Die Theorie der Organminderwertigkeit und ihre Bedeutung für Philosophie und Psychologie


(1907)

 

Der Begriff der Minderwertigkeit ist sowohl in der Medizin als in der gerichtlichen Praxis seit langem in Verwendung. Man versteht darunter zumeist einen Zustand, der geistige Defekte aufweist, ohne daß man gerade von geistiger Krankheit sprechen könnte. Dieser Begriff enthält also ein Gesamturteil und eine herabsetzende Kritik über das Ganze einer Psyche. Die Minderwertigkeit, mit der ich rechne, betrifft das unfertige, in der Entwicklung zurückgebliebene, im ganzen oder in einzelnen Teilen in seinem Wachstum gehemmte oder veränderte Organ. Das Schicksal dieser minderwertigen Organe, der Sinnesorgane, des Ernährungsapparates, Atmungstraktes, Drüsen-, Harn-, Genitalapparates, der Zirkulationsorgane und des Nervensystems, ist ein ungemein wechselndes. Beim Eintritt ins Leben, oft nur auf kindlicher Stufe ist diese Minderwertigkeit nachzuweisen oder zu erschließen. Die Entwicklung und die Reizquellen des Lebens drängen auf Überwindung der Äußerungen dieser Minderwertigkeit, so daß als Ausgänge ungefähr folgende Stadien mit allen möglichen Zwischenstufen resultieren: Lebensunfähigkeit, Anomalien der Gestalt, der Funktion, Widerstands­unfähigkeit und Krankheitsanlagen, Kompensation (Ausgleichung) im Organ, Kompensation durch ein zweites Organ, durch den psychischen Überbau, Überkompensation im Organischen oder Psychischen.

Der Nachweis der Minderwertigkeit eines Organs ist am ehesten möglich, wenn in seinem morphologischen Aufbau eine vom Durchschnitte abweichende Form des ganzen Organs oder einzelner seiner Teile vorliegt, Abweichungen, die sich in die embryonale Zeit oder bis in die kindliche Wachstumsperiode zurückverfolgen lassen. Die gleiche Sicherheit gewähren Ausfallerscheinungen der Funktion oder Veränderungen der Ausscheidung; beiderlei Mängel, der eine ein solcher des Aufbaus, der andere eine Abänderung der Arbeitsweise, finden sich recht häufig vereint vor.

Ein weiterer Hinweis ergibt sich für eine Person aus Organminder­wertigkeiten seiner Blutsverwandten, die bei ihr nicht zu wahrnehmbarer Größe gekommen sind.

Hier muß ich eine biologische Erscheinung anführen, die in minderwertigen Organen zutage tritt, sobald unter dem Mangel der Gestalt oder der Funktion das vorauszusetzende Gleichgewicht im Haushalte des Organs oder Organismus gestört erscheint. Die unbefriedigten Ansprüche steigen so lange, bis der Ausfall durch Wachstum im minderwertigen Organ, im symmetrischen oder in einem andern Organ gedeckt wird, das ganz oder teilweise eine Stellvertretung ausüben kann. Diese Tendenz zur Deckung des Defekts durch Wachstums- und Funktionssteigerung, Kompensation, kann unter günstigen Umständen bis zur Überkompensation gelangen, und sie wird zumeist auch das Zentralnervensystem in seine gesteigerte Entwicklung mit einbeziehen.

Bei der Unsumme von Erscheinungsweisen, die dem minderwertigen Organ eigen sind, erscheint eine Orientierung nicht leicht. Doch gibt es eine Anzahl von Merkzeichen, deren Zusammenhang sich leicht erweisen läßt, so daß auch vereinzelte davon für die Erkennung von Bedeutung werden.

