Organdialekt


(1912)

 

Im Jahre 1910 habe ich in einer Arbeit über ›Psychische Behandlung der Trigeminusneuralgie‹ von einer allgemein verbreiteten menschlichen Neigung gesprochen, die seelische Überwältigung einer Person durch die andere, ihre Überlegenheit in einem sexuellen Bild zu erfassen oder auszudrücken. Bei manchen nervösen Personen kann die Wirkung eines solchen »inneren Schlagwortes« (Robert Kann) so weit gehen, daß dabei auch die Geschlechtsorgane in die entsprechende Angriffsstellung geraten. Die Sprechweise bedient sich oft solcher bildlichen Ausdrücke. Beispiele scheinen mir in den Wörtern: vergewaltigen, übermannen, Jungfernrede, schicksals­schwanger und in zahllosen Schimpf- und Spottreden vorzuliegen, wie sie uns die Volkskunde liefert.

Diese Tatsachen, die es mir erlaubten, in der Kritik der Freudschen Libidotheorie einen weiteren Schritt vorwärts zu gehen und zu zeigen, daß auch das geschlechtliche Gebahren und Fühlen des Nervösen und Gesunden nicht in »banaler« Weise als ausschließlich geschlechtlich zu verstehen ist, geschweige denn seine übrige psychische Haltung, werden heute auch von den ehemaligen Gegnern anerkannt. Insbesondere die Arbeiten der Schweizer Psychoanalytiker tragen dieser Auffassung in weitestem Maße Rechnung.

Der psychologische Vorgang dieses Übergreifens aus einer Denk-, Gefühls- und Willenssphäre, z. B. des Willens zur Macht, auf eine zweite, z. B. der Sexualvorgänge, geschieht offenbar zum Zweck einer Verstärkung des Affekts, der auf eine Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls hinzielt. Und eine solche Person spricht, denkt, handelt dann so, als ob sie einen Sexualakt letzter Linie vorhätte. Dafjei ist es fraglos, daß diese Person — abgesehen vom Wahn in der Neurose und Psychose, im Traum, im Mythos und im Märchen — im klaren ist, daß ihr Endziel nicht durch das Sinnbild, nicht durch das bildliche Element gegeben ist, sondern daß dieses nur als Modus dicendi, als Form des Redens, als Dialekt angesehen werden kann, wogegen das Handeln und Denken auf die wahre Natur der Dinge gerichtet bleiben muß. Im Sinne Vaihingers 1) haben wir es demnach mit einer echten »Als-Ob«-Konstruktion, mit einer Fiktion, mit einem Kunstgriff des Geistes zu tun, und es obliegt uns noch die weitere Erörterung der Frage, was mit der Sexualisierung oder mit einem anderen Organdialekt des Denkens und Fühlens bezweckt ist. Leichtverständlicherweise ist auch unser Begriff: Organdialekt als eine »Als-Ob«-Bildung zu nehmen, weil auch er sich auf das Fühlen und Handeln erstreckt, und nicht bloß auf die Sprache.

Die allgemeine Antwort, die ich oben gegeben habe, daß diese Kunstgriffe auf eine Erhöhung des Persönlichkeitsgefühls hinzielen, erfordert auch noch eine Beschreibung der Wege, auf denen dieses Ende zu erreichen gesucht wird. Der eine Weg verläuft in der künstlich hinzugesellten Bahn, lenkt also vom ursprünglichen Ziele ab und schafft einen Ersatz. In der »Liebkosung des Windes«, in der »seligen Hingabe« an die Kunst, in der »Vermählung mit der Muse« kann ebenso wie im »Klingen kreuzen« mit einem wissenschaftlichen Gegner etwa eine solche Ablenkung vom ursprünglichen Ziele liegen, wo wir unter Umständen annehmen dürfen, daß der geradlinige Weg zur Liebe, zum Kampf aus Gründen einer inneren Vorsicht gemieden wird (Furcht vor der Entscheidung). In anderen Fällen bringt diese »Triebverschränkung« oder »das Junktim« die zur Persönlichkeitserhöhung nötige Resonanz hervor, bedient sich die Person zum Zwecke des eindrucksvollen Sprechens, Denkens und Handelns der daraus fließenden fälschenden Affektbegleitung, um ihr Ziel zu sichern. So wenn ich das Weib als Sphinx, den Mann als Einbrecher denke, wo immer ein sexuelles Schicksal mit dem Gedanken einer Niederlage verbunden ist. Ein zweiter Weg ergibt sich geradliniger, sobald die Phantasie die Lockung eines gesetzten Zieles dadurch verstärkt, daß sie auf bekanntere oder besonders reizvolle Genüsse auffordernd hinweist: Rosenlippen, Mannesehre, Paradies der Kindheit usw.

