Der nervöse Charakter


(1913)

 

Stets wird die Darstellung seelischer Erscheinungen in der Wissenschaft mit zwei Mängeln zu rechnen haben. Das stetige, allseitige Weben der Psyche kann in der sachlichen Wissenschaft nur streckenweise und als ruhendes Material erfaßt werden. Und das Abbild, das sie liefert, muß so viel Gehalt besitzen, daß es, durch seine Andeutungen bloß, vorhandene Empfänglichkeiten des Lesers und Zuhörers in Schwingung bringen kann. Nicht anders als die Kunst verlangt auch die Seelenkunde jenes starke, intuitive Erfassen ihres Stoffes, ein Ergreifen und eine Ergriffenheit, die über die Grenzen der Induktion und Deduktion hinausgehen. Wenn ich den Namen Nietzsche nenne, so ist eine der ragenden Säulen unserer Kunst enthüllt. Jeder Künstler, der uns seine Seele schenkt, jeder Philosoph, der uns verstehen läßt, wie er sich geistig des Lebens bemächtigt, jeder Lehrer und Erzieher, der uns fühlen läßt, wie sich in ihm die Welt spiegelt, geben unserem Blick Richtung, unserem Wollen ein Ziel, sind uns die Führer im weiten Land der Seele. In den Denkgewohnheiten und in der seelischen Blickrichtung des wissenschaftlichen Forschers liegt viel geheiligte Tradition, die sich im Wort und im Satzbau nicht verraten. Und doch ist sie gebändigter künstlerischer Urinstinkt, der tragende Geist seiner Arbeit. Bis die heilige Not ihn zwingt, wie ein suchendes Kind altes Räderwerk zu zerbrechen. Neue Wege zu ersinnen, Kunstgriffe und Finten aneinanderzureihen, die Schwierigkeiten des Stoffes zu umkreisen, die realen gegebenen Widerstände zu beschleichen, lehrt ihn sein schaffender Geist. In den Rätseln des Lebens, in seelischer Not ist jedermann ein Forscher und Dichter. Um die Übel und Widerwärtigkeiten zu bestehen, findet jeder einen Weg, gestalten alle ihre Lebenslinie aus, von der sie erwarten, daß diese endlich dorthin mündet, wo sie hoch über allem Leid, über aller Entbehrung, über alle Mühsal thronen. In allen ihren Handlungen, in der Art, wie sie das Leben, die Gegenwart, die Zukunft erfassen, wie sie sich die Lehren der Vergangenheit aneignen, erklingt immer wieder der Menschen leitende Idee, das Ziel, das sie sich schöpferisch gesetzt, und der Weg, den sie gesucht haben, um dorthin zu gelangen. Wenn wir die flüchtigen Handlungen und Ausdrucksbewegungen eines Menschen, seine Haltung, Sprache, Mimik und Gebärde analysieren, zerlegen, ohne sie auf uns und auf unsere schöpferische Gestaltungskraft wirken zu lassen, geben wir dann in unserem Urteil nicht zu wenig? Durch die bloß objektive Analyse gelangen wir nie zum Verständnis eines Eindruckes, eines Erlebnisses, aber ohne daß wir es merken, oft ohne daß wir es zugeben wollen, sind die aufnehmenden und urteilenden Instanzen in einer durch unsere Persönlichkeit vorbereitenden Form. Die Bearbeitung, Hervorhebung und Abschwächung aller Eindrücke, die auf uns wirken, sind durch unsere unbewußte Erfahrung im voraus bestimmt und lassen nicht leicht Änderungen zu. Wir müssen diese vorbereitenden Haltungen und Bereitschaften auch bei anderen herausfühlen, ihre Tendenzen erkennen, wenn wir den gegebenen Ausdruck verstehen wollen. Die gleichen Eigenschaften mehrerer Menschen lassen sich wohl vergleichen, aber niemals gleichstellen. Der Zorn des einen ist als Erlebnis von dem des anderen grundverschieden; in dem Ehrgeiz einer Menschenseele liegt nicht bloß eine Gegenwart, sondern die ganze Vorgeschichte, die Zukunft und ein erdichtetes Finale.

