Wo soll der Kampf gegen die Verwahrlosung einsetzen?


(1921)

 

Die Frage dürfte den meisten Mitkämpfern überraschend kommen. Man wird antworten: an allen Punkten! Überall, wo sie sich zeigt! Mit allen Mitteln und unter Heranziehung aller Hilfsquellen! Mit Hilfe der Eltern, der Lehrer, der Fürsorger und der staatlichen Gewalten! Im Angriff gegen die gesunkene Lebenshaltung gewisser Bevölkerungsschichten und mittelst Hebung ihres moralischen Niveaus!

Die Erfüllung all dieser Forderungen ist ja seit längerer Zeit angebahnt. Den Eltern obliegt die Pflicht der Fürsorge als selbstverständliche Aufgabe. Die Schule wacht nicht nur über die Fortschritte des Wissens, sondern auch über den Stand des Fleißes und der Sitten. Mit Strafen und Strafandrohung bemühen sich die staatlichen Instanzen, die Jugendgerichte erweitern ihren Apparat, schaffen eine bessere Fürsorge und mildern die rauhen Maßnahmen der Besserungshäuser. Eine Anzahl von privaten und öffentlichen Vereinen sind unausgesetzt im Dienste dieser Aufgaben tätig.

Und alle Institutionen weisen auf ihre Erfolge hin, nur die Eltern, die Schule und — die Öffentlichkeit bleiben unbefriedigt.

Rechnen wir noch die zahlreicheren Erziehungsfehlschläge hinzu, die nicht die Öffentlichkeit, nur die Familie belasten, bis solch ein Gegenmensch ins reifere Alter kommt und der Gesellschaft zur Last fällt, als Verbrecher, Spieler, Trinker, als Ausreißer oder als Nervöser, hinzu auch noch die kaum geminderte Zahl der Rückfälligen und die stets neu nachwachsenden Verwahrlosten, so dürfte die Frage schon berechtigt erscheinen, an welcher Stelle der Angriff gegen die Verwahrlosung verstärkt werden müßte.

Die Eltern besser heranzuziehen, wäre eine dankbare, aber unergiebige Aufgabe. Der Mangel an Zeit und die Summe ihrer Vorurteile kämen immer wieder in die Quere. Auch gäbe es keine Instanz, nicht einmal einen Bruchteil geeigneter Kräfte, um diese Sisyphusarbeit zu leisten.

Die Rechtspflege, Jugendgericht, Fürsorge und Besserungsanstalten kommen immer erst nach geschehenem Unglück. Die in ihren Bereich gelangen, finden mehr oder minder günstige Gelegenheit, sich den Rückweg zur Gesellschaft zu bahnen.

Bleibt nur die Schule übrig. In ihrem heutigen Bestand ist sie machtlos im Kampfe gegen die Verwahrlosung. Sie kann die schlechten Einflüsse des Hauses und der Straße nicht bannen. Die allgemeine Schulpflicht führt notwendigerweise zu einer Berührung mit schlechten Elementen, deren Anziehungskraft unter gewissen, später zu erörternden Bedingungen nicht gering ist. Die Machtmittel der Schule erschöpfen sich in Strafen, schlechten Noten, Zuhilfenahme der hilflosen Eltern und Ausschließung im Falle ausgereifter, bekanntgewordener Missetaten. Korpsgeist der Klasse und listige Verschlagenheit hindern oft die Entdeckung von Vergehen. Die Berührung des Lehrers mit seinen Schülern ist meist eine wenig innige, und wenn er noch so scharfsichtig die Fehler sieht, die Ursachen bleiben ihm verborgen. Seine Erziehungskunst ist nicht systematisch geweckt, sein Verständnis der Kindesseele und seine Zeit reichen nicht aus, um dem wankenden Kinde beizuspringen.

Es ist aber leicht zu verstehen, daß die Schule die einzige Instanz wäre, die die Eignung hätte, der Verwahrlosung Einhalt zu gebieten. Freilich nicht in ihrer jetzigen Gestalt. Aber doch ohne umstürzende Eingriffe. Sie umfaßt die Gesamtzahl der Kinder und hält sie mehrere Stunden täglich in ihrer Obhut. Sie übernimmt die Kinder aus dem Elternhaus mit allen Fehlern, die sich immer wieder in der Schule äußern und zu auffälligen Erschwerungen führen. Sie verfügt über eine Unzahl von Menschen, die den Fragen der Erziehung näher stehen als jeder andere Stand und der weiteren Ausbildung am leichtesten zugänglich wären. Endlich liegt es im ureigensten Interesse der Schule, wenn sie ihrer Aufgabe genügen soll, Bildungsund Erziehungsstätte zu sein, ihre Erfolge in der Erziehung zu Mitmenschen und Mitarbeitern nicht durch umsichgreifende Verwahrlosung beeinträchtigen zu lassen.

Dazu kommt aber noch ein Umstand, der jedem Wissenden einen Entschluß in dieser Frage aufzwingt. Die Verwahrlosung beginnt bei Mißerfolgen in der Schule!