So die Lokalisation einer Erkrankung in einem Organ, die eine der Erscheinungsweisen der Organminderwertigkeit darstellt, sobald das minderwertige Organ auf sogenannte »krankmachende Reize« der Umgebung reagiert. Es soll diese Formulierung: die Krankheit ist eine Resultierende aus Organminderwertigkeit und äußeren Angriffen, den dunklen Begriff der »Disposition« ersetzen. Die eine der Komponenten, äußere Beanspruchungen, hat eine beschränkte Beständigkeit für kurze Zeit und für einen bestimmten Kulturkreis. Die daran vorgenommenen Änderungen sind kultureller Fortschritt, Änderungen der Lebensweise, soziale Verbesserungen, sind Werke des menschlichen Geistes und halten auf die Dauer jene Richtung ein, durch die allzu große Anspannungen der Organe hintangehalten werden. Sie stehen also in Beziehung zu den Entwicklungsmöglichkeiten der Organe und ihres nervösen Überbaues, arbeiten auf die gleichmäßige Entwicklung aller hin, sind aber andererseits Bedingung für die relative Minderwertigkeit, sobald ihre Anforderungen ein gewisses Maß überschreiten. In dem ganzen Kreis dieser Beobachtungen erscheint der Zufall als Korrektur der Entwicklung ausgeschlossen. Ein leicht zu durchschauendes Beispiel wäre die Beobachtung Professor Habermanns, nach der Angehörige von Berufen, in deren Betätigung heftige Schallwirkungen das Gehör treffen, z. B. Schmiede, Kanoniere, leicht von Ohrenerkrankungen befallen werden. Es ist leicht einzusehen, daß sich nicht jeder Gehörapparat zu diesen Berufen eignet; daß derartige Verletzungen eines Organs zu technischen Betriebsänderungen regelmäßig den Anstoß geben; daß die dauernde Ausübung gewisser Berufe die in Anspruch genommenen Organe verändert; und daß auf dem Wege zur Vollxvertigkeit gesundheitliche Gefahren bestehen.

Zusammenfassend können wir von Hygiene und Krankheitsverhütung sagen, daß sie diesen Bedingungen des Ausgleichs gehorchen, und ebenso sind alle unsere Heilmethoden auf den Ausgleich der sichtbar gewordenen Organminderwertigkeit gerichtet.

Eine gesonderte Betrachtung des durch Erkrankung geschädigten Organs, der zweiten Komponente, ergibt unter Berücksichtigung der pathologischen Forschung und der weiter unten folgenden Zusammenhänge die Vorbestimmung des von Geburt aus minderwertigen Organs für die Krankheit. — Die angeborenen Anomalien der Organe halten sich in einer Reihe, auf deren einem Pole die angeborene Mißbildung, an deren anderem die langsam reifenden, sonst normalen Organe stehen. Dazwischen liegen reine, kompensierte und überkompensierte Minderwertigkeiten. Die Frage nach dem ersten Beginn der Organminderwertigkeit ist gewiß von tiefer biologischer Bedeutung. Heute indes haben wir es bereits mit ausgeprägten Variationen zu tun und insbesondere bei den menschlichen Organen mit Abänderungen, die von meinem Standpunkte aus als angeborene Minderwertigkeiten zu deuten sind. Dieser Zusammenhang von Erkrankung und embryonal minderwertigem Organ läßt den Schluß zu, daß in der Verwandtschaft in aufsteigender Linie bereits, also am Stammbaume der Familie, der Grund zur Minderwertigkeit gelegen ist, d. h. daß die Minderwertigkeit des Organs erblich ist.

Bei den starken Beziehungen zwischen Minderwertigkeit und Krankheit ist demnach zu erwarten, daß recht häufig der ererbten Minderwertigkeit die ererbte Krankheitsbereitschaft entspricht. Und so wird auch die Krankheit an einem Gliede des Stammbaumes zum Merkmal der Organminderwertigkeit für die nächsten Vorfahren und Nachkommen, mögen diese selbst auch gesund geblieben sein. Gleichzeitig mit der Organminderwertigkeit oder der Tendenz zu dieser gehen in die Keimsubstanz aber auch die Tendenzen ihrer Überwindung (Kompensationsbestrebungen) ein, die wieder neue und leistungsfähigere Varianten schaffen, leistungsfähiger deshalb, weil sie aus der Überwindung der äußeren Beanspruchungen ihren Kraftzuwachs bezogen haben.