Die Schwierigkeit einer Darstellung seelischer Erscheinungen liegt also darin, daß man gezwungen ist, ein planmäßiges Werden in einer Ausdrucksbewegung als ruhendes Material zu erfassen, doch so wiederzugeben, daß der Eindruck eines Geschehens lebendig wird. Dieser Aufgabe ist eigentlich nur der Künstler gewachsen, voran der Dichter und etwa der Musiker. Dagegen erledigt sich eine andere scheinbare Schwierigkeit aus der vorliegenden Betrachtung selbst. Ich meine die Flüchtigkeit der meisten Ausdrucksbewegungen. Ständige Erscheinungen, wie körperliche und seelische Haltung, auch die Schrift, bieten wertvolles Material, das einen vorläufig leitende» Eindruck fördert. Unschätzbar sind für das Verständnis eines Menschen seine gewohnheitsmäßigen, immer wiederkehrenden Stellungnahmen und Attitüden, körperliche sowohl wie insbesondere seelische. Zu diesen gehören in erster Linie alle Eigenschaften, aus denen wir auf den Charakter schließen, und die mehr absonderlich erscheinenden Symptome der Nervosität, die wir nach einer schwer haltbaren Analogie als Krankheit empfinden, weil sie auch wie diese die Lebens- und Arbeitsfähigkeit beeinträchtigen. Aber auch gegenüber den flüchtigen, kaum je wiederkehrenden Ausdrucksbewegungen versagt unsere Arbeitsmethode nicht. Kehrt doch in jeder Bewegung das alte System wieder, der einheitliche Lebensplan, aufgebaut auf den Individualerfahrengen der Vergangenheit und hinzielend auf den erdichteten fünften Akt. Wir müssen nur vergleichen, den Eindruck empfindend auf uns wirken lassen, um die Einheit jener Bewegungen zu fühlen und zu verstehen. Nicht anders als wir bei einem Kunstwerk vorgehen, wenn wir die Synthese eines Dramas nacherleben, oder wenn wir neben den einzelnen Tönen einer Melodie ihren Sinn, ihre lückenlose Linie empfinden.

Diese Forschungsmethode der vergleichenden Individualpsychologie ergibt für jeden Fall, der zur Untersuchung kommt, als bedeutsames Resultat die Einheit der Persönlichkeit. Und diese Einheit ist derart geschlossen, daß sie sich in jeder Einzelerscheinung widerspiegelt. Der unumstößliche Eindruck der Richtigkeit einer solchen Erforschung geht erst daraus hervor, daß man in allen Schichten des Seelenlebens die gleiche Lebenslinie wiederfindet. Als wichtige Bestätigung und als Probe aufs Exempel darf es gelten, wenn diese Linie, zuweilen in den sonderbarsten Umbiegungen und Ausbiegungen, von unten nach oben führt. Bei geradlinigen Charakteren und Kampfnaturen wird sich diese Linie etwa in der Kopfhaltung, im Ansteigen ihrer Stimme, ihrer Schrift, in Bewegung ihrer Arme abzeichnen, nicht weniger deutlich auch in allen ihren Unternehmungen und ebenso in ihren Träumen und Phantasien, wenn sie sich im Flug über die anderen erheben. Sie werden nur ungern einsam sein, weil ihre vorgeschriebene Reise sie zu den Menschen führt, sich mit ihnen zu messen, alle zu übertreffen, überall die ersten zu sein. Es bedeutet schon eine kleine Ablenkung, sobald sie den Partner wählen, etwa bloß Männer und Frauen beherrschen wollen, die sie als schwächer eingeschätzt haben. Oder wenn sie den als schwächer Erkannten zuerst erhöhen, um ihn dann unter ihre Herrschaft zu bringen. Bei Nervösen gelingt es immer, ihre Lebenslinie auf eine knappe Formel zu bringen, da bei ihnen, wie wir sehen werden, jeder Charakter prinzipieller und schärfer hervortritt. Als Gegenstück kann schematisch der schlangenartige, vorsichtige Charakter angesehen werden. Sein Ziel, ist nicht weniger hoch gesetzt, aber sein Weg führt in unglaublichen Windungen und Ausbiegungen zur Höhe. Selbst auf der Höhe, nach der er sich sehnt, fühlt er sich nicht sicher. Seiner Höhenangst gleichgeordnet ist seine Furcht zu stürzen, und seine Träume vom Fallen führen eine beredte Sprache. Überall bringt er einen Sicherungskoeffizienten an und verzichtet, ohne die unsichere Zukunft zu versuchen. Er ist der Standardtypus des Nervösen, der sich allenthalben von Unheil bedroht sieht. Sein Weg ist allerorts mit Sicherungen versehen, aus jedem Erlebnis zieht er eine warnende Moral, Prinzipien und Leitsprüchlein begleiten ihn jederzeit, und seinen Wirkungskreis hat er durch allerlei Empfindlichkeiten, durch körperliche und durch seelische Intoleranz aufs engste eingeschränkt, um ihn so besser zu erschüttern. Listig zuweilen und verschlagen oder ängstlich, vor dem eigenen Mut erschrocken, immer in zögernder Haltung, ist er stets auf dem Rückzug oder verschleiert ihn durch ein zweifelndes Hin und Her. Er hat jede männliche Haltung abgelegt, um desto sicherer den Schein seiner unbesiegbaren Männlichkeit zu behalten.

