III. Schädigung des »Lieblingskindes« und des »Aschenbrödels«
Es ist für Eltern gewiß nicht leicht, ihre Sorgfalt und Liebe gleichmäßig auf mehrere Kinder zu verteilen. Der gute Wille fehlt selten.
Was bedeutet dies aber gegenüber einer unbewußten Einstellung, die ständig das Urteil und die Handlungsweise der Eltern zu beeinflussen versucht; was bedeutet dies vollends gegenüber dem feinen Gefühle der Kinder für Gleichberechtigung oder gar gegenüber einem einmal erwachten Mißtrauen!
Schon unter den günstigsten Verhältnissen in der Kinderstube wird sich das jüngere von den Kindern den älteren gegenüber zurückgesetzt fühlen. Des Kindes Wachstumsdrang verleitet es dazu, sich ständig mit seiner Umgebung zu messen und stets seine Kräfte mit denen der anderen Geschwister zu vergleichen. In der Regel stehen die jüngsten Kinder unter einem verstärkten seelischen Antriebe und entwickeln die größere Gier nach Geltung, Besitz und Macht.1) Solange dieses Streben in den Grenzen des kulturellen Ehrgeizes bleibt, kann man davon die besten Früchte erwarten. Nicht selten aber kommen starke Übertreibungen aktiver Charakterzüge zustande, unter denen Neid, Geiz, Mißtrauen und Roheit besonders stark hervorstechen. Die natürlichen Vorteile der älteren Kinder drücken wie eine Last auf dem Kleinsten und zwingen es zu verstärkten Sicherungstendenzen, wenn es sich auf ungefähr gleicher Höhe der Geltung erhalten will.
Nicht anders wirkt die Bevorzugung eines Kindes auf die anderen. Ein Gefühl und die Befürchtung der Zurückgesetztheit mischt sich dann stets in alle seelischen Regungen, die Aschenbrödelphantasie breitet sich mächtig aus, und bald setzen Schüchternheit und Verschlossenheit ein. Das zurückgesetzte Kind sperrt sich seelisch ab und versetzt sich bei allen denkbaren Anlässen in eine Stimmung der Gekränktheit, die endlich in dauernde Überempfindlichkeit und Gereiztheit übergeht. Verzagt und ohne rechte Zuversicht blickt es in die Zukunft, sucht sich durch allerlei Winkelzüge vor stets erwarteten Kränkungen zu sichern und fürchtet jede Prüfung oder Entscheidung. Seine Tatkraft leidet durch die ewige Angst vor dem Nichtankommenkönnen, vor der Blamage, vor der Strafe. In den stärker ausgeprägten Fällen wandelt sich das Kind so sehr zu seinen Ungunsten, seine gereizte Trotzigkeit wird ein derart bedeutsames Hindernis für seine Entwicklung, daß es schließlich die Zurücksetzung gegenüber den anderen Kindern zu verdienen scheint. Wenn dann bei unliebsamen Zufällen und Streichen, an denen gerade dieses Kind beteiligt erscheint, die Eltern oder Lehrer zornig hervorheben: »Wir haben es immer gewußt! So mußte es kommen!« — dann ist die bescheidene Erinnerung am Platze: »Gewußt? Nein! Ihr habt es gemacht!« — Zuweilen sind solche »zurückgesetzte« Kinder bloß in ihrem Verwandten- und Bekanntenkreis befangen, legen ihre Zurückhaltung aber ab, sobald sie in fremder Gesellschaft sind, so als ob sie unter dem Druck bekanntgewordener Sünden stünden. Da hilft freilich dann nur Entfernung aus dem oft ungeeigneten Kreis oder — in schweren Fällen — vollkommene Erfassung der Lage durch das Kind und Loslösung, Erziehung zur Selbständigkeit durch individualpsychologische Heilpädagogik.
