Über neurotische Disposition


Zugleich ein Beitrag zur Ätiologie und zur Frage der Neurosenwahl

(1909)

 

Die individualpsychologische Methode hat uns befriedigende Aufklärungen über das Wesen der Neurosen, über den Aufbau ihrer Symptome und über die Mittel einer souveränen Therapie gebracht. Das scheinbar sinnlose Verhalten der Neurasthenie, der Degenerationspsychose, der Zwangsneurose, der Hysterie, der Paranoia usw. erscheint verständlich und wohl determiniert. Die Leistungen genialer Menschen, verbrecherische Handlungen, Schöpfungen der Volkspsyche sind der psychologischen Analyse zugänglich und zeigen sich in ihrer psychischen Struktur vergleichbar mit dem Aufbau der neurotischen Symptome. Diese Vergleichbarkeit der psychologischen Ergebnisse und deren erstaunliche Identität geben dem Forscher eine solche Sicherheit auf dem nicht unschwierigen Gebiete der Neurosenlehre, daß er auch gegenüber starken Einwänden einer berufenen Kritik nicht aus dem Takte käme. Wieviel weniger gegenüber ungerechtfertigten Lamentationen oder unberufener Aburteilung!

Die starken Positionen in der Neurosenforschung lassen sich deutlich auf die ontogenetische, individualpsychologische Betrachtungsweise zurückführen. Diese Richtung betrachtet das Symptom sowie den neurotischen Charakter nicht bloß als Krankheitsphänomen, sondern vor allem als Zeichen einer individuellen Entwicklung und sucht sie aus den Erlebnissen und Phantasien des Individuums zu verstehen. Das rätselhafte Bild der Neurose und ihrer Erscheinungsformen fesselte wohl seit jeher die Aufmerksamkeit der Beobachter. Aber erst mit der Individualpsychologie begann der erste Schritt der Rätsellösung, der die individuellen Eindrücke und das Weltbild, die Stellungnahme des Kranken in Rechnung zog, um daraus das Verständnis für das Rätselvolle, zu gewinnen. Die medikamentöse und physikalische Behandlung erwiesen sich als überflüssige Notbehelfe, ihre zuweilen günstigen Erfolge als Wirkungen psychischen Einflusses von meist geringer Dauer und Ergiebigkeit. Doch soll nicht außer acht bleiben, daß die Zeit, »die alle Wunden heilt«, unabhängig von Medikamenten und Kaltwasserkuren, zuweilen psychische Schäden auszugleichen vermag, ebenso wie das Leben manches wieder gut macht, was es an einer Person verbrochen hat. Zahlreiche Menschen weisen die Bedingungen der Neurose auf, ohne ihr zu verfallen, weil sie von rezenten Anlässen verschont bleiben und so, wenn auch oft mühsam, das psychische Gleichgewicht aufrechterhalten können.

Da liegt es nun nahe, den Vergleich mit der gesunden Psyche zu ziehen, um der Frage näher zu kommen, was macht einen Menschen neurotisch? Anfangs schien es und scheint es wohl jedem, als ob besondere Erlebnisse oder Phantasien in den Kinderjahren den Anstoß zur Entwicklung der Krankheit gäben. Und tatsächlich hoben die ersten Untersucher auf dem Boden der Psychoanalyse, insbesondere Freud und Breuer, hervor, daß der traumatische Einfluß eines sexuellen Erlebnisses mit seinen direkten und indirekten Folgen der Verdrängung und der Verschiebung, unter den Ursachen der Neurose die erste Rolle spiele. Die Erweiterung dieser Lehre ging dahin, die »sexuelle Ätiologie« für alle Neurosen als ausschlaggebend hinzustellen und den Hinweis auf den allgemeingültigen Einfluß der Sexualentwicklung auch für den Normalen mit dem Argumente zu entkräften, daß die »sexuelle Konstitution«, also eine biologische Nuance des Sexualtriebes, die letzte Wurzel der Neurose bilde, die sich im Zusammenhange mit sexuellen Kindheitseindrücken unter dem Einfluß einer abnormen Verteilung der Libido und bei Eintritt einer auslösenden Konstellation einstellt.