Es ist nun am Platz, das heimliche Ziel und den unbewußten Lebensplan des Nervösen, die sich von denen des Normalen nur durch den Grad ihrer Deutlichkeit unterscheiden, näher zu beleuchten. Dieses Vorhaben führt uns zur Betrachtung der kindlichen Seele. Die Erziehung richtet den Blick des Kindes vom ersten Tag an auf die Zukunft und ihre Gefahren. Wohl auch auf ihre Glücksgüter. Im Rahmen der Familie selbst gibt es immer Vorbilder an Kraft und Stärke, die häufig genug sich den Schein der Unerreichbarkeit erborgen. Freiheit und Gleichberechtigung, ein entfaltetes Gemeinschaftsgefühl des Kindes könnten als beruhigende Abschlagszahlungen gelten. Aber wie selten erfreut sich ein Kind ihres Besitzes! Kein Wunder, daß sich der meisten Kinder ein Gefühl der Unsicherheit bemächtigt, das in zwei verschiedenen Richtungen ihre Seele bewegt. Die eine Erregung macht sich als ein Gefühl der Minderwertigkeit, der Hilflosigkeit und der Schwäche geltend und zeitigt ein Bedürfnis nach Anlehnung, Hilfe und Unterstützung. Recht häufig findet das Kind jetzt den Weg, aus seiner Schwäche Nutzen zu ziehen: es beginnt seine Ängstlichkeit zu fördern und als wertvollen Charakterzug zu stabilisieren, weil es in diesem Zeichen seinen Angehörigen überlegen wird. Die gleichen Vorteile können ihm durch die Unterstreichung von Krankheitserscheinungen und durch das Festhalten an Kinderfehlern erwachsen.

Die zweite Erregung, die wir bereits im Werden gesehen haben, zeigt sich als ein verstärkter Drang nach Überlegenheit, als eine dauernde Sehnsucht aus der Unsicherheit zum Sieg, aus dem Gefühl der Schwäche zur Sicherheit zu gelangen, je minderwertiger sich das Kind fühlt, um so stärker wird dieser Drang. Und so finden wir neben den geradlinig aufsteigenden Charakterzügen des Ehrgeizes, der Tapferkeit, des Sichmessens mit der Umgebung bald mehr, bald weniger Charakterschwächen, die gleichwohl beibehalten werden, wenn sie in irgendeiner Weise zum Ziel der Überlegenheit führen: Neid, Geiz, Lügenhaftigkeit, Feigheit und andere.

