische Phantasie des Penis captivus, d. h. sie fürchten, von der Frau nicht loszukommen, wobei das Bild vom Sexualverkehr der Hunde entlehnt ist. Um nun recht acht zu geben, übertreiben sie maßlos. Ihre eigene Sinnlichkeit erscheint ihnen riesenhaft, das Weib wird zum Dämon, und so wächst ihr Mißtrauen soweit, daß sie es geschlechtlich unbrauchbar macht. Sie müssen jedes Mädchen peinlich prüfen, belauern, auf die Probe stellen (Griselda!) Auch bei ihnen geht die Natürlichkeit der Beziehungen verloren.

Und es erhebt sich wieder die Frage: Ist das, was uns der Neurotiker an Libido zeigt, echt? Seine Frühreife ist erzwungen, sein Onaniezwang dient dem Trotz und der Sicherung gegen den Dämon Weib, seine Liebesleidenschaft geht bloß auf den Sieg, seine Liebeshörigkeit ist ein Spiel, darauf berechnet, sich dem ernsthaften Partner nicht zu unterwerfen, seine perversen Phantasien, ja selbst seine aktiven Perversionen dienen ihm nur dazu, sich von der Liebe fernzuhalten. Wohl sind sie ihm ein Ersatz, aber nur, weil er seine Heldenrolle spielen will und weil er fürchtet, auf normalem Wege unter die Räder zu kommen. Zumal das sogenannte »Kernproblem« der Neurose, die Inzestphantasie, hat meist die Aufgabe, den Glauben an die eigene, übermächtige Libido zu nähren und deshalb jeder »wirklichen« Gefahr so weit als möglich aus dem Wege zu gehen.

Ich gehe nunmehr an die Analyse eines Falles aus der letzten Zeit. Der betreffende Patient ist noch nicht entlassen. Die Struktur seiner Neurose liegt aber so weit klar, daß ich sie auszugsweise vortragen kann, um an ihr meine Behauptungen noch deutlicher zu machen.

Ein 22jähriger Bauzeichner klagt über Anfälle von Zittern in den Händen seit 1½ Jahren und häufige nächtliche Pollutionen. Die ersten Erkundungen ergaben: Verlor den Vater im fünften Lebensjahr. Der Vater konnte die letzten drei Jahre kaum allein stehen oder gehen und war auf beiden Augen erblindet. Erst in seinem 17. Lebensjahr erfuhr der Patient, daß sein Vater an Rückenmarksschwindsucht gestorben war; gleichzeitig gab man ihm als Ursache dieses Leidens übermäßigen Geschlechtsverkehr an. Diese Mitteilungen fielen in eine Zeit heftiger Masturbation und erfüllten den Patienten mit großem Schrecken für seine eigene Zukunft.

Für seine eigene Zukunft hatte er schon oft zu fürchten Gelegenheit gehabt. Zuerst als kleiner Knabe, da er, schwächlich' und kleiner als seine Geschwister und Gespielen, stets Schutz bei seiner Mutter suchte, die ihn als Jüngsten auffällig verhätschelte. Ängstlichkeit und Schüchternheit hafteten seinem Wesen stets an. Doch wurde er bald rechthaberisch, wollte unter seinen Gespielen stets die erste Rolle spielen und konnte deshalb nie Freunde erwerben. Sein Wissensdrang zeigte sich bald und zwar sowohl in sexuellen Dingen als in der Schule. Seine Sehnsucht war, ein großer Mann zu werden. Und so kam er als einziger einer großen Geschwisterschar in die Mittelschule. Eine Kindheitserinnerung, in der sich der männliche Protest seiner Kindheit widerspiegelt, ist folgende: Wenn er im Grase auf dem Rücken lag, sah er oben in den Wolken das Bild seines Vaters. Er, der weibliche Schwächling, in der weiblichen Position; oben der Vater, der Mann. Er hatte bis in die letzten Jahre weibliche Züge und mußte oft in seiner Kindheit beim Theaterspielen in weiblichen Kleidern Mädchenrollen spielen. Er schlief lange mit der um zwei Jahre älteren Schwester in einem Bett und befriedigte dort seine sexuelle Neugierde. In seinen Träumen gab es vereinzelt Inzestphantasien, die sich auf Mutter und Schwester bezogen. — Die Mutter hielt strenge auf Moral, und er hatte Gelegenheit, ihre Härte gegenüber den älteren Brüdern, sobald Liebesaffären vorfielen, zu beobachten. Bezüglich der Ehen ihrer Kinder sah sie in erster Linie auf materielle Güter und verfolgte eine ihrer Schwiegertöchter viele Jahre mit ihrem Hasse, weil sie arm in die Ehe getreten war. Alles in allem beherrschte ihn die Mutter in jeder Beziehung.