Ich kann mich wegen der weiteren Merkmale der Organminderwertigkeit darauf beschränken, zusammenfassend hervorzuheben, daß sie untereinander die gleichen Beziehungen haben wie zu Krankheit, Erblichkeit und Kompensation, wie die morphologischen angeborenen Anomalien, die Entartungszeichen, Muttermale oder Stigmen, von welchen ich behauptet habe, daß sie nicht selten als äußerlich sichtbare Zeichen die Minderwertigkeit des zugehörigen Organs, des Auges, des Ohres, des Atmungs- und Ernährungstraktes usw. verraten, während sie bisher als bedeutungslos abgelehnt wurden oder mit Unrecht als Zeichen einer allgemeinen Degeneration oder Minderwertigkeit eingeschätzt wurden. In ihrem weitesten Ausmaß liefern sie das Material der persönlichen Physiognomie.1)

Ebenso kurz kann ich mich über die Reflexanomalien aussprechen, von welchen besonders die dem Organ zugehörigen Schleimhautreflexe als ursprüngliche nervöse Leistungen des Organs einen Leitfaden zur Auffindung der Organminderwertigkeit abgeben können, sobald sie sich als mangelhaft oder gesteigert erweisen.

Es lag nun angesichts der embryonalen Herkunft der Organminderwertigkeit nahe, die Aufmerksamkeit auf die Anfänge der Entwicklung nach der Geburt zu richten, in der Voraussicht, daß das Einsetzen der Kompensation nicht ohne auffällige Störung zustande käme, daß andererseits bei fertiger Kompensation das Bild der Organminderwertigkeit verwischt würde. — Tatsächlich hat uns diese Annahme nicht betrogen. Das minderwertige Organ braucht länger, um zur normalen Punktion zu gelangen und macht dabei eine Anzahl Störungen durch, deren Überwindung nur auf dem Wege gesteigerter Hirnleistung gelingt. Anstatt einer weitläufigen Beschreibung dieser Funktionsanomalien hebe ich hervor, daß es sich dabei um auffallende Erscheinungen im Kindesleben handelt, von welchen die Pädagogen einen Teil »Kinderfehler« nennen. Es handelt sich dabei um Kinder, die schwer sprechen lernen, die Laute andauernd falsch bilden, stottern, blinzeln, schielen; die Gehörfunktion, die Ausscheidungen sind längere Zeit mangelhaft, sie erbrechen, sind Daumenlutscher, schlechte Esser usw.2) Zuweilen zeigen sich diese Kinderfehler nur spurenweise, meist aber ganz deutlich und vereint mit den übrigen Zeichen der Organminderwertigkeit, mit Degenerationszeichen, Reflexanomalien und Erkrankung. Oder die genannten Merkmale sind bunt am Stammbaum zerstreut und beweisen so die Heredität der Organminderwertigkeit. Der Kinderfehler ist recht häufig selbst erblich.

Ich muß hierbei bemerken, daß die Beobachtung eine ungeheure Häufigkeit von Kinderfehlern ergibt, die aber nur der großen Anzahl minderwertiger Organe entspricht. Eine einheitliche Erklärung der Kinderfehler wurde bisher nicht gegeben. Vom Standpunkt der Organminderwertigkeitslehre aus ist eine Einsicht möglich: der Kinderfehler ist der sichtbare Ausdruck einer geänderten Betriebsweise des minderwertigen Organs, der sichtbare Ausdruck, neben dem es noch mehr oder weniger verborgene Phänomene gibt, die allen Abstufungen oder Minderwertigkeit entsprechen.

Der organisch erschwerten Einfügung in das Leben entsprechen seelische Schwierigkeiten. Im Kampfe mit diesen und zu ihrer Überwindung entstehen seelische Haltungen, auffallende Charakterzüge besonderer Art, ebenso Ausdrucksformen, die allesamt bald Vorzüge, bald Nachteile bedeuten können. An diesem Punkte ist der Übergang von körperlichen zw seelischen Erscheinungen einzig zu erfassen.