Was aber die sexuellen und anderen Kindheitseindrücke anlangt, die durch die Untersuchung des Neurotikers zutage gefördert werden, sind sie in Grad und Umfang von denen der Normalen nicht sonderlich verschieden. Man findet einmal mehr, ein andermal weniger davon, immer aber ein Maß, das von den Gesunden auch erreicht wurde. Was nur so lange im dunkeln bleiben konnte, so lange nicht eine ausgiebige Kinderforschung und vor allem die analytische Schulung den Blick für diese Geheimnisse geschärft hatte. Ich möchte diese Einsichten durch folgende zwei Fälle aus meinen letzten Erfahrungen verstärken:

Ein 4½jähriger Knabe, körperlich und geistig tadellos entwickelt, dessen Gehaben durchaus keine auffallende Bevorzugung eines der Eltern erkennen läßt, wendet sich mit dem Wunsche an die Mutter, er möchte einmal im Bette des Vaters schlafen, der Vater könne ja im Kinderbett schlafen. Die Mutter, eine ausgezeichnete Beobachterin ihres Kindes, findet den Wunsch des Kindes auffallend und versucht dessen tieferen Sinn zu ergründen. »Das geht nicht«, sagt sie zu dem Knaben, »der Vater kommt immer spät und müde aus dem Bureau nach Hause. Da will er seine Ruhe und sein eigenes Bett haben. Aber ich werde dich in meinem Bette schlafen lassen, und will mich an deiner Stelle ins Kinderbett legen.« Das Kind schüttelt den Kopf und erwidert: »Das will ich nicht. Aber wenn der Vater in seinem Bette schlafen muß, so kann ich ja bei dir in deinem Bett liegen.«

Ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, daß die Betten des Ehepaares nebeneinander stehen. Was wir sonst aus diesem Falle noch entnehmen können, ist die Courage des Jungen, seine ruhige Energie, mit der er nach Befriedigung seines Zärtlichkeitsbedürfnisses strebt und der männliche Mut, mit dem er sich an die Stelle des Vaters zu setzen sucht. Ich erinnere hier an meine Arbeit über den »Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose«, wo ich als den Mechanismus der Neurose die »Aggressionshemmung« hingestellt habe. In unserem normalen Falle sehen wir kaum eine Spur einer Hemmung, sondern der Knabe versucht zielbewußt seinen Wunsch, bei der Mutter zu liegen, durchzusetzen, kommt auch leicht darüber hinweg, als sein Versuch fehlschlägt, und wendet sich anderen Wünschen zu. Nebenbei ist er gut Freund mit dem Vater und hegt keinerlei Rachegedanken gegen ihn.

Und doch konnte die Mutter kurze Zeit hernach feststellen, daß der kleine Junge bereits an der Lösung des Sexualproblems arbeitete. Fritz begann nämlich mit jener unheimlichen Fragesucht zu quälen, die eine regelmäßige Erscheinung im vierten bis fünften Lebensjahre bildet: Freud hat darauf hingewiesen und hervorgehoben, daß sich hinter diesen Fragen die Frage nach der eigenen Herkunft, nach der Herkunft der Kinder verberge. Ich unterwies die Eltern, und als der Junge abermals zu fragen begann und vom Schreibtisch aufs Holz, dann auf den Baum, aufs Samenkorn und zuletzt auf das erste Samenkorn kam, erhielt er zur Antwort, man wisse wohl, daß er neugierig sei, woher er und die anderen Kinder kämen. Er möge nur ruhig fragen, er werde alles erfahren. Das Kind verneinte wohl, seine Fragesucht war aber damit zu Ende. Also doch eine kleine Aggressionshemmung, wie sie wohl allgemein und erträglich sein dürfte. In der Tat blieb der Junge weiter mannhaft und couragiert und seinem Benehmen haftete keinerlei Empfindlichkeit, Nachträglichkeit oder Rachsucht an.

Aber noch ein wichtiger Umstand ist in solchen Fällen deutlich zu erfassen. Man sieht das Kind bereits tief im Banne der Kausalität. Ein Kind, das Eltern, Großeltern vor sich sieht, das von Kindern hört, die zur Welt kommen, wird normalerweise auf die Kausalität stoßen, die zwischen ihnen besteht. Kommt nun der kindliche Ehrgeiz ins Spiel, dann führen Gedanken und Phantasien das Kind so weit, daß es sich als Ziel setzt, selbst Vater zu werden, und daß es wie in der Vorbereitung handelt. — Derartige konkrete Erfahrungen, dazu Erinnerungen gesunder und neurotischer Personen, lassen den sicheren Schluß zu, daß jedes denkfähige Kind um das vierte Lebensjahr auf das Geburtsproblem stößt.

Außerdem geht aus unserem Falle hervor, daß wir es mit einem Knaben zu tun haben, der sich seiner männlichen Rolle im Gegensatze zur Frau bereits voll bewußt ist. Für ihn gibt es kein Schwanken und keinen Zweifel.1) Zärtlichkeitsregungen einem Manne gegenüber können bei solchen Individuen die Grenzen normaler Freundschaft nie überschreiten. Eine Entwicklung zur Homosexualität erscheint dadurch ausgeschlossen, daß es unter Ausschluß jeder anderen Bindung sich für das heterosexuelle Ziel vorbereitet.