Erregungen und masturbatorische Berührungen kamen bei unserem Patienten vom 9. Lebensjahr an vor. Später hatte er häufig Sexualerregungen, wenn er in Mädchengesellschaft war. Als er im 14. Lebensjahr Masturbation zu üben begann, wurde ihm dadurch jede Mädchengesellschaft so sehr verleidet, daß er am liebsten allein blieb. Er vertiefte seine Überzeugung, daß seine Sexuallibido ungeheuer groß sei und kaum zu bewältigen. Als er von der Krankheit seines Vaters erfuhr und gleichzeitig annehmen mußte, daß dieser ebenso sinnlich wie er gewesen, gab ihm dies einen gewaltigen Ruck: er ließ von der Masturbation! Oft ließ er sich hinreißen, trotz seiner Furcht vor Erektionen, Mädchen zu küssen, um nachher längere Zeit alle Orte zu meiden, wo er Mädchen treffen konnte.

War nun seine Libido wirklich so groß, als er annahm? War sie vor allem so groß, daß er zu Sicherungen, wie die der Gesellschaftsangst greifen mußte? Manches spricht strikte dagegen. Er war in Verhältnissen auf dem Lande aufgewachsen, später allein an einer Provinzrealschule, wo Gelegenheiten zum Geschlechtsverkehr reichlich zu finden waren. Manches der Mädchen war ihm weit genug entgegengekommen. Als er von der Krankheit des Vaters hörte und von deren angeblicher Veranlassung, setzte er sofort mit der Masturbation aus. Er nahm bald nachher normalen Verkehr auf, übte diesen aber selten aus und ließ sich durch Gedanken an die Geldausgaben leicht davon abhalten. Mädchen, die ihm freiwillig entgegenkamen, verließ er nach ihrer Eroberung, aus Befürchtung, nicht mehr von ihnen loszukommen. Er stellt sich jedes Weib als einen Dämon vor und äußerst sinnlich, der ihn beherrschen will, dem gegenüber er schwach sein könnte, — und er bleibt stark. Dabei verachtet er die Frauen, hält sie für minderwertig, mißtraut ihnen und mutet ihnen stets egoistische Motive zu. Vor zwei Jahren wurde er mit einem schönen, aber armen Mädchen bekannt, zu dem er sich anfangs hingezogen fühlte. Als beide eine Heirat in Aussicht nahmen, war die Konsequenz die, daß er massenhafte Pollutionen bekam und bei Prostituierten Ejaculatio praecox oder Impotenz zeigte. Gleichzeitig machte er die Wahrnehmung, daß er im Amte zu zittern begann und seine Zeichnungen nur mit Mühe fertig brachte. Eine genauere Untersuchung ließ erkennen, daß er nur dann Zittern und Stocken beim Sprechen zeigte, wenn er tags vorher Verkehr oder eine Pollution gehabt hatte. Die naheliegende Annahme, daß er das Zittern bei seinem Vater gesehen habe und nunmehr nachahme, um sich zu schrecken, konnte Patient nicht bestätigen. Dagegen fiel ihm ein alter Professor der Mittelschule ein, der sowohl Zittern als Stocken in der Stimme zeigte, Erscheinungen, die unser Patient damals als Alterserscheinungen bei Leuten deutete, die in der Jugend viel Sexualverkehr gehabt hatten. Eine zweite Quelle, die er verwendete, ergab sich in einer Schrift über Pollutionen, in der als Folgen Zittern und Stocken der Stimme beschrieben wurden. Nähere Aufklärungen brachten seine Gedanken über die bevorstehende Heirat. Die Mutter wird unzufrieden sein. Seine reichen Verwandten würden ihn verachten. Das Mädchen heirate ihn nur aus materiellem Interesse. Sie sei sinnlich und werde ihn in den Taumel ihrer Sinnenlust hineinziehen. Er selbst sei sinnlich. Die Folgen seiner Masturbation, seiner Pollutionen und seines Verkehrs träten bereits ein. Und so zog er sich auf Grund dieser Arrangements wieder von dem Mädchen zurück, ohne recht zu wissen, wie er ganz von ihr loskommen könne. Dieses Schwanken ist einem Nein gleichwertig, sichert ihn auch zugleich gegenüber anderen Mädchen.