Ein siebenjähriges Mädchen, das zwischen einem nachgiebigen Vater, einer strengen Mutter und einer von dieser verzärtelten jüngeren Schwester aufwuchs, erkrankte an nächtlichen Angstanfällen, die sich bald auch auf den Tag fortsetzten. Wie sich leicht nachweisen ließ, war das Kind von einem unheimlichen Ehrgeiz beseelt, mochte die vorgezogene Schwester nicht leiden und zeigte häßliche Züge der Eifersucht und des Neides, nicht nur der Schwester gegenüber, sondern auch in der Schule. Wir können die fortwährende Pein dieses Kindes verstehen, das also vergebens um den Vorrang mit der Schwester rivalisierte, vergebens auch an dem festgefügten nervösen Charakter der Mutter rüttelte. Langsam schlich sich eine Neigung ein, ein Kranksein in die Länge zu ziehen, eine Unpäßlichkeit als unerträglich zu empfinden, da das Kind während der Krankheit keine Zurücksetzung zu erdulden hatte. Der Vater war aufmerksam geworden und nahm sich vor, die Bevorzugung der jüngeren Tochter durch die Mutter wettzumachen, indem er nun die ältere verzärtelte. Mit schlechtem Erfolg. Das heimliche Ziel nach Überlegenheit war bereits so weit gefestigt, der Charakter des Ehrgeizes, des Neides, der Herrschsucht so weit vorgebaut, daß man die Diktatur des Mädchens zu gewärtigen hatte. Eines Tages machte die Mutter dem Vater Vorwürfe, daß er für das Mädchen so viel Geld ausgäbe, auf den Semmering fahre, im Wagen mit ihr herumkutschiere, während sie und die jüngere Schwester zu Hause bleiben müßten. In der Nacht darauf brach der erste Angstanfall bei dem Kinde aus, der in unserem Sinne als überaus kräftige Revolte gelten muß. Denn nun war der Vater mehr als je gezwungen, seine Liebe dem jetzt kranken Kinde zuzuwenden, und der Widerstand der Mutter war lahmgelegt. Die ursprüngliche Benachteiligung des Kindes erwies sich jetzt als kompensiert, seine Zurücksetzung und die Bevorzugung der jüngeren Schwester hatten ein Ende.

Vergleicht man aber die heimliche Linie dieser Angstanfälle, ihren Sinn und ihre Melodie mit dem früheren seelischen Zustande des Kindes, mit seinem gesteigerten Ehrgeiz, seiner Empfindlichkeit und seinem Neid, verfolgt man diese Charakterzüge bis zu jenem Punkt, wo sie sich schneiden, so kommt man auf die gleiche Leitlinie, die zur Überlegenheit über Mutter und Schwester führt und ebenso darauf hinzielt, den Vater in den Dienst zu stellen. Die Angst aber, die das Mädchen bei banalen Anlässen kennen gelernt hatte, war ihm zur Sicherung und zur Waffe geworden, mit der es sich vor einer Herabsetzung seines Persönlichkeitsgefühles zur Wehr setzte. Ich wäre in Verlegenheit, wenn ich ein besseres Mittel nennen sollte, als es dieses Kind gefunden hatte, richtiger: in das es nach mannigfachen Vorbereitungen und Vorversuchen hineingewachsen war. An der konsequenten, kunstvollen Konzeption des nervösen Systems ist kein Fehl; jede Kritik, die an diesem Punkt einsetzt, ist übel angebracht. Der Fehler kann nur an einer anderen Stelle liegen: an der Zielsetzung, die das Kind instinktiv vorgenommen hat, an seinem Ehrgeiz, an seiner Eitelkeit, an seinem Mangel des Gemeinschaftsgefühls.

Wenn wir die bisher gewonnenen Resultate überblicken, so ergibt sich uns eine fundamentale Anschauung über den Zusammenhang von kindlichem Minderwertigkeitsgefühl, beruhigender und orientierender Zielsetzung und den Anstrengungen und Wegsicherungen, die ein Näherkommen an das Ziel ermöglichen sollen. Es läßt sich nun leicht nachweisen, daß ein verschärftes Unsicherheitsgefühl in der Kindheit eine höhere und unabänderliche Zielsetzung, ein Streben über das menschliche Maß hinaus und zugleich auch die geeigneten Anstrengungen und Sicherungen herbeiführt, ein Ensemble, das uns das Bild jener Erscheinungen gibt, die wir Nervosität nennen, aus denen sich, auffallend und schärfer hervortretend, mit aufgepeitschter Aktivität oder im Schein einer irreparablen Passivität, zuweilen in der Maske des Zweifeins und des Schwankens der nervöse Charakter hervorhebt.