Oft liegt der Grund zur Zurücksetzung im Geschlecht des Kindes; sehr häufig wird der Knabe dem Mädchen vorgezogen, wenn auch das Gegenteil manchmal vorkommt. Unsere gesellschaftlichen Formen sind dem männlichen Geschlecht um vieles günstiger. Dieser Umstand wird von den Mädchen ziemlich früh erfaßt, und das Gefühl der Zurücksetzung ist unter ihnen ziemlich allgemein verbreitet. Entweder wollen sie es in allem den Knaben gleich tun, oder sie suchen in ihrer, der weiblichen Sphäre ihr Gefühl der Zurückgesetzheit wettzumachen, sichern sich vor Demütigungen und Beeinträchtigungen durch übergroße Empfindlichkeit und Trotz und nehmen Charakterzüge an, die sich nur als Schutzmaßregeln verstehen lassen. Sie werden geizig, neidisch, boshaft, rachsüchtig, mißtrauisch, und zuweilen versuchen sie sich durch Verlogenheit und Hang zu heimlichen Verbrechen schadlos zu halten. In diesem Streben liegt durchaus kein weiblicher Zug, sondern dies ist der Protest des in seinem innersten Wesen unsicher gewordenen Kindes, es ist der unbewußte, unabweisbare Zwang, die gleiche Höhe mit dem Manne zu halten, kurz: der männliche Protest. Nicht etwa die Tatsache der Zurücksetzung fällt dabei ins Gewicht, sondern ein recht häufig verfälschtes, unrichtiges Gefühl einer Zurückgesetztheit. Mit der Zeit freilich, wenn das überempfindliche Kind unleidig wird, stets störend in die Harmonie des Zusammenlebens eingreift und seine überspannten, aufgepeitschten Protestcharaktere entwickelt, wird die Zurücksetzung zur Wahrheit, und das nervös disponierte Kind wird bestraft, strenger behandelt, gemieden, oft mit dem Erfolg, daß es sich in seinen Trotz versteift.
Oder die Umgebimg gerät unter das Joch des zügellos gewordenen Kindes, für das jede persönliche Beziehung zu einem Kampf wird und jedes Verlangen in einen Hunger nach Triumph, nach einer Niederlage des anderen ausartet. Damit gelangt das Kind an die Schwelle der Neurose, des Verbrechens, des Selbstmordes. Zuweilen freilich auch an das Eintrittstor zur genialen Schöpfung. Aus dem Gefühl der Zurückgesetztheit, der persönlichen Unsicherheit, aus der Furcht vor der zukünftigen Rolle und vor dem Leben entwickeln sich machtvoll übertriebene Regungen nach Geltung, Liebe und Zärtlichkeit, deren Befriedigung fast nie gelingt, geschweige denn sofort. Im letzten Augenblicke noch schreckt das nervös disponierte Kind vor jeder Unternehmung zurück und ergibt sich einer Zagheit, die jedes tatkräftige Handeln ausschließt. Alle Formen der Nervosität schlummern hier im Keime und dienen, einmal zum Ausbruch gekommen, dieser Furcht vor Entscheidungen. Oder die aufgepeitschten Affekte durchbrechen alle moralischen und seelischen Sicherungen, drängen mit Ungestüm zur Tat, die freilich oft genug auf den verbotenen Wegen des Verbrechens und des Lasters reif wird.
Was das Lieblingskind, das verhätschelte, verzogene Kind anlangt, so besteht dessen Schädigung vor allem darin, daß es schon frühzeitig seine Macht fühlen und mißbrauchen lernt. Infolgedessen ist sein Geltungsdrang so wenig eingeschränkt und fügsam, daß das Kind jede Unbefriedigung, mag sie noch so sehr durch das Leben bedingt sein, als eine Zurücksetzung fühlt. Die Eltern schaffen also mit Fleiß und Absicht für ihren Liebling Zustände, die ihm die gleiche Gereiztheit und Überempfindlichkeit anheften wie dem zurückgesetzten Kinde. Dies wird freilich zumeist erst in der Schule oder außerhalb der Kinderstube klar. Die gleiche Unsicherheit, die gleiche Ängstlichkeit und das Bangen vor dem Leben charakterisieren die Lieblingskinder. Zuweilen sind diese Züge durch anmaßendes Benehmen und Jähzorn verdeckt. Da diese Kinder gewohnt waren, sich ihrer Umgebung als einer Stütze zu bedienen, den Eltern und Geschwistern eine dienende Rolle zuzuweisen, suchen sie in ihrem ferneren Leben stets wieder nach ähnlichen Stützen, finden sie nicht und ziehen sich verschüchtert und grollend zurück.
