I. Tatsachen des psychischen Hermaphroditismus


Von den Autoren, die der Frage des Hermaphroditismus beim Menschen nachgingen, hat fast jeder die Tatsache gestreift oder hervorgehoben, daß unter den abgeleiteten Geschlechtscharakteren sich häufig oder regelmäßig Charakterzüge und psychische Eigenschaften des anderen Geschlechtes vorfinden. So Krafft-Ebing, Dessoir, Halban, Fließ, Weininger, Freud, Hirschfeld u. a. Unter ihnen hat Freud die Erscheinungen der Inversion in der Neurose besonders studiert und hat festgestellt, daß in keinem Fall von Neurose invertierte Züge fehlen. Seither hat sich diese Beobachtung von mir als häufiges Zeichen der Unversöhnlichkeit mit der Erotik richtigstellen lassen. Ich habe in einer kleinen Arbeit 1) auf den Zusammenhang von Prostitution und Homosexualität hingewiesen. Fließ meinte schon früher, daß der männliche Neurotiker an der Unterdrückung seiner weiblichen, der weibliche an der Verdrängung seiner männlichen Züge erkranke. —

Eine eingehende Untersuchung der Neurosen in bezug auf hermaphroditische Züge ergibt folgende Resultate: 1. Körperliche Erscheinungen des gegensätzlichen Geschlechts finden sich auffallend häufig. So weiblicher Habitus bei männlichen Neurotikern, männlicher bei weiblichen.2) Ebenso gegensätzliche sekundäre Geschlechtscharaktere, insbesondere aber Minderwertigkeitserscheinungen an den Genitalien, wie Hypospadie, paraurethrale Gänge, kleiner Penis, kleine Hoden, Kryptorchismus usw., andererseits große Labia minora, große Klitoris, Infantilismus des Sexualapparates 3) u. a. m., zu denen sich in der Regel Minderwertigkeits­erscheinungen an anderen Organen hinzugesellen.

Ob diese körperlichen Erscheinungen von vornherein in irgendeinem genetischen Zusammenhange mit einer gegengeschlechtlichen Psyche ihres Trägers stehen, wie Fließ annimmt und wie Krafft-Ebing ausführte, so daß beim Manne die weibliche Psyche, beim Weib die männliche stärker entwickelt wäre, läßt sich sicher nicht erweisen. Es läßt sich aber zeigen, daß Motilität und körperliche Entwicklung solcher Kinder mit minderwertigen Organen, Organ- und Drüsensystemen oft von der Norm Abweichungen zeigen, daß ihr Wachstum und ihre Funktionstüchtigkeit Mängel aufweisen, daß Krankheiten und Schwächlichkeit gerade am Beginn ihrer Entwicklung hervortreten, die später allerdings oft einer robusten Gesundheit und Kraft weichen. —