Unfaßbare Qualitäten werden dabei durch einfachere, faßbare erklärt, ergänzt, verstärkt und übertrieben. Bei günstiger Darstellung fehlt nie der »Naturlaut«. Was den einen besonders ergreift oder ihn selbst zum Organdialekt treibt, stammt aus seiner Vorgeschichte, wesentlich aus seinen Hauptinteressen und aus seiner körperlichen Anlage, soweit sie sich einem Endziel ausgleichend eingeordnet hat. Menschen mit empfindlichen Sehorganen werden bis in ihre Ausdrucksweise hinein eine Häufung von Begriffen des Sehens, Einsehens, der Anschauung usw. aufweisen, wie kürzlich erst von der Pfordten in geistreicher Weise wieder gezeigt hat.2) Überhaupt spielt in die Begriffswelt der Menschen der Abglanz ihrer minderwertigen, empfindlicheren Organe hinein. In den nervösen Symptomen kommt diese Beziehung zu greifbarer Gestalt. So kann ein nervöses Asthma (minderwertiger Atmungsapparat, Czernys exsudative Diathese) eine bedrängte Lage ausdrücken helfen, in der einem »die Luft ausgeht«, eine Hartleibigkeit unter anderem Sperrung von Ausgaben, nervöser Trismus (Kieferkrampf) auf Denkumwegen, aber gehorchend dem »inneren Schlagwort«, Hintanhaltung von Einnahme, etwa auch von Empfängnis (Schwangerschaft).3)

Die verstärkende Wirkung dieses fiktiven Denkens, Sprechens und Handelns ist leicht einzusehen. Auch versteht es sich, daß Sexualgleichnisse dabei gehäuft auftreten, weil u. a. der männliche Einschlag (männlicher Protest) im Leitideal solche Wendungen fördert.

Es ist leicht nachzuprüfen, wie sehr die Sprache und Gestaltungskraft von Dichtern durch die Überkompensation ihrer minderwertigen Augen beeinflußt wird, und wie ihnen darnach ihre wirksamen Probleme geraten. So weist Goethes Farbenlehre mit Sicherheit auf die ursprüngliche, aber mit größter Empfindlichkeit bedachte Augenminderwertigkeit hin. Irgendwo schildert Jules Veme einen Journalisten und hebt von ihm hervor, daß er die Verkörperung eines Auges sei. Dies und die gesteigerten psychischen Leistungen könnten zur Not im Sinne Freuds als gesteigerte sinnliche Begabung, als erogene Sehzone erfaßt werden. Wenn wir aber regelmäßige Anzeichen finden, wie diese begabteren Organe und ihr Überbau mit innewohnenden Minderwertigkeiten mit Zeichen des Niedergangs, mit Erkrankungen und mit erblichen und familiären Schwächen im Bunde stehen, so daß man zur unsicheren Annahme einer stärkeren Sinnlichkeit erst recht eine Organminderwertigkeit als Erklärungsgrund fordern muß, dann bleibt wohl keine andere Wahl als die Libidotheorie zu verwerfen und an ihre Stelle die Lehre von der Organminderwertigkeit und ihren Folgen zu setzen. So ist die spätere Erblindung von Jules Vemes phantastischen Augen ein Beweisstück, das hundert ungestützte Spekulationen aufwiegt.