In diesem psychologischen Schema gibt es zwei annähernd feste Punkte: die niedrige Selbsteinschätzung des Kindes, das sich minderwertig fühlt, und das überlebensgroße Ziel, das bis zur Gottähnlichkeit reichen kann. Zwischen diesen beiden Punkten liegen die vorbereitenden Versuche, die tastenden Kunstgriffe und Finten, bilden sich auch fertige Bereitschaften und gewohnheitsmäßige Haltungen, aus denen sich das verborgene Ziel erschließen läßt. Eine der Formen dieser vorbereitenden Haltungen, Saugadern vergleichbar, wenn sie die Erfahrungen, Aufmunterungen und Warnungen der Vergangenheit in Spuren aufweisen, tastenden Fühlern ähnlich, wenn sie dem fiktiven Ziel im Gedränge der Wirklichkeit näherzukommen suchen, sind die Charakterzüge. Sie, die der Persönlichkeit Haltung und Gestalt verleihen, sind die eigentlichen Mittler zwischen Vergangenheit und Zukunft und dienen als geistige Bereitschaften dem leitenden Ideal des Menschen: je nach ihrer Art nehmen sie bald Fühlung, bald leiten sie den Kampf mit der Umwelt ein oder erzwingen einer Entscheidung gegenüber eine zögernde oder eine ausweichende Attitüde. Das kindliche Gefühl der Unsicherheit bedarf solcher Richtlinien und bereitgestellter Fertigkeiten. Es läßt sie schärfer hervortreten und macht sie zu kategorischen Imperativen, sobald das verstärkte Minderwertigkeitsgefühl wirksam wird. Was solchen Kindern einmal nützlich war, wird wegen seiner beruhigenden Wirkung zu verewigen, zu vergöttlichen gesucht. Und nur deutliche Niederlagen sind imstande, einen Frontwechsel zu erzwingen und damit eine Verschleierung, aber keine Änderung der Charaktere. Auch tritt die Notwendigkeit stärkerer Leitlinien ein; das Individuum ist aber an das Kreuz seiner leitenden Machtidee geschlagen, und jetzt erscheint als fertige Nervosität, was vorher nervöse Disposition war. Der weitere Erfolg dieser Tatsachen führt auf medizinisches Gebiet. Ich muß daher hier abbrechen.

Wenn es mir bisher nicht geglückt sein sollte, den Beweis der dominierenden Stellung des fiktiven Leitideals für alle seelischen Erscheinungen, speziell auch für den Charakter, aus der Einheitlichkeit ihrer Zielrichtung zu erbringen, so möchte ich noch folgende Betrachtungen anreihen. Wir sind nicht imstande, auch nur die geringfügigste körperliche oder geistige Bewegung zu vollführen, ohne daß uns in der Idee ein Bild des Zieles vorschwebte. Dies gilt sowohl für die Fortbewegung als auch für das Sprechen und Denken und Wollen. Durch diese Fiktion einer Zielsetzung kommt erst Ordnung und Richtung in unser Tun; das Chaos der Welt scheint überwunden und der Weg gegeben, auf dem die Bewältigung des Lebens und seiner Mühsal möglich erscheint. Im Leben des Kindes läßt sich leicht beobachten, wie beim Erlernen des Gehens, des Schauens, des Hörens, des Sprechens ein vorläufiges Ziel des Gelingens organisch und seelisch vorbereitet ist. Bei komplizierten Haltungen und bei seelischer Tätigkeit steht immer ein Vorbild als Leitideal vor der Seele des Kindes, dem es gleichzukommen sucht, oder das es übertreffen will. Drückt dieses Vorbild auf das Empfinden des Kindes, dann gerät es in eine Kampfesstellung und wird häufig im Trotz, zuweilen auch mit übertriebener Unterwürfigkeit und mit Gehorsam sein Ziel der Überlegenheit zu erreichen suchen. Die entscheidende Instanz aber für die seelischen Leistungen des Kindes und später des Erwachsenen ist jene höchste Spitze seines Machtgefühls, bis zu der es in der Zukunft durchzudringen verlangt.