Ist es nun schon bei den Reflexanomalien der Schleimhäute sichergestellt, daß sie einen Zusammenhang mit der Seele besitzen, so gilt dies für die Kinderfehler noch in höherem Maße. Zumeist scheint das normale Wachstum der übergeordneten Nervenbahnen, einfache Wachstumskompensation, zu genügen, um die normale Funktion herbeizuführen. Dabei bleibt aber die Organanomalie die gleiche, und wenn wir mit geschärfter Aufmerksamkeit und Beobachtung an eine Prüfung gehen, so finden wir sehr häufig untilgbare Reste für das ganze Leben. Oder der Fehler ist für die Norm überwunden, stellt sich aber bei psychischen Anspannungen sofort wieder ein, so daß von einer Kontinuität des Zustandes gesprochen werden muß, der nur zur Zeit der Ruhe verdeckt wird. Solche Beispiele einer verdeckten Schwäche sind häufig: Blinzeln im hellen Licht, Schielen bei Naharbeit, Stottern in der Aufregung,3) Erbrechen im Affekte usw. — Dadurch findet die Vermutung, zu der wir von anderer Seite her gekommen sind, ihre Bestätigung, die Kompensation erfolge durch Mehrleistung und Wachstumsschub des Gehirns. Daß diese Verstärkung des psychischen Überbaues gelingt, zeigt der Erfolg; daß er im Zusammenhang mit einer ständigen Übung steht, ist leicht zu erraten. Als anatomische Voraussetzung können wir nach Ähnlichkeiten nur annehmen: leistungsfähigere und vermehrte Nervenelemente. — Also auch im Zentralnervensystem herrschen die gleichen Beziehungen von Minderwertigkeit und Kompensation, ebenso wie der beigeordnete krankhafte Einschlag zuweilen deutlich wird. Es gibt eine Anzahl von Hinweisen, wie die v. Hansemanns, der angeborene pathologische Veränderungen in den Gehirnen bedeutender Männer nachwies.

Steht so die Gehirnkompensation mit der Organminderwertigkeit im Zusammenhang, so ist es klar, daß gewisse, dem Organe zugehörige Verknüpfungen mit der Außenwelt auch im Überbau ihr psychisches Korrelat finden müssen; daß den ursprünglich minderwertigen Augen im Überbau ein verstärktes Schauleben entspricht usw.

In Verfolgung dieses Gedankenganges gelangt man zur Annahme, daß in günstig gelegenen Fällen das minderwertige Organ den entwickelteren und psychisch leistungsfähigeren Überbau besitzt, dessen psychische Phänomene, was Trieb, Empfindung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, innere Anschauung, Einfühlung, Bewußtsein anlangt, reichlicher und entwickelter sein können. Ein minderwertiger Ernährungsapparat wird im günstigen Falle die größere psychische Leistungsfähigkeit in allen Beziehungen zur Ernährung aufbringen, aber auch, da sein Überbau dominiert und die andern psychischen Komplexe in seinen Bereich zieht, in allen Beziehungen des Erwerbes von Nahrung. Der Nahrungstrieb wird so sehr vorherrschen, daß er in allen persönlichen und sozialen Beziehungen zum Ausdrucke kommen kann, als Feinschmeckerei, als Erwerbseifer, als Sparsamkeit und Geiz usw. So auch bei den anderen minderwertigen Organen, die zu einem ausgebreiteteren, abgestufteren Empfindungsleben führen und zu einer sorgfältigeren und richtigeren Abtastung und Abschätzung der Welt, soweit sie dem betreffenden Organ zugänglich ist.