Die Wirkung dieser allgemein verständlichen und somit leichter fühlbaren Leistungen des Organdialektes kann bei Rednern und Dichtern, in der symbolischen Ausdrucksweise, in Gleichnissen und im Vergleich am besten erwogen werden. So werden in der folgenden Stelle aus Schillers Maria Stuart (2. Aufzug) die Keuschheit als Festung und sinnliche Wünsche als französische Kavaliere geschildert, während Engländer die Sicherungen herstellen. Der auffallende Zug in der Schillerschen Geistesrichtung, Überschätzung der Frau, wie er in der Jungfrau von Orleans, Maria Stuart, in zahlreichen Gedichten durchbricht, gelegentlich begleitet von starken männlichen Protestregungen (»Ich bin ein Mann«), führt auch an dieser Stelle wieder zur Eingebung, die Frau siegen zu lassen. Das Problem Mann — Frau wird in ein Junktim mit einer kriegerischen Leistung gebracht, und dies führt eine besondere, eindrucksvolle Wirkung herbei:

Kent ... denn, wißt,

Es wurde vorgestellt die keusche Festung,

Die Schönheit, wie sie vom Verlangen

Berennt wird — — Der Lord Marschall, Oberrichter,

Der Seneschal nebst zehen andern Rittern

Der Königin verteidigten die Festung,

Und Frankreichs Kavaliere griffen an.

... Umsonst! Die Stürme wurden abgeschlagen,

Und das Verlangen mußte sich zurückziehen. Der gesteigerte Aggressionstrieb führt demnach im Denken und Handeln und Sprechen zu solchen Ausgleichungen, die über die ursprünglich gegebene Machtsphäre (des Wortes, der Tat, des Gedankens) hinausreichen, damit ein höheres Ziel erreicht werde. Und wir haben gesehen, wie selbst im Bereiche der Sprache, des Denkens dieser Weg zur Kraftsteigerung durch die Heranziehung eines aus dem Organleben stammenden Gleichnisses betreten werden kann.4)

Es wird uns deshalb nicht wundernehmen, zu erfahren, daß die Seelentätigkeit, um zu einem wirkungsvolleren Ergebnis zu gelangen, sich außerhalb der Sprache ähnlicher Kampfesmittel bedient, einen Organdialekt spricht, der in der Mimik und Physiognomie, in den Ausdrucksbewegungen der Affekte, in den Rhythmen des Tanzes, der religiösen Verzückung, in der Pantomime, in der Kunst, vor allem ausdrucksvoll in der Musik auf die Verständigungsmittel der Sprache verzichtet, um auf uns einzuwirken. Die Gemeinsamkeit des Kulturkreises, die ähnlich tätigen und ähnlich erregbaren Aufnahmsorgane der Menschen lassen solche Wirkungen ohne weiteres zu. Und sie geben wohl nicht die Eindeutigkeit des wirkenden Wortes, eher die stärkere Resonanz der bildlichen Sprache, und verraten damit ihre Tendenz, sich als besondere Kunstgriffe durchzusetzen, wo das gesprochene Wort versagt, eine Herrschaft und Überlegenheit zu erringen über die Grenzen des Gewöhnlichen hinaus. So ist uns auch kraft der uns innewohnenden Stärke der Persönlichkeit ein Einfluß gegeben, indem die gewohnheitsmäßigen Äußerungsformen des Wirkens und Erregtwerdens im Verkehr der Menschen aufeinanderstoßen. Das Hervortreten solcher Kunstgriffe aber erweist allein schon die Verstärkung des Angriffs, den nun die Lenkerin jedes Fortschritts, crväYfn, die innere Not, zu erringen imstande ist. Die Lehre von der Organminderwertigkeit und ihren Folgen (Gefühl der Minderwertigkeit — Unsicherheit — Kompensation und Überkompensation — stärkeres Drängen nach höheren Zielen — verstärkter Wille zur Herrschaft) kann allein uns über die Bedeutung dieser Kunstgriffe belehren und uns die Halbheit begreiflich machen, zu der wir durch das verstärkte Wollen im Gegensatz zu einem gering eingeschätzten Können gelangen. Denn die Furcht vor der Entscheidung bringt es zuwege, daß unsichere Menschen auf »halb und halb« eingestellt sind.