Es wurde bereits hervorgehoben, daß diese Spitze im Kampf um die Selbstbehauptung um so höher angesetzt wird, je niedriger die Selbsteinschätzung ausfällt, zu der das Kind gezwungen ist. Da lag es nun nahe, auf jene Kinder zu achten, die durch eine erschwerte körperliche Entwicklung, durch Verunstaltung, organische Mängel und Kinderfehler, wie sie bei einer angeborenen Organminderwertigkeit entspringen, ihre Geltung schwerer und später erringen. Diese Kinder sind es auch, die in ihrem späteren Leben, noch bis ins Greisenalter, meist also in einer Zeit, wo ihre Mängel längst nicht mehr fühlbar sind, mit erhöhten Anstrengungen und mit aufgepeitschtem Empfinden ihr kindliches Leitideal verfolgen, bei dem ihre Sehnsucht nach Überwindung des Todes, nach männlicher Kraft, nach Ansehen, Schönheit und Reichtum, kurz, nach Triumphen aller Art Befriedigung fände. Sie werden sich immer mit allen messen, werden alle in ihren Dienst stellen wollen, werden in Unruhe und voll Empfindlichkeit ihre Forderungen kundgeben, werden aber auch, wenn sie gewitzigt sind, in nervöser Unsicherheit nach Kunstgriffen suchen, um einer für sie fatalen Entscheidung, meist jeder Entscheidung, auszuweichen. Ihre Charakterzüge zielen weit über menschliches Maß hinaus, mischen sich aber mit anderen von solch ausweichenden Linien, daß man leicht ersieht: hier fehlt der Glaube an sich selbst. Letzter Linie erheben sie sich nicht mehr zum Willen zur Macht, sondern wollen nur mehr den Schein für sich gewinnen. Je mehr sie sich in ihrer Kindheit dem Nichts, dem Staub verwandelt gefühlt haben, desto mehr ringen sie nach Gottähnlichkeit. Sie fühlen sich dem Gott, dem Künstler verwandt, wenn sie aus nichts etwas machen können, das ihre Phantasie mit willkürlicher Wertung ungeheuer übertreibt. Immer stärker tritt die Eigenliebe, das Denken an sich selbst in den Vordergrund und schafft eine dauernde Unversöhntheit mit dem Leben.

Diese Tatsachen stellen den Wissenschaften neue Probleme und verstärken die Wucht alter brennender Fragen. Die rasche Behandlung und tunlichste Heilung von Kindern mit Organminderwertigkeiten ist eine dringende Forderung der vorgetragenen Anschauungen. In gleicher Weise erscheint durch sie der Wert und die Bedeutung der sozialen Medizin betont. Der Bekämpfung der Volksseuchen, der Lues, der Tuberkulose und der Trunksucht muß auch aus dieser Rücksicht besonderes Augenmerk geschenkt werden, da sie der Keimverschlechterung hervorragend Vorschub leisten. In gleich schädigender Weise wirken Pauperismus und Überarbeit, die schlechte Konjunktur beherrscht und verschlechtert das Keimplasma und steigert die Häufigkeit minderwertiger Organe.

Das Grenzgebiet der Sozialwissenschaft birgt gemäß den vorgetragenen Anschauungen noch manche wichtige Frage. Die soziale ebenso wie die Familienerziehung müssen Zustände schaffen, die das Kind vom Druck eines stärkeren Minderwertigkeitsgefühles entlasten. Die Kenntnis und Vertiefung in die Anschauungen der vergleichenden Individualpsychologie geben dem Erzieher rechtzeitig die Möglichkeit einzugreifen, setzen ihn instand, Übertreibungen einzuschränken und die Furcht vor der Unsicherheit der Zukunft zu mildern.