Diese auffällige Tatsache wird in ihrer Bedeutung bis heute vollkommen verkannt. Man hält es wohl für gleichbedeutend, daß ein Kind einerseits verwahrlost, andererseits die Aufgaben der Schule vernachlässigt, und man geht stillschweigend darüber hinweg wie über eine Selbstverständlichkeit, daß mißratene Kinder der Schule ausweichen.

Wie aber wäre der Eindruck, wenn sich herausstellte, daß Kinder verwahrlosen, weil sie vor ihren Aufgaben Reißaus nehmen?

Und in der Tat bietet sich dem tieferen Einblick dieses und nur dieses Bild.

Wer in der Kinderstube, in der Familie nicht für die Gesellschaft und für die Mitarbeit gewonnen wird, wird fortan auf unsozialen Wegen gefunden werden. Kann ihn die Schule auch nicht erlösen, erschwert sie ihm vielmehr wissentlich oder ohne ihr Wissen die Einkehr zur Mitarbeit, so leistet sie seinen Vorbereitungen zur Verwahrlosung Vorschub. Sie macht sich mitschuldig, wenn sie dem Kind die Abkehr von der Mitarbeit erleichtert. Es bleiben dann dem Kind nur wenige Möglichkeiten übrig. Unter ihnen ist die Verwahrlosung die greifbarste und verlockendste.

Die Aufgabe der Schule wäre es demnach, darauf zu achten, daß die Kinder vor den vorliegenden Forderungen nicht zurückscheuen. Schon das ist eine Aufgabe, die zu ihrer Lösung ein volles individualpsychologisches Verständnis erheischt. Denn die Ausbiegung des Kindes müßte, um glatt und ohne große Mühe erledigt zu werden, gleich im Anfang erkannt und kunstgerecht behandelt werden. Mit schlechten Noten und Strafen kommt man diesem Typus von Kindern nicht bei, der zur Verwahrlosung neigt.

Läßt sich aber dieser Typus frühzeitig feststellen? Und wenn dies der Fall ist, gibt es Zeichen und Ausdrucksbewegungen, an denen man ihn erkennt? Beide Fragen sind zu bejahen Ich habe ihn ausführlich mit allen seinen Erscheinungen beschrieben und es ist nicht meine Schuld, wenn er der Schule noch nicht geläufig geworden ist. In meinen Werken 1) findet er sich von allen Seiten mit allen seinen Folgen dargestellt.

An dieser Stelle kann ich nur eine kurze Charakteristik geben. Es handelt sich um eine große Zahl von Kindern, deren erste Kindheit sich in einer ungedeihlichen Situation abspielt. Durch den Druck der Umgebung, auch in Form von Verzärtelung, wird ihr Geltungsstreben hochgradig gereizt, so daß sie mit Ungeduld und innerem Zagen vor den Aufgaben ihres kleinen Lebens stehen. Sie brechen zusammen, werden faul und indolent, wenn sie Schwierigkeiten begegnen, suchen nach Ausflüchten oder werden menschenscheu und schüchtern. Immer sehen sie das Weltbild düster und pessimistisch, finden schwer den Zugang zu Kameraden und Erwachsenen, sind immer im Kampf mit ihrer Umgebung, der oft lautlos und im Verborgenen vor sich geht, denken immer nur an sich und nicht an die anderen und sind von einem andauernden Gefühl der Feindseligkeit erfüllt, das sie auch bei den anderen voraussetzen. Ihre Empfindlichkeit, oft der Wahrnehmung anderer entzogen, ist immer auf die Spitze getrieben. Ihre Sehnsucht geht nach Befriedigung einer durchaus unstillbaren Eitelkeit, ein meist unlösbares Problem, das sie zwingt, die normalen Wege zu meiden. Treten ihnen Schwierigkeiten entgegen, wie sie die Schule regelmäßig bietet, so kommt es zur Ausbiegung.

Unter ihnen gibt es viele, die sich so im Besitze einer freibleibenden Aktivität finden. Von ihrer Eitelkeit getrieben, werfen sie sich auf die Wege der Verwahrlosung, immer in gleichbleibender Distanz zu ihren wirklichen Aufgaben. Die unausgefüllte Zeit, die eigene Selbstgefälligkeit und die Gier, die Bewunderung Gleichgesinnter zu erzwingen, zwingt sie zur verbotenen Tat. Mut und Stärke verleiht ihnen das Bewußtsein geübter List und Verschlagenheit und die Erinnerung an ihre unentdeckt gebliebenen Missetaten.

Man wird nun verstehen, wie aus all den genannten Gründen und Zusammenhängen in unserer Kultur der Schule die Aufgabe zufällt, Schäden der Familienerziehung auszumerzen, insbesondere aber sie nicht zur Vollendung zu bringen.

Mit dieser Feststellung ist die Bedeutung der Individualpsychologie für die Lehrerausbildung unzweideutig dargetan, gleichzeitig mit der unausweichlichen Verpflichtung der Schule, im Kampf gegen die Verwahrlosung an den richtigen Platz zu rücken.

 

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1) Praxis und Theorie der lndividualpsychologie, l. c, und Über den nervösen Charakter, l. c.


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Seite zuletzt aktualisiert: 20.12.2009 
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