Diese Betrachtung zeigt uns auch den Weg des Verständnisses für die auffälligeren Erscheinungen des krankhaften Seelenlebens, und wie es sich durch körperliche Haltungen und Ausdrucksweisen, abermals durch einen Organdialekt, auf die Bahn der Kunstgriffe begibt, um die Persönlichkeit zur Geltung zu bringen. Da tauchen schon in der Kindheit Empfindungen und Ausdrucksformen des minderwertigen Organs auf, deren sich der Wille zur Macht bedient, und verbleiben bei dem ungeheilten Nervösen das ganze Leben lang. Der Verdauungsapparat, die Atmungsorgane, das Herz, die Haut, der Sexualapparat, die Bewegungsorgane, der Sinnesapparat, die Schmerzbahnen, die Blase werden je nach ihrer Wertigkeit und nach ihrer Brauchbarkeit für den Ausdruck des Machtbegehrens durch die Neigung zu herrschen in Erregung versetzt und zeigen die Formen des feindseligen Angriffs, der Aggression oder des Stillstands und der Flucht, der Aggressionshemmung, beides in Übereinstimmung mit der Lebenslinie des Patienten, mit seinem heimlichen Lebensplan. Um kurz auf Beispiele von Organdialekt hinzuweisen: Trotz kann durch Verweigerung normaler Funktionen und normaler Lebensformen (Bettnässen, Nägelbeißen, Nasenbohren, Unreinlichkeit, Schlamperei), Neid und Begehren durch Schmerzen, Ehrgeiz durch Schlaflosigkeit, Herrschsucht durch Überempfindlichkeit, durch Angst und durch nervöse Organerkrankungen zum Ausdruck kommen. Sexualerregungen entstehen dabei gelegentlich als gleichgerichtete Formen der Ausdrucksbewegungen, ihre Analyse erweist sie als besondere Art und Leistung des Aggressionstriebes, die ursprüngliche und grundlegende Bedeutung der Sexualität aber, die die Freudsche Schule immer wieder zu behaupten versucht, läßt sich nirgends in den Erscheinungen des krankhaften Seelenlebens und seiner Ausdrucksformen finden. Die Flucht in die Begriffserweiterung aber, wie: daß man dem Begriff der »Libido« (deutsch: Liebe) eine asexuelle Bedeutung zu geben trachtet, oder daß man gemäß unserer Anschauung ein Verständnis zu schaffen sucht, um hinterdrein im Sexualdialekt eine symbolische sexuelle Formulierung anzustreben, die naturgemäß kein weiteres Verständnis ermöglichen kann, ist auf die Dauer aussichtslos und schrullenhaft.5) Bei dem stetigen Ziele von Denkern und Forschern, mit der Wirklichkeit so innig als möglich zusammenzutreffen, kann als Prüfstein der Echtheit wohl angesehen werden: die Fähigkeit, Irrtümer aufzugeben und haltbare Anschauungen offen anzuerkennen.

Unter den Autoren, die in der Erfassung der Grundlagen und gewisser Ausführungen der hier behandelten Fragen auffällige Leistungen aufweisen, müssen wir in erster Linie Dr. Ludwig Klages nennen, der in den »Problemen der Graphologie« und in den »Prinzipien der Charakterologie« (Leipzig 1910) besondere Ergebnisse aus seiner Lehre der Ausdrucksbewegungen mitteilt. Schon im Jahre 1905 hat dieser Forscher in einer Arbeit über »Graphologische Prinzipienlehre zur persönlichen Ausdrucksform« Gedanken entwickelt (Graphologische Monatshefte, München 1905, S. 7 und 8), die wir wegen ihrer Bedeutung und klassischen Form mit Zustimmung des Autors hierher setzen wollen.