Durch diesen Vorgang bilden sich psychische Achsen aus, nach welchen das Individuum gerichtet ist, immer in Abhängigkeit von einem oder mehreren minderwertigen Organen. Auch im Traume und in der Phantasie, in der Berufswahl und in der Neigung wird das intensivere Streben eines speziellen Organs nach Bewältigung seiner Aufgabe bemerkbar. Die primitive Organbetätigung (Trieb) ist besonders beim minderwertigen Organ häufig mit Lust verknüpft. Darauf weisen manche der Kinderfehler mit solcher Deutlichkeit hin, daß sie mit Unrecht als sexuelle Betätigung angesehen wurden. Kehrt nun, wie fast regelmäßig im Traume, in der Phantasie der primitive Trieb des Organs immer wieder, so müssen wir auch hier (unter anderem) eine Forderung nach diesem Lustgewinn erblicken. Wenn man diesen Gedanken weiter verfolgt, so gelangt man schließlich zur Vermutung, daß der psychische Organüberbau größtenteils Ersatzfunktion besitzt für die Mängel des Organs, um im Verhältnisse zur Außenwelt seinen Aufgaben zu genügen.

Hier rührt die Organminderwertigkeitslehre an Probleme der Philosophie. So in der Frage der geistigen Entwicklung, für die eine Kontinuität sichtbar wird gleichwie für die Triebe und Charakteranlagen. Und dies beim einzelnen wie bei der Gesamtheit. Ist Philosophie die wissenschaftliche Zusammenfassung aller Beziehungen psychischer Leistungen, so wird es begreiflich, daß die jeweilige Stufe des Denkens, damit auch der jeweilige Stand der Philosophie durch die Abänderung der Organe und durch die zu leistende Gehirnkompensation bedingt ist. Ihre Entwicklung und Änderung der Grundlagen ist demnach begründet in der Entwicklung und Änderung des Überbaus der variierenden Organe. Da letztere den Anstoß zu ihrer Minderwertigkeit aus der umgebenden Außenwelt erleiden, so erfolgen die Änderungen der Außenwelt, Organminderwertigkeit und entsprechende, verbessernde Hirnkompensation mit wechselseitiger Beeinflussung.

Auch auf die Entstehung hochkultivierter psychomotorischer Leistungen, auf Herkunft und Entwicklung der Sprache, der Künste auf das Wesen des Genies, auf die Geburt philosophischer Systeme und Weltanschauungen scheint mir diese Betrachtungsweise anwendbar, und ich hoffe von ihr, daß sie sich auch bei der Erfindung neuer Aufgaben und ihrer Lösungen bewähren wird. Sie zwingt uns, vielleicht deutlicher als jede andere Betrachtungsweise, die Klippen der Abstraktion zu vermeiden und die Erscheinungen im Zusammenhange und im Flusse zu beobachten. In der medizinischen Wissenschaft bin ich dieser Betrachtungsweise nachgegangen. Vielleicht darf ich hoffen, daß meine bescheidene Anregung auch anderwärts Anklang findet.

Das in der Gehirnkompensation gegründete Weltbild kann sich nicht schrankenlos entfalten. Weder in seinen Trieben, noch in seinem bewußten und unbewußten Anteil ist es frei. Sondern seine Äußerungen sind durch das soziale Milieu, durch die Kultur, eingeschränkt, die durch das Mittel des Selbsterhaltungstriebs und des Persönlichkeitsideals nur dann den Äußerungen der Psyche die Entfaltung gestattet, wenn sie sich dem Rahmen der Kultur einfügen können. Auch in diesem Falle gestattet sich der verstärkte Überbau des minderwertigen Organs andere, oft neue und wertvolle Betriebsweisen. Allerdings oft auch krankhafte wie bei den Neurosen.