Beiderlei Erziehungsweisen führen also zu Steigerungen der Affektgrößen und drohen mit dauernder Unzufriedenheit, Pessimismus, Weltschmerz und Unentschlossenheit. Nicht selten betrifft die Verzärtelung ein einziges Kind. Wie oft sich da die Schädigungen der Verwöhnung mit jenen summieren, die aus der Furcht vor weiterem Nachwuchs entstehen, ist leicht einzusehen. Auch übertriebenes Autoritätsgelüste der Eltern wirkt schärfer, sobald es sich nicht auf mehrere Kinder verteilen kann, sondern bloß auf ein einziges drückt.
Nun gibt es gerade in Hinsicht auf die Ursachen der Verzärtelung eine Anzahl von Schwierigkeiten, zu deren Beseitigung ein besonders heller Blick der Eltern und hervorragendes erzieherisches Feingefühl gehören. So in dem Falle, wenn es sich um ein kränkliches oder krüppelhaftes Kind handelt. Wen rührt nicht der Gedanke an die Liebe und treue Pflege der Mutter am Bett des kranken Kindes! Und doch kann dabei leicht ein Übermaß von Zärtlichkeit einfließen, besonders dort, wo dauernd kränkliche Kinder oder die Erinnerung an verstorbene in Betracht kommen. Das Kind findet sich gern in dem Gedankengang zurecht, daß ihm die Krankheit zur »Sicherung« im Leben dienlich sein kann, daß sie ihm zu vermehrter Liebe, zur Schonung und zu mehreren anderen Vorteilen verhilft. Von den kleinen, aber für das spätere Leben oft so bedeutsamen Vergünstigungen, — im Bett der Eltern, in ihrem Schlafzimmer schlafen zu dürfen, beständig unter ihrer Obhut zu stehen, jeder Mühe überhoben zu werden, — bis zum Verlust jeder Hoffnung und jedes Wunsches nach selbständigem Handeln führt eine gerade Linie. Der Raub aller Lebenszuversicht, der an diesen von der Natur zurückgesetzten Kindern begangen wird, wirkt um so aufreizender, weil er oft nur mit Mühe umgangen werden kann. Aber so stark muß die Liebe und das erzieherische Pflichtgefühl sein, daß es auch um den Preis des eigenen Schmerzes den Krüppeln und Bresthaften zum Lebensmut und zum selbständigen Wirken und Ausharren verhilft.
Auch die Bevorzugung schöngebildeter und besonders wohlgeratener Kinder entspringt meist einer begreiflichen Stellungnahme der Eltern und Erzieher, geht aber oft, da unbewußte, unkontrollierte Gefühle des eigenen Stolzes mitsprechen, um ein Erhebliches zu weit. Man muß nur auch den Fehler zu vermeiden trachten, den gesunden und geratenen Kindern ihrer natürlichen Vorzüge wegen schärfer zu begegnen, wozu man sich manchmal aus übertriebenem Gerechtigkeitsgefühl gedrängt glaubt.
Nun gibt es eine Art der Bevorzugung, die mehr als alle anderen ins Gewicht fällt, die aus gesellschaftlichen, realen Ursachen hervorgeht, von den Eltern und Erziehern aber oft bedeutsam gefördert wird, so daß häufig genug nicht bloß das bevorzugte, sondern auch das zurückgesetzte Kind Schaden leidet. Ich meine die überaus großen Vorteile, deren sich im allgemeinen das männliche Geschlecht erfreut. Diese Vorteile beeinflussen das Verhalten der Eltern allzusehr, und es ändert an dem Schaden nur wenig, wenn Mädchen in der Familie keine Zurücksetzung erfahren. Das Leben und unsere gesellschaftlichen Zustände legen den Mädchen das Gefühl ihrer Minderwertigkeit so nahe, daß der Psychologe ausnahmslos die Regungen erwarten darf, die einer Reaktion auf dieses Gefühl der Zurückgesetztheit entspringen: Wünsche, es dem männlichen Geschlecht gleich zu tun, Widerstand gegen jeden Zwang, Unfähigkeit sich zu unterwerfen, sich zu fügen. Selbst bei der geeignetsten Erziehung wird sich des Mädchens, aber auch des mädchenhaften Knaben ein Gefühl der Unsicherheit, ein Hang zur Verdrossenheit, Unversöhnlichkeit und eine meist unbestimmte Empfindung von ängstlicher