»Jede innere Tätigkeit nun, soweit nicht Gegenkräfte sie durchkreuzen, wird begleitet von der ihr analogen Bewegung: das ist das Grundgesetz des Ausdrucks und der Deutung. Mit ihren allgemeinsten Zustandsmerkmalen beispielsweise müssen folgende der Bewegung korrespondieren: mit dem Streben vordringende, mit dem Widerstreben rückläufige Bewegungen; mit dem inneren Fortschreiten der Bewegungsabfluß, mit dem Stillestehen die Bewegungsunterbrechung; mit den Widerstands-, Hemmungs- und Spannungsgefühlen diejenigen Funktionen, die als gegen physische Widerstände gerichtet befähigt wären, gesteigerte Kontaktempfindungen wachzurufen. (Man denke etwa an das Sich-Ballen der Fäuste!) Von zahllosen subtil unterschiedenen Zuständen läßt sie (die Sprache) uns wissen, welches ihre Art des Daseins wäre, wofern sie sich verwandeln könnten in Körper, Formen, Farben, Vorgänge, Temperaturen oder Gerüche. Sie sagt uns, daß, falls es anginge, innere ›Weichheit‹ z. B. als ein Weiches, ›Schwermut‹ als ein Schweres, ›Trübsinn‹ als ein Trübes, ›Kälte‹ als ein Kaltes, ›Bitterkeit‹ als ein Bitteres in die Erscheinung träte,6) und sie wählt diese Formen ihrer möglichen Erscheinungswesen, um die Zustände für uns festzuhalten.

Für die Psychologie von größter Wichtigkeit, aber ungleich schwieriger verwertbar als die abstrakten Metaphern sind zumal die unter ihnen, welche innere Vorgänge nach bestimmten Verrichtungen und Organen des Körpers benennen. Das geschieht etwa, indem man durch die Attribution ›beißend‹ die Ironie mit den Zähnen und ihrer Tätigkeit oder durch den Zusatz ›verknöchert‹ pedantisches Wesen speziell mit den Knochen in Verbindung bringt oder ersichtlich zwar nicht den ›Sitz‹, wohl aber das Organ der Beredsamkeit substituiert in der Kennzeichnung des Redegewandten als eines, der ›nicht auf den Mund gefallene Unter derartigen Wendungen wieder die größte Bedeutung hat die uralte Scheidung von ›Kopf‹ und ›Herz‹, deren dieses in zahlreichen Kombinationen mit staunenerregender Konsequenz für Gefühl und Pathos, jener ebenso ausnahmslos für Intellekt und Willen steht, womit übereinstimmend ›Kopflosigkeit‹ die Abwesenheit der Einsicht, ›Herzlosigkeit‹ hingegen die Abwesenheit des Gemütes bedeutet.7) Neben gewissen Körperempfindungen (worüber sogleich Genaueres) haben zu solchen Organunterschiebungen auch noch beigetragen symbolische Vorstellungen mannigfachster Art,8) die als aufs engste mit philosphischen und religiösen Lehren verflochtenen in die Vergangenheit der Geistesgeschichte und selbst auf die Besonderheiten altertümlicher Bräuche zurückweisen können. Das jetzt für Übelreden gebrauchte ›Anschwärzen‹ z. B. gibt von einer nicht mehr vorhandenen Sitte des gegenseitigen Schwarzmachens bei gewissen Gelegenheiten Kunde: ›linkisch‹ hieß ursprünglich nur linkshändig und verblaßte zum Synonym für ›unbeholfen‹ erst mit zunehmender Verpönung der Linkshändigkeit; die ›Einbildungskraft‹ führt uns den fast vergessenen Bildzauber vor Augen, indem sie früher einmal wörtlich die Kraft bedeutete, etwas einzubilden«, d. h. durch Willenskonzentration und magische Beihilfen ein, sei es heilsames, sei es schädliches ›Bild‹ (z. B. die Vorstellung einer Krankheit) auf eine andere Person zu übertragen. Man sieht, die konkreten Metaphern bergen an phy-siognomischen Winken zwar manchen Schatz; aber es bedarf ihn zu heben oft entlegener Studien und um nichts weniger nahe liegender Erwägungen. Die drei zuletzt genannten Beispiele leiten zu einer dritten Gruppe von Bezeichnungen über, die wieder unmittelbar belehrend ist: zu den unbildlich gemeinten, den direkten Namen.