Ein junger Mann aus reichem Hause kam wegen Angst- und Zwangsvorstellungen in die Behandlung. Zudem litt er an Appetitmangel und Verdauungsbeschwerden, für die sich eine organische Ursache nicht nachweisen ließ. Als minderwertig konnte in erster Linie der Ernährungstrakt entlarvt werden. Entsprechend der eingangs angeführten Skizze meiner Organminderwertigkeitslehre lassen sich folgende Daten beibringen:

1. Frühere Erkrankung des Patienten, Magen- und Darmstörungen bedrohlicher Natur im ersten und zweiten Lebensjahr.

2. Heredität. Der Großvater väterlicherseits starb an Magenkrebs. Der Vater ist ein starker Esser, sehr geiziger Charakter, der es durch seilten intensiven Erwerbssinn zu großem Reichtum gebracht hat.4) Die Mutter leidet an hysterischen Magendarmbeschwerden. Die Geschwister zeigen Züge von Geiz und sind fast ausnahmslos starke Esser; Darmerkrankungen sind bei ihnen öfters verzeichnet. 3. Periphere Degenerationszeichen: Auffallender Schief stand der Zähne, Prognathie. 4. Kinderfehler: Daumenlutscher bis ins hohe Kindesalter. — Ein Detail aus seiner Individualpsychologie soll uns den geistigen Grundcharakter des Patienten und dessen Verwandlung zeigen. Eines Tages überbrachte der Patient einem Wohltätigkeitsvereine in Mariahilf ein Geschenk von 200 Kronen. Dies erzählte er mir anschließend an die Mitteilung, daß er sich heute wieder besonders schlecht befinde. Er fährt dann fort: »Vielleicht habe ich mich so schlecht befunden, weil ich schon hungrig war, als ich in Mariahilf die Spende abgab. Es war bereits Mittag vorüber, und ich hatte noch nicht gegessen. Für 12 Uhr hatte ich eine Zusammenkunft in einem (nebenbei bemerkt teuren) Restaurant vereinbart und ging nun in schlechter Verfassung den (langen) Weg in die Stadt.« — Die Erklärung für das nervöse Unbehagen ergab sich leicht. Wer diese Erzählung anhört, hat in den Ohren ein Gefühl wie bei einer Dissonanz. Ein reicher Mann, der reichlich zu schenken pflegt, in vornehmen Restaurants speist, starkes Hungergefühl hat und zu Fuß einen längeren Spaziergang macht — darin liegt wohl eine starke Unstimmigkeit, die sich nur ausgleichen läßt, wenn wir annehmen, der Patient sei ebenso geizig wie sein Vater, seine hohe Kultur gestatte ihm aber nicht, von diesem Geiz Gebrauch zu machen. Nur wo er nicht gegen die Kultur verstößt — Ersparnis von einigen Hellern, die er, wenn es nötig ist, mit gesundheitlichen Gründen rechtfertigen kann —, ist die Äußerung dieser Anlage möglich. Sonst benimmt er sich äußerst freigebig, nicht ohne seine Freigebigkeit jedesmal mit einem nervösen Anfall zu bezahlen.

Der Fall ist imstande, uns über die Grenzen psychischer und motorischer Äußerungen der Kompensation zu belehren, die durch die Kultur der anderen, durch das Gemeinschaftsgefühl gegeben sind. Gleichzeitig zeigt er uns die (scheinbare) Vererbbarkeit psychischer Eigenschaften auf Grundlage der minderwertigen Organe. Nebenbei kann ich an diesem Fall zeigen, was Freud in Wien unter dem »Verdrängungsmechanismus« meint. Wie aus der Organminderwertigkeitslehre hervorgeht, zielt der Verdrängungs­mechanismus auf eine Hemmung des Überbaus minderwertiger Organe und seiner Äußerungen; er ist gleichsam die Bremsvorrichtung bei der Entwicklung unbrauchbarer oder noch nicht reifer Betriebsweisen aus der Überkompensation. Daß dabei eine Charakteranlage, ein Trieb, ein Wunsch, eine Vorstellung in die Kontraststellung geraten, sich durch ihre Antithese äußern, stellt einen Spezialfall vor und erinnert einigermaßen an die Hegelsche Dialektik.