In einem zweiten Falle, den ich hier zur Mitteilung bringen will, können wir die Anfänge der neurotischen Entwicklung beobachten.

Ein siebenjähriges, blasses Mädchen mit schwach entwickelter Muskulatur leidet seit zwei Jahren an häufigen, anfallsweise auftretenden Kopfschmerzen, die sich ganz unvermutet einstellen, Stirne und Augengegend befallen, ins Vorder- und Hinterhaupt ausstrahlen und nach mehreren Stunden wieder verschwinden. Keine Magenstörungen, kein Augenflimmern. Eine organische Erkrankung ist nicht nachzuweisen. Sie soll stets blaß und schwächlich gewesen sein, ist nach Angabe der Mutter sehr klug und gilt als die beste Schülerin ihrer Klasse. Medikamentöse und hydropathische Kuren blieben erfolglos.

Ich bin zur Überzeugung gelangt, daß die neurotische Psyche sich am leichtesten durch ihre psychische Überempfindlichkeit verrät. Die Klinik der Neurosen rechnet wohl schon lange mit dieser Erscheinung, ohne, wie mir scheint, ihre psychologische Dignität gehörig zu würdigen oder ihre individuelle Bedingtheit zu ergründen und zu beseitigen. Ich kann eigentlich nur zwei Autoren nennen, die von der ungeheuren Tragweite dieser Erscheinung sprechen. Der Historiker Lamprecht hat für die Völkerpsychologie die Bedeutung dieser »Reizsamkeit« festgestellt. Und Bleuler 2) stellt die »Affektivität« in den Mittelpunkt der Neurosen, insbesondere der Paranoia.

In der Regel findet sich diese Überempfindlichkeit bei allen Neurotikern in gleicher Weise deutlich vor. Meist gibt der Patient selbst auf Befragen zu, daß er sich sehr leicht durch ein Wort, durch eine Miene verletzt fühlt. Oder er leugnet es, seine Angehörigen haben es aber längst empfunden, haben gewöhnlich auch schon angestrengte Versuche gemacht, diese Empfindlichkeit nicht zu reizen. Zuweilen muß man sie dem Kranken nachweisen und zeigen. Daß man diese Empfindlichkeit auch bei gesund gebliebenen Personen findet, kann weiter nichts beweisen, wenn man sich an die zahlreichen Grenzfälle der Neurose erinnert.

Die Äußerungen dieser Überempfindlichkeit sind interessant genug. Sie erfolgen präzise, sobald es sich um eine Situation handelt, in der sich der Patient vernachlässigt, verletzt, klein oder beschmutzt vorkommt, wobei es ihm recht häufig zustößt, daß er, auf Nebensächlichkeiten gestützt, eine derartige Situation willkürlich erfindet. Oft mit großem Scharfsinne sucht er seinem Standpunkte logische Repräsentation zu verleihen, die nur der geübte Psychotherapeut durchschaut. Oder der Patient nimmt eine Wahnidee — wie bei der Paranoia, aber auch bei anderen Neurosen — zu Hilfe, um das Unerklärliche seines Benehmens zu begreifen und durch Fixierung an seine Wahnidee der eigentlichen Gefahrenzone, den Tatsachen und damit den Verletzungen seiner Empfindlichkeit auszuweichen. Dabei fällt immer die überraschende Häufung von Herabsetzungen und Demütigungen auf, denen solche Patienten ausgesetzt sind, bis man entdeckt, daß sie sozusagen eine Zeitlang ihren Ohrfeigen nachlaufen.3) Diese Strömung stammt aus dem Unbewußten und führt meist vereint mit anderen Regungen den masochistischen Charakter der Neurose herbei, der uns den Patienten als Hypochonder, als Verletzten, Verfolgten, Herabgesetzten, nicht anerkannten Menschen zeigt, für den es nur Leid, Unglück, »Pech« gibt. Der Mangel an Lebensfreude, die stete Erwartung von Unglücksfällen, Verspätungen, mißglückten Unternehmungen und Zurücksetzungen, schon in der Haltung und in den Gesichtszügen des Patienten erkennbar, die abergläubische Furcht vor Zahlen, Unglückstagen und der telepathische Hang, der immer Schlimmes vorausahnt, das Mißtrauen in die eigene Kraft, die den Zweifel an allem erst lebendig macht, das Mißtrauen in die anderen, das sozial zerstörend wirkt und jede Gemeinschaft sprengt — so stellt sich zuweilen das Bild des überempfindlichen Patienten dar. Alle Grade der Aggressionshemmung, Schüchternheit, Zaghaftigkeit, Angst und Aufregungszustände bei neuen, ungewohnten Situationen bis zu physischer und psychischer Lähmung können dem Bilde der Neurose eine besondere Färbung verleihen. Wie einer, der sich in eine feindliche Welt gestellt sieht, für den diese Erde zu schlecht ist, denkt er immer nur an sich, an seine Not, an das, was ihm fehlt, nie an das, was er zu geben hätte.