Der speziellen Probleme unserer Wissenschaft, die vorwiegend in das Qebiet der Nervenheilkunde und Psychotherapie fallen, gibt es eine unergründliche Zahl. Eines der wichtigsten, das wegen seiner Beziehung zur Pädagogik besprochen werden soll, betrifft die Beziehung der Geschlechter. Es hängt mit der wirkenden Kraft des fiktiven Leitziels beim Nervösen zusammen, daß er in seiner neurotischen Perspektive und bei der Konstruktion seiner Charakterzüge auch alle Beziehungen der Liebe und den sozialen Zusammenhang der Geschlechter auflöst und zu einer Kampfposition macht. Auf welche Weise macht sich dabei das leitende Ziel geltend? Es ergibt sich nun bei näherer Betrachtung in einwandfreier Weise, daß der Gottähnlichkeitsgedanke des Nervösen, sein Ideal der Vollkommenheit, das er zu erreichen strebt, einen überaus starken männlichen Einschlag aufweist. So daß jedes nervös disponierte Kind, Knabe wie Mädchen,, imstande ist, sein ganzes Streben und seine ganze Zielrichtung in das Schema zu fassen: Ich will ein voller Mann werden. Denn in dieser Idee gipfelt jeder Wunsch nach Herrschaft, Macht, Reichtum und Sieg. Kein Wunder. Aus den Eindrücken der Außenwelt schöpft das zur Nervosität geneigte Kind schon zu einer Zeit, wo ihm die Unveränderlichkeit des Geschlechtscharakters meist noch unbekannt ist, die Empfindung, daß nur der Mann zum Herrscher geboren ist.

Freilich gehört im Anfang Mut dazu, spärliche Ausdrucksbewegungen, zumal bei Mädchen, in dieser Art zu deuten. Erst wenn es wieder gelingt, auf diesem Weg die einheitliche Leitlinie zu entdecken, kommt allmählich die Überzeugung auf. Die Verschwommenheit eines Eindruckes hindert oft unser Verständnis. Wenn aber etwa ein vierjähriges Mädchen erklärt, es werde, wenn es groß sei, die Mutter heiraten, wenn dieses Kind dann auch noch befiehlt, man müsse es Hans nennen, wenn es später Neigung zeigt, Knabenkleider anzulegen, Mädchenspielen auszuweichen, mit Knaben herumzutollen und selbst zu äußern, es möchte ein Knabe sein, dann bleibt wohl kaum mehr ein Rest des Zweifels übrig. Ein achtjähriges Mädchen, das manche dieser Züge zeigte, hatte ich Gelegenheit kennen zu lernen, weil es neben unbändigem Trotz an einem Kinderfehler und an Ohnmachtsanfällen litt, die ihm erlaubten, jede Folgsamkeit und jedes erzieherische Einwirken abzuweisen. Im Gespräch mit mir zeigte es eine auffallend trotzige Attitüde und verschränkte plötzlich die Arme. Auf die Frage an die begleitende Tante, wer in der Umgebung des Kindes die Arme derart verschränkte, erhielt ich die Antwort: der Vater. Wächst ein solches Mädchen heran, dann kommt es immer auch zu einem Formenwandel der männlichen Fiktion, aber das leitende Ziel wird um nichts erreichbarer. Das Prinzessinnenideal, ein häufiger Formenwandel, zeigt sich ungemein oft und schafft wie andere Ideale eine ungeheure Überempfindlichkeit. Die Einfügung in die Wirklichkeit wird dauernd erschwert, und trotz aller Kompromisse im Leben tritt die Unzufriedenheit mit der weiblichen Rolle immer wieder hervor. Eines dieser Mädchen hatte, wie man mir erzählte, im 20. Lebensjahr, in der Zeit der Heiratsmöglichkeit also, einen Selbstmordversuch unternommen, als es in Weiningers »Geschlecht und Charakter« eine Bestätigung für seine Auffassung von der Minderwertigkeit der Frau zu erblicken glaubte. Wir sehen hier, wie die Herabsetzung der Frau in unserer Gesellschaft mit Notwendigkeit zu ihrer psychischen Vermännlichung, zum männlichen Protest führt, gleichwie der erzieherische Druck im Leben des Kindes wie die Rechtsentziehungen im Staat zu Revolten. Wahrlich, es ruht kein Segen darauf, und der zur Minderwertigkeit Verdammte wird durch Kunstgriffe und Finten zur Geißel seines Herrn.