Sucht sich aber die Überkompensation in kultureller Weise geltend zu machen, schlägt sie neue, wenn auch schwierige und oft gehemmte Wege ein, so kommt es zu den ganz großen Äußerungen der Psyche, wie wir sie dem Genie zusprechen müssen. Lombroso hat sich in seiner Lehre vom Genie an die Mischfälle gehalten und ist dadurch zu seiner unrichtigen Auffassung des pathologischen Genies gekommen. Nach unseren Darlegungen ist das minderwertige Organ keine pathologische Bildung, wenngleich es die Grundbedingung des Pathologischen vorstellt. Der Antrieb zur Gehirnkompensation kann in günstigen Fällen mit Überkompensation enden, der alles Krankhafte fehlt.

Das Schicksal der Überkompensation ist an mehrere Bedingungen geknüpft, also überbestimmt. Als dieser Bedingungen eine haben wir die Schranken der Kultur, das Gemeinschaftsgefühl kennengelernt. Eine andere Determination ist die Ankettung des dominierenden Überbaus an andere psychische Felder, des visuellen Überbaus an den akustischen, an den Überbau der Sprachorgane. Diese mehrfachen Kompensationen, ihre Verschränkungen und gegenseitigen Hemmungen geben eigentlich erst das Bild der Psyche, deren Analyse uns wieder Grade der Kompensationen, Innigkeit und Gegensätzlichkeit in ihrer Verknüpfung und der einschränkenden Einflüsse der Kultur erkennen läßt. Besonders zu Unfällen geneigt sind starke Verknüpfungen mit hochentwickelten Betätigungs­neigungen, die, nach meinen Untersuchungen, den Überbau der Primärtriebe verbindend zur Entwicklung kommen, und ebenso dominierende Einflüsse des Ehrgeizes und Machtstrebens; beide sind allerdings bei günstiger Konstellation unter Leiden zu den bedeutendsten Leistungen ausersehen.

Als dritte Bedingung für das Schicksal einer Überkompensation ist ihre Widerstandsfähigkeit oder Hinfälligkeit zu betrachten. Recht häufig mißlingt der Natur die Korrektur des minderwertigen Organs, sie schafft dann leicht vergängliche, den Angriffen leicht erliegende Kompensationen. Unfähigkeit, Neurose, psychische Erkrankungen, kurz pathologische Gestaltungen können dabei zutage kommen. Ein kleiner Ausschnitt aus der Analyse der Paranoia mag ein Bild davon geben. Die Überkompensation des minderwertigen Sehapparates spielt neben der anderer Apparate eine hervorragende Rolle. Der Schautrieb z. B. ist bei einem großen Teile der Paranoiker zu großer Entwicklung gelangt und hat alle Sehmöglichkeiten der Welt erschöpft. Da tritt eine ungünstige Konstellation, eine Niederlage ein, die Schwäche der Überkompensation äußert sich in halluzinatorischen Ausbrüchen, visuellen Erscheinungen, die den Verstand konstituierenden Kräfte zeigen bald eine ähnliche Hinfälligkeit, der Patient sieht sich als das Objekt des Schautriebs anderer, und die Konstituierung des Größen- und Verfolgungswahns nimmt unter Anknüpfung an die Anlagen des Aggressionstriebs ihren Anfang. Das Gegenstück soll ein winziger Ausschnitt aus der Psyche eines Dichters zeigen, den ich dem Wiener Schriftsteller Rank, einem Kenner meiner Anschauungen verdanke. Ich muß vorausschicken, daß ich insbesondere dem dramatischen Dichter eine besondere und eigenartige Überkompensation des Sehorgans zusprechen muß, in der seine szenische Kraft, die Auswahl und Gestaltung seiner Stoffe, begründet ist. In dem Drama vom Schützen Tell 5) finden wir eine gehäufte Zahl von Anknüpfungen an die Überkompensation des Sehapparates, einzelne Wendungen, Gleichnisse, die das Auge in seiner Funktion betreffen. (Auch die Volksmythen haben sich seit undenklichen Zeiten dieser Erscheinung des minderwertigen Apparates und seiner Überkompensation bemächtigt, und der Mythos vom blinden Schützen, der immer sein Ziel trifft, dürfte mit der Teilsage einige Verwandtschaft besitzen.) — Für die Beziehung des Dramatikers Schiller zum Sehapparat und zu seinen Funktionen will ich noch auf die Blendung Melchthals und den Hymnus auf das Licht der Augen im »Tell« hinweisen. Was das Sehorgan des Dichters anlangt, kann ich mich darauf berufen, daß er schwache Augen hatte, an Augenentzündungen litt und den Kinderfehler des Blinzeins bis zum Mannesalter besaß. Für die Jagd hatte er großes Interesse. Weltrich erzählt, und dies wäre für die Heredität bemerkenswert, daß die Familie Schiller ihren Namen wegen des Schielens erhalten habe. — Ich erwähne dies kleine abschließende Detail nicht zum Zwecke einer Kunstbetrachtung, sondern um auf die Beziehungen des Künstlers zum minderwertigen Organ aufmerksam zu machen.