Er zittert also jetzt schon, um sich daran zu erinnern, was ihm dereinst droht. Er zittert, um seiner Urangst zu entgehen, wieder, wie einst bei der Mutter, unter die Gewalt eines Weibes zu kommen. Er zittert, um sich vor dem Schicksal des Vaters, vor dem Schicksal jenes alten Lehrers zu bewahren. Er zittert, um dem Dämon Weib, und um seiner eigenen Sinnlichkeit wie der des Mädchens zu entgehen. Und er zittert, um, entgegen seinem eigenen Wunsch, dem der Mutter zu genügen, die der Heirat abhold wäre, was aber in letzter Linie ihm nur wieder seine Abhängigkeit vom Weibe beweisen soll. — Deshalb seine Auffassung von seiner übergroßen Sinnlichkeit, sowie von der des Weibes, darum die häufigen Erektionen und Pollutionen, die zum größten Teil zustande kommen, weil er sie will, weil er sie braucht, und weil er, um sie zu konstruieren, ununterbrochen an sexuelle Dinge denkt. Und ich frage nochmals: Wie soll man die Libido dieses Neurotikers abschätzen, wo alles gemacht, arrangiert, vergrößert, verzerrt, ein tendenziös gekünsteltes und unnatürliches Produkt, Aktivum und Passivum zugleich, geworden ist?

Ein Traum des Patienten, der alle diese Züge wiedergibt, gleichzeitig auch die bedeutsamste Tendenz des Traumes, die Sicherungstendenz, hervorhebt, ist folgender:

»Ein Mädchen, jung, frisch, mit vollem Busen, sitzt nackt hingelehnt auf einem Diwan. Was sie sagte, weiß ich nicht. (Denkt an eine Dirne und zugleich, daß ihm beim Anblick der nackten Frau die Sinne schwinden.) Sie suchte mich zu verführen. (Der Dämon Weib.) Ich wollte darauf eingehen, aber im letzten Moment bekam ich das Bewußtsein, vor .einer Pollution zu stehen und hielt mich von ihr zurück. (Versuch, einen Weg ohne Frau zu nehmen. — Der ganze Traum zeigt die warnende Perspektive auf Pollutionen und Verkehr als die auslösenden Momente einer Tabes.)«

Die einfache Aufklärung, daß Tabes eine Folge von Lues sei, hatte keinerlei Wirkung. Erst das Verständnis für seine übertriebenen Sicherungstendenzen beendete das Zittern.

Wo ist nun das Kernproblem dieser Neurose? Die Inzestphantasie hatte gerade nur den Wert, ihm den Glauben an seine übergroße, verbrecherische Phantasie zu verbürgen. — Die Verdrängung der Onanieneigung, die leicht gelang, mußte von einer anderen gleichwertigen oder besseren Sicherung gefolgt sein, von den Pollutionen. Erst als er vor einer Ehe stand, als er fürchtete, wieder wie einst »unten« zu sein, nicht wie der Mann, der Vater »oben«, unter den Einfluß einer Frau zu geraten und so seine Minderwertigkeit vor allen eingestehen zu müssen, wurde er »krank«. Daß er es ebensowenig vertrug, unter einem Manne zu stehen, den Kollegen gegenüber, die er fortwährend herabsetzen wollte, und mit denen er sich stets zerschlug, den Professoren gegenüber, die ihm in häufigen Prüfungsträumen drohend erschienen, seinem Vorgesetzten gegenüber, vor dem ihn an den bestimmten Tagen sein Zustand gewöhnlich überfiel, will ich nur nebenbei erwähnen.