Erwartung bemächtigen. Die Einordnung in die Geschlechtsrolle geht unter ungeheurer Anspannung der Phantasie vor sich. Eine Phase der Undifferenziertheit (Dessoir) läßt regelmäßig Regungen erstarken, die eine Hast männlich zu werden verraten, stark, groß, hart, reich, herrschend, mächtig, wissend zu erscheinen, die von Furchtregungen begleitet werden, als deren psychologischen Ausdruck man eine gewisse Unverträglichkeit gegen Zwang, gegen Gehorsam, gegen Unterwerfung und Feigheit, kurz, gegen »weibliche« Züge finden wird. Alle Kinder nun, deren Undifferenziertheit länger und deutlicher zum Ausdruck kommt — psychische Hermaphroditen —, werden kompensatorisch als Gegengewicht gegen das wachsende Gefühl ihrer Minderwertigkeit negativistische Züge entwickeln, Knaben wie Mädchen, Züge von Trotz, Grausamkeit, Unfolgsamkeit, ebenso auch von Schüchternheit, Angst, Feigheit, List und Bosheit, oft ein Gemisch mehr oder weniger aggressiver Neigungen, die in den männlichen Protest genannt habe. So kommt ein aufgepeitschtes Verlangen in diese Kinderseelen, aus unbewußten Phantasien reichlich genährt: männlich zu scheinen und sofort den Beweis von der Umgebung zu verlangen. Und nie fehlt die Gegenseite dieses Verlangens: die Furcht vor der Entscheidung, vor der Niederlage, vor dem »Untensein«. Aus diesen Kindern werden die Stürmer und Dränger in gutem wie in schlechtem Sinne, die stets Verlangenden, nie Zufriedenen, hitzige, aufbrausende Kampfnaturen, die doch stets wieder an den Rückzug denken. Stets leiden ihre sozialen Gefühle, sie sind starre Egoisten, haben aber oft die Fähigkeit, ihre Selbstsucht vor sich und anderen zu verstecken, und arbeiten ununterbrochen an der Entwertung aller Werte. Wir finden sie an der Spitze der Kultur, ebenso im Sumpfe. Der größte Teil von ihnen scheitert und verfällt in Nervosität.
Ein Hauptcharakter ihrer Psyche ist der Kampf gegen das andere Geschlecht, ein oft heftig, oft still, aber erbittert geführter Kampf, dem stets auch Züge von Furcht sich beimengen. Es ist, als ob sie zur Erlangung ihrer erträumten Männlichkeit die Niederlage eines Geschlechtsgegners nötig hätten. Man glaube aber nicht, daß die Züge offen zutage liegen. Sie verstecken sich gewöhnlich unter ethische oder ästhetische Rücksichten und gipfeln in den Jahren nach der Pubertät in der Unfähigkeit zur Liebe und in der Furcht vor der Ehe.
Was können Eltern und Erzieher tun, um diesem Schaden vorzubeugen, der aus dem Umstände entspringt, daß das Kind die Frau und ihre Aufgaben geringer wertet? Die Wertdifferenz zwischen männlichen und weiblichen Leistungen in unserer allzusehr auf Werte erpichten Gesellschaft können sie nicht aus der Welt schaffen. Sie können aber dafür sorgen, daß sie im Rahmen der Kinderstube nicht allzu aufdringlich hervortritt. Dann wird die Angst vor dem Schicksal der Weiblichkeit nicht aufflammen können, und die Affekte bleiben ungereizt. Man darf also die Frau und ihre Aufgaben in der Kinderstube nicht verkleinern, wie es oft zu geschehen pflegt, wenn der Vater seine Männlichkeit hervorzuheben sucht, oder wenn die Mutter verdrossen über ihre Stellung im Leben zürnt. Man soll Knaben nicht zum Knabenstolz anhalten, noch weniger dem Neid der Mädchen gegenüber dem Knaben Vorschub leisten. Und man soll in erster Linie den Zweifel des Kindes an seiner Geschlechtsrolle nicht nähren, sondern von der Säuglingszeit angefangen seine Einfügung in dieselbe durch geeignete Erziehungsmaßnahmen fördern.
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1) Adler, Ausführlicher in ›Individualpsychologische Erziehung‹ (Praxis und Theorie der Individualpsydtologie, l. c.) beschrieben.