Es darf uns nicht wundernehmen, daß die Merkmale des minderwertigen Sehapparates insbesondere bei Malern 6) eine große Rolle spielen. Ich habe in meiner Schrift 7) einiges darüber mitgeteilt. Guernico da Centa, 15. Jahrhundert, erhielt seinen Namen, weil er schielte. Piero de la Francesca soll nach Angabe Vasaris im Alter erblindet sein. Ihm wird besonders die Kunst der Perspektive nachgerühmt. Von neueren ist Lenbach zu erwähnen, der einäugig war, der ungemein kurzsichtige Mateyko, Manet, der astigmatisch war, usw. Untersuchungen in Malerschulen haben ca. 70% Augenanomalien ergeben.

Daß Redner, Schauspieler, Sänger die Zeichen der Organminderwertigkeit aufweisen, habe ich sehr häufig gefunden. Von Moses berichtet die Bibel, er habe eine schwere Zunge besessen, seinem Bruder Aron war die Gabe der Rede verliehen. Demosthenes, der Stotterer, wurde zum größten Redner Griechenlands, und von Camille Demoulin, der im gewöhnlichen Leben stotterte, berichten seine Zeitgenossen, daß seine Rede wie geschmolzenes Gold dahinfloß.

Ähnlich bei den Musikern, die ziemlich oft an Ohrenleiden erkranken. Beethoven, Robert Franz, Smetana, die das Gehör verloren, seien als bekannte Beispiele hierher gesetzt. — Klara Schumann berichtet aus ihrem Leben über kindliche Gebrechen der Hör- und Sprachfähigkeit.

Weit entfernt, all diese Details als vollen Beweis anbieten zu wollen, bezwecken diese Ausführungen bloß, die Aufmerksamkeit der Leser auf den weiten Rahmen der Organminderwertigkeitslehre und auf ihre Beziehungen zur Philosophie, Psychologie und Ästhetik zu lenken.

 

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1) Jüngst hat Kretschmer hierzu wertvolle Belege geliefert.

2) Bezüglich der Vererbbarkeit solcher Erscheinungen s. Friedjung Ernährungs­störungen und Konstitution. In: Zeitschr. f. Kinderheilkunde, 1913.

3) Auch das Gegenteil: Aufhören des Stotterns im Affekt kommt vor.

4) Solche Menschen (mit Magendarmstörungen behaftet oder auffallend starke Esser mit deutlichen Zügen von Geiz und Rücksichtslosigkeit und besonderer Befähigung zum Erwerb) stellen einen öfters vorkommenden Typus dar. Sie erinnern, wenn man Kleines mit Großem vergleichen darf, an Napoleon, in dessen Familie der Magendarmkrebs erblich war.

5) Auch in vielen Gedichten Schillers.

6) Siehe auch den Essay Kunst und Auge von J. Reich. In: Österreichische Rundschau. Wien 1908. Ferner: Mutschmann, Der andere Milton.

7) A. Adler, Studie über die Minderwertigkeit von Organen. München 1927.


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