Wie kommt die Sexualität in die Neurose und welche Rolle spielt sie also?

Sie wird frühzeitig geweckt und gereizt bei vorhandener Minderwertigkeit und starkem männlichen Protest, sie wird als riesenhaft angesetzt und empfunden, damit der Patient sich davor rechtzeitig sichert, oder sie wird entwertet und als Faktor gestrichen, wenn dies der Tendenz des Patienten dient. Im allgemeinen ist es nicht möglich, die Sexualregungen des Neurotikers oder Kulturmenschen als echt zu nehmen, um mit ihnen zu rechnen, geschweige sie, in welcher Anschauungsform immer, als den grundlegenden Faktor des gesunden oder kranken Seelenlebens weiterhin auszugeben. Sie sind niemals Ursachen, sondern bearbeitetes Material und Mittel des persönlichen Strebens.

Die wahre Einstellung zum Leben kann man schon in den ersten Träumen und erinnerten Erlebnissen eines Menschen deutlich wahrnehmen, ein Beweis, daß auch die Erinnerung an sie im Sinne eines planmäßigen Vorgehens konstruiert ist. Unser Fall gibt als die weitest zurückliegenden Träume, etwa aus dem 5. Lebensjahre, folgende an:

Erstens: »Ein Stier verfolgt mich und will mich aufspießen.«

Der Patient glaubt, den Traum kurz nach dem Tode seines Vaters geträumt zu haben, der an einer Rückenmarkschwindsucht lange Zeit siech zu Bette lag. Ziehen wir eine Verbindungslinie zu dem Phantasiebild des Vaters in den Wolken (Gott?), so drängt sich der Gedanke an eine Todesfurcht des Knaben auf. Die spätere »Rekonstruktion« (Bierstein) dürfte auf die Tabes des Vaters und dessen Tod, die den Patienten so stark ergriffen hatte, Rücksicht genommen haben. Der Stier muß ferner dem auf dem Lande aufgewachsenen Knaben als männlich erschienen sein, was ihn, den Verfolgten, in einer unmännlichen, für die primitiv gegensätzliche Anschauung des Kindes also weiblichen Rolle des Verfolgten zeigte. Auch wer nicht so weit in der Deutung gehen will, dürfte aber das Gemüt dieses Kindes als von düsteren Ahnungen erfüllt nachempfinden können.

Der zweite Traum setzt diese schlimmen Erwartungen fort. Es war ihm, als sei er abgestürzt und auf eine harte Unterlage gefallen. Solche Fallträume deuten immer auf eine ins Pessimistische gerückte Vorsicht des Träumers, die mit bösen Möglichkeiten, mit dem »Untensein«, schreckt.

Die älteste Erinnerung seines wachen Lebens glaubt er darin zu finden, daß er am ersten Schultag mit unaufhaltsamer Schnelligkeit in die Mädchenschule seinen Weg nahm und sich nur unter Tränen in die Knabenschule abweisen ließ. Wir dürfen dies als ein Gleichnis seiner Sehnsucht ansehen, nicht krank, elend, tot, »unten«, wie der Vater, sondern entsprechend einer weiblichen Rolle, die er bei seiner starken Mutter fand (die nach allgemeiner Aussage wie ein Mann die Wirtschaft führte), gesund, kraftvoll und lebendig seine Zukunft zu suchen.

Das Zögern, der Mangel einer Vorbereitung in seiner männlichen Rolle mit allen dazugehörigen Erscheinungen, auch der krankhaft-nervösen, war also die Achse seines Seelenlebens geworden. Ihr entsprachen dann freilich auch die mit Notwendigkeit erwachsenen Erscheinungen seines Sexuallebens.

 

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1) Wie ich derzeit sehe, mit Erfolg. Siehe Hitschmann (Freuds Neurosenlehre. 2. Aufl.) und Jung (Bleuler Freudsches Jahrbuch. 1913).


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