Eine 40jährige Frau, die an Berührungsfurcht und einer Zwangshandlung im 20. Jahre bereits erkrankt war, läßt diese männliche Lebenslinie ziemlich eingehend verfolgen. Eines ihrer kindlichen Leitideale war, wie ein Indianer (männlich) alles zu ertragen und ihre Wünsche zu unterdrücken. Später wurde dieses Ideal von einem scheinbar weiblichen abgelöst: wie die Jungfrau von Orleans zu sein. Der Sinn der Berührungsfurcht wird hier schon klarer. Mit 20 Jahren trat sie in Beziehung zu einem tuberkulösen, dem Tode geweihten Manne und dachte an eine Ehe, die, allen verständlich, von ihren Angehörigen nie zugegeben worden wäre. Im Sommer desselben Jahres kamen mehrere Freier. Da stellte sich die Zwangshandlung ein. Sie konnte nichts von ihren Beschäftigungen fertig machen. Insbesondere war es eine Handarbeit, die sie immer wieder auftrennen mußte. Jeder wird hier unwillkürlich an Penelope denken müssen. Das heißt, sie wollte auf den auch von ihr als unmöglich erkannten Gatten warten. Auf meine Frage, ob ihr diese Geschichte nicht bekannt vorkäme, ob sie nicht jemanden kenne, der auch nichts zu Ende gebracht habe, antwortete sie: »Freilich, Sisyphus und Tantalus und dieDardanellen.« Rasch verbesserte sie: »Danaiden«. Auf mein Drängen, noch eine Person zu nennen, da sie mit ihrem Ausflug in6 griechische Altertum offenbar auf dem richtigen Weg sei, fällt ihr niemand mehr ein. Und doch wird sie die richtige, leitende Idee Penelope auf der Zunge gehabt haben, da der Weg von den Danaiden zu den Dardanellen durch das nel aus Penelope bezeichnet ist. Ihr Unvermögen aber, sich der Penelope zu erinnern, zeigt die starke Verschleierung der leitenden Idee an; ebenso wie wir in anderen Fällen den Sinn einer Ausdrucksbewegung erfassen müssen, ohne daß die Untersuchte ihn uns verrät, so auch bei diesem Fall, wo ihn die Patientin durch eine harmonische Bindung zweier Linien an den Tag bringt. Penelope aber ist für diese Frau ein Sinnbild: die Frau, die keinen Freier gelten läßt, die Frau, die keine Frau sein will.1)

In der seelischen Entwicklung der Knaben finden wir den gleichen männlichen Protest. Sie handeln so als ob die Frau das Maß ihrer Kräfte wäre. Oft hört man von kleinen Knaben, wie auf den Unterschied hinweisend, daß sie sich von einer Frau nichts befehlen lassen. Kommt dann das Alter, wo die Liebe doch befiehlt, so gibt es ungeheuere Schwierigkeiten, ebenso wie in der Ehe. Denn beide werden als Kampfpositionen erfaßt, wo es gilt, für jeden Teil den Beweis oder den Scheinbeweis seiner Überlegenheit immer wieder zu versuchen. So zerstören die nervöse Perspektive und das Leitideal des männlichen Protests immer wieder die Unbefangenheit und Kameradschaftlichkeit beider Teile und erzwingen eine bleibende Unzufriedenheit der Geschlechter miteinander.

Damit glaube ich eine der tiefsten Wunden unseres Gesellschaftslebens berührt zu haben. Die Gefahr ist größer als man ahnt. Auch in dieser Beziehung ist die seelische Gesundung von einer Pädagogik zu erwarten, die nicht mit dem Kinde nur redet, sondern es versteht, das Gefühl der Gleichberechtigung der Geschlechter trotz der Gegenwart, die das Gegenteil zeigt, in den Kindern wachzurufen.

 

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1) Wichtiger als die Anschauung Freuds von dem Versprechen, die in diesem Fall auch zu Recht kommt, ist der Umstand, daß ihr nur männliche Typen über die Zunge wollen; Herr Dr. Martin, Freiburg, hat mich auf diesen Umstand hingewiesen, der ganz im Sinn meiner Auffassung liegt.


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