Diese objektiven Erscheinungen geben vielfach Anlaß zu einem subjektiven Gefühl der Minderwertigkeit, hindern dadurch die Selbständigkeit des Kindes, steigern sein Anlehnungs- und Zärtlichkeitsbedürfnis und charakterisieren eine Person oft bis ins späteste Alter. — Schwächlichkeit, Plumpheit, linkisches Benehmen, Kränklichkeit, Kinderfehler wie Enuresis, Incontinentia alvi, Flatulenz, Stottern, Kurzatmigkeit, Höhenschwindel, Insuffizienzen des Seh- und Hörapparates, angeborene und früherworbene Verunstaltungen, auffallende Häßlichkeit usw. sind imstande, das Gefühl der Inferiorität gegenüber den Stärkeren, insbesondere gegenüber dem Vater, tief zu begründen und fürs Leben, selbst über das Grab des Vaters hinaus, dauernd festzulegen. Bedeutsame Züge von Gehorsam, Unterwürfigkeit und hingebungsvolle Liebe gerade dem Vater gegenüber zeichnen viele Kinder, insbesondere aber die zur Neurose neigenden aus. Und sie werden dadurch oft in eine Rolle gerückt, die ihnen als unmännlich erscheint. Alle Neurotiker haben eine Kindheit hinter sich, in der sich der Zweifel in ihnen regte, ob sie zur vollen Männlichkeit gelangen könnten. Der Verzicht auf die Männlichkeit aber scheint für das Kind gleichbedeutend mit Weiblichkeit,4) und damit ist ein reicher Kreis ursprünglich kindlicher Werturteile gegeben, nach welchen jede Form der ungehemmten Aggression, der Aktivität, des Könnens, der Macht, mutig, frei, reich, angreifend, sadistisch als männlich, alle Hemmungen und Mängel (auch Feigheit, Gehorsam, Armut usw.) als weiblich aufgefaßt werden können.5) Man kann nun leicht erkennen, daß das Kind eine Zeitlang eine Doppelrolle spielt, daß es einerseits Tendenzen zeigt, die seine Unterwerfung unter die Eltern, Lehrer und Erzieher verraten, andererseits Wünsche, Phantasien und Handlungen, die sein Streben nach Selbständigkeit, freiem Willen und Geltung (»der kleine Gernegroß«) zum Ausdruck bringen. Da von dem einen mehr die Mädchen und Frauen, von letzterem mehr die Knaben und Männer zur Schau tragen,6) so kann es nicht wundernehmen, daß die Weltanschauung des Kindes zu Werturteilen gelangt, wie sie von den Werturteilen der Erwachsenen gar nicht so sehr abweichen: die Hemmungen der Aggression als weiblich, die gesteigerte Aggression selbst als männlich anzusehen.

Dieser innere Zwiespalt in der Kinderseele, Vorbild und Grundlage der wichtigsten psychischen Phänomene, zumal der Neurose, der fälschlich sogenannten Spaltung des Bewußtseins, und Ausgangspunkt des Zweifels, kann mannigfache Ausgänge im späteren Leben erfahren. In der Regel wird man Einstellungen des Individuums bald mehr nach der »femininen«, bald mehr nach der »maskulinen« Richtung finden, daneben aber vielleicht immer Versuche und Bestrebungen, die Einheitlichkeit des Bildes aus dem Innern heraus zu stärken; das männliche Material hindert eben ein völliges Aufgehen in einer weiblichen Rolle, das weibliche erweist sich als Hindernis, sich ganz männlich zu gebärden. Dadurch wird meist ein Kompromiß eingeleitet: weibliches Gebaren mit männlichen Mitteln (z. B. männliche Schüchternheit und Unterwerfung, männlicher Masochismus, Homosexualität usw.), männliche Rolle mit weiblichen Mitteln (Emanzipationstendenzen der Frauen, Polyandrie, Zwangsneurosen als Störung der Frauenrolle u.a.). Oder man findet ein scheinbar regelloses Nebeneinander von »männlichen« und »weiblichen« Charakterzügen. In der Neurose, wo es sich stets um Inkongruenzen solcher oft maßlos verstärkter Charakterzüge handelt, gelingt die Sichtung und Reduktion all dieser Tendenzen und die Aufdeckung des psychischen Hermaphroditismus stets mit den Mitteln der Jndividualpsychologie. Als Vorbedingung hat allerdings zu gelten, daß der Arzt nicht sein eigenes Werturteil über männliche und weibliche Züge in die Analyse hineinträgt, sondern sich dem gefühlsmäßigen Empfinden des Patienten anpaßt, demselben nachspürt.

 

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1) Adler, ›Träume einer Prostituierten‹. In: Zeitschr. f. Sexualwissenschaft. 1908.

2) Später von Kretschmer als Zeichen des »schizoiden« Formenkreises in Anspruch genommen, der mit dem von mir beschriebenen »nervösen Charakter« ziemlich identisch ist.

3) Siehe Adler, Studie über Minderwertigkeit von Organen, l. c.

4) Übrigens nicht allein für das Kind, sondern für den größeren Teil unseres Kulturbewußtseins.

5) Siehe ›Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose‹.

6) »Schlimm sein« bedeutet für das Kind oft: männlich sein.


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