Wenn ältere Mediziner mit der Wendung, beim Erschrecken ›erstarre das Blut in den Adern‹ oder werde ›zu Eis‹, die Ansicht stützten, daß es tatsächlich koaguliere, so ist das zwar eine Naivität. Allein schon das für verwandte Gefühle gebrauchte ›Schauern‹ oder ›Gruseln‹ nennt zweifellos Körperempfindungen, welche von der Blutleere der Haut herrühren. Das Volksmärchen läßt durchaus folgerichtig die Wirkung greulicher Spukgesichte auf den, der ›auszog, das Fürchten zu lernen‹, übertroffen werden von einem Guß kalten Wassers, in welchem Gründlinge schwimmen. Auch die ›Finsterkeit des Gemütes‹ und, was ihr gemäß, ›alles in den schwärzesten Farben zu sehen«, hat noch andere als nur metaphorische Gründe. Es wird dem Erregten tatsächlich wohl einmal ›dunkel vor den Augen‹, und längere Depressionen können unserem Weltbild dauernd die Farbe rauben, indem sie machen, daß wir Helles nimmer hell, Dunkles noch dunkler nicht zwar sehen, aber zu sehen meinen. Unfraglich vollends nehmen auf Wahrgenommenes Bezug viele Wendungen, die vom Herzen handeln. Aussagen wie: etwas schneide ins Herz‹ oder ›nage am Herzen‹ oder ›ziehe das Herz zusammen« sind zu besonders, als daß sie nur gleichnishaft verstanden sein wollen. Dasselbe gilt von den die Atmungstätigkeit betreffenden Redensarten wie: es sei uns ›beklommen‹ oder ›schwül‹ zumute, oder wir hätten ein Gefühl der Erleichterung«. Die volkstümliche Terminologie ist überaus reich an solchen Beobachtungsniederschlägen, an deren einigen wir endlich abermals das Grundgesetz des Ausdrucks illustrieren.

Von der Redewendung, daß ihm jemand ›geneigt‹ sei, pflegt wohl niemand mehr den Ursinn mitzudenken, den das Wort uns bewahrt hat: die vorgeneigte Körperhaltung nämlich des freundlich Gestimmten. Auch die zwar ist nur teilweise Ausdruck, teilweise Geste, wovon wir für unseren Zweck jedoch absehen. Der Charakter der Positivität in der Tätigkeit des bezeichneten Gefühls müßte nach dem Gesetz jedenfalls zu adduktiven oder vordringenden Bewegungen führen, was außer ›geneigt‹ auch ›zugeneigt‹, entgegenkommend«, zuvorkommend«, verbindlich« bestätigen. Mit dem Widerstreben der umgekehrten Stimmung andererseits sollten rückläufige Funktionen korrespondieren, und in der Tat lassen Wörter wie ›abgeneigt«, zurückhaltend«, ablehnend« keinen Zweifel übrig, daß es sich wirklich so verhalte. — Schließlich sei noch des Zustandes der Trauer, des Kummers, des Grams gedacht. Dem inneren Druck entspricht hier laut Namenszeugnis des Körpers: der Bekümmerte fühlt sich ›niedergeschlagen‹ er ist ›sor-genbeladen‹, der Kummer ›lastet‹ auf ihm; und so sehr gibt davon seine Haltung Kunde, daß sein zuschauender Nebenmensch diese Gemütsverfassung ›kopfhängerisch‹ taufte.«

In Fortsetzung dieser Gedanken gelangt der Autor zu dem Ergebnis: »Die Ausdrucksbewegung ist ein generelles Gleichnis der Handlung.« Es waren in vielen Punkten ähnliche Betrachtungen, die mich später zu dem Schlüsse führten: Ausdrucksbewegung, Handlung, Affekt, Physiognomie und alle anderen seelischen Phänomene, die krankhaften mitinbegriffen, sind ein Gleichnis des unbewußt gesetzten und wirkenden Lebensplanes.9)

 

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1) Vaihinger, Die Philosophie des Als-Ob. Berlin 1911.

2) O. v. d. Pfordten ›Weltanschauung und Weltgestaltung‹ (Deutsche Revue. 1912) sagt in einer Polemik gegen den Begriff »Weltanschauung«: »Es ist nirgends Sicheres zu finden, wer zuerst den Terminus ›Weltanschauung‹ geprägt hat. Es heißt, Goethe sei es gewesen. Es würde sehr gut zu seiner ganzen Denkart passen, die durchaus auf Intuition gegründet war. Jedenfalls wimmeln seine Werke, vor allem der Faust, besonders der 2. Teil, von den Worten: schauen, anschauen, Anschauung, — Darin liegt eine Einseitigkeit, denn Worte haben ihre Sous-entendus, die an ihnen hängen: die Nebengedanken, die sie unweigerlich erwecken, möge man sie definieren, wie man will. — Immer hat ›Anschauung‹ einen optischen — und einen kontemplativen Charakter.« — Bekannt ist die Kurzsichtigkeit Goethes. Auf dieser baut sich vielleicht bei allen Dichtern die visuelle Begabung auf. Siehe auch Adler ›Organminderwertigkeit in ihrer Beziehung zur Philosophie und Psychologie‹, mit einem solchen Hinweis auf Schiller in diesem Werk.

3) Das Übergreifen auf das veranlagte Organ ist bei Kundgabe des Schlagwortes fast regelmäßig zu finden. Die Annahme einer »Verschiebung« ist überflüssig. Die Ausdrucksbewegungen bei Gefühlen und Affekten zeigen uns eine beredte Stellungnahme an, die spricht.

4) Über das verstärkende oder affektauslösende Arrangement in der Neurose siehe Adler ›Individualpsychologische Behandlung der Neurosen‹. In: Adler, Praxis und Theorie«, l.c.

5) Siehe Hinridisen ›Unser Verstehen der seelischen Zusammenhänge in der Neurose und Freuds und Adlers Theorien‹. In: Zentralblatt für Psychoanalyse, 1913.

6) So gewiß wir zwar für jeden der betreffenden Zustände mancherlei andere, obwohl schwerlich prägnantere Sinnbilder angeben könnten, so gewiß doch hat die Sprache die ihrigen aus einer objektiven Nötigung des Geistes gewählt: daher auch der gleiche Zustand in den verschiedensten Sprachen an ähnlichen Bildern versinnlicht wird. Die »Schwermut« etwa kehrt im lateinischen »gravitas mentis«, der damit fast identische »Trübsinn« im französischen »sombre« (von umbraj wieder. Und wenn auch andere Völker andere Sinnesqualitäten bevorzugen, so gibt es doch keines, das mit dem Kummer etwa die Helle, Höhe und Bewegtheit, mit der Freude die Finsternis, Niedrigkeit und Bewegungslosigkeit in Verbindung brächte.

7) Zum Belege führen wir aus der großen Anzahl einschlägiger Wörter und Wendungen folgende an: Herzenskälte, Herzenswärme, Herzlichkeit, hartherzig, weichherzig, mildherzig, herzlos, gutherzig, herzzerreißend, offenherzig, Mutterherz (Gefühl). — Herzensangst, Herzensfreude, Engherzigkeit, Männerherz, Weiberherz, Hasenherz, hochherzig, kleinherzig, leichtherzig, mattherzig, herzhaft, beherzt (Pathos). — Ein schweres Herz haben, das Herz auf dem rechten Fleck haben, sich etwas zu Herzen nehmen, etwas nicht übers Herz bringen können, jemanden sein Herz ausschütten, es geht einem etwas zu Herzen, jemanden ins Herz sehen, jemanden im Herzen tragen, gebrochenes Herz, sein Herz verlieren (Gefühl). — Scharfer Kopf, klarer Kopf, offener Kopf, kopflos, etwas im Kopf haben, etwas im Kopf behalten, sich den Kopf zerbrechen, Dummkopf, Kindskopf (Intellekt). — Querkopf, starrköpfig, hartköpfig, seinen eigenen Kopf haben, Dickkopf, sich etwas in den Kopf setzen, seinen Kopf durchsetzen, mit dem Kopf durch die Wand wollen; kalter Kopf, den Kopf oben behalten, den Kopf verlieren, kopfscheu werden: Brausekopf, hitzköpfig (Eigensinn — Selbstbeherrschung — Reizbarkeit: Wille).

8) So bildet der Kopf zu Geist und Willen schon darum eine Analogie, weil er als den Körper überragend ihn so zu beherrschen scheint wie jene beiden die Seele.

9) Diese Arbeit war bereits gesetzt, als Hofrat S. Exner über Affektäußerungen als Ausdrudesbewegungen vorgetragen hat.


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