Wird so die Überempfindlichkeit zu einer »Vorempfindlichkeit«, so sehen wir anderseits Erscheinungen in der Neurose auftreten, die man als »Nachempfindlichkeit« charakterisieren kann. Solche Patienten können einen schmerzlichen Eindruck nicht verwinden und sind nicht imstande, ihre Psyche aus einer Unbefriedigung loszulösen, sich mit dem Leben und seinen Einrichtungen, sich mit den Menschen zu versöhnen. Man hat den Eindruck von eigensinnigen, trotzigen Menschen, die es nicht vermögen, durch kulturelle Aggression Ersatz zu schaffen, sondern starr und fest »auf ihrem Willen« bestehen. Und dies in jeder Sache und über ihr ganzes Leben hinaus. Gerechtigkeitsfanatiker und Querulanten weisen immer diesen Zug auf. Wir wollen einstweilen bloß hervorheben, daß diese angeführten Charaktere allen Neurotikern gemeinsam sind und mit der »Überempfindlichkeit« in innigstem Zusammenhange stehen.

Die Anfänge der Überempfindlichkeit gehen oft auf organische Überempfindlichkeit zurück, lassen sich sehr weit in das kindliche Leben zurückverfolgen und differieren von der normalen Empfindlichkeit in verschiedenem Grade. Man findet erheblichere Lichtscheu, Hyperästhesien des Gehörs, der Haut, größere Schmerzempfindlichkeit, besondere Erregbarkeit der Vasomotoren, erhöhtes Kitzelgefühl, muskuläre Erregbarkeit,4) Höhenschwindel bis in die früheste Kindheit zurück verfolgbar und kann sie stets auf eine Organminderwertigkeit beziehen. In meiner »Studie über Minderwertigkeit der Organe« habe ich bereits die Beziehungen dieser Organminderwertigkeit zur Neurose aufgedeckt und habe nach vielfachen Untersuchungen noch festzustellen, daß die Überempfindlichkeit eines Organes in den Kreis der Minderwertigkeits­erscheinungen aufzunehmen ist. Ebenso die Unterempfindlichkeit wie wir sie bei Idioten, Verbrechernaturen, bei Personen mit moral insanity so häufig beobachten können, zuweilen auch be den Neurosen, als Verlust oder Einschränkung des Schmerzgefühles, des Kitzelgefühles, der Tätigkeit der Hautvasomotoren. Die Herabsetzung der Empfindlichkeit zeigt uns — was aus der Betrachtungsweise der Organminderwertigkeitstheorie hervorgeht — den von den Vorfahren ererbten Defekt, die Überempfindlichkeit deckt die Kompensationstendenz auf, die aus den Kämpfen der Vorfahren oder des Trägers um den Bestand eines geschädigten Organes erfließt. Immer finden sich nebenbei auch andere Organminderwertigkeitszeichen wie Degenerationszeichen, Schleimhaut- und Hautreflexanomalien, Kinderfehler und Erkrankungen des betreffenden Organs oder Organsystems, wenn auch häufig, wie schon beschrieben, am Stammbaume des Patienten verstreut. So kommt in die Grundlagen der psychologischen Forschung ein phylogenetisches Moment, das bis auf die organischen Wurzeln der Neurose und auf das Problem der Heredität zurückreicht. Die Überempfindlichkeit samt ihrem psychischen Substrat macht es aus, daß die aus den Organen stammenden Triebtendenzen leicht ungezähmt bleiben und so den Aggressionstrieb in einen andauernden Reizzustand versetzen.5) Erhöhte Reizbarkeit, Jähzorn, Neid, Trotz, Ängstlichkeit bleiben nicht aus und erfüllen die Gedankenkreise des Kindes frühzeitig mit einem inneren Widerspruch gegen die ihm aufgezwungene Kultur, die nur bei geringer Widerstandsleistung des Kindes leicht haftet. Nun kann sich auch die einsichtsvollste Erziehung bis heute nur schwer von ihrem Grundprinzip losmachen, welches nach dem Schema »Schuld Strafe«6) zu erziehen verpflichtet. Dies und der Lauf der Dinge, der so oft nach dem gleichen Schema gerichtet ist, erfüllt die Gedankenwelt vor allem jener Kinder, die frühzeitig in den inneren Widerspruch geraten, mit einer Erwartung eines unheilvollen Ausganges der verbotenen Wünsche und Handlungen. Anderseits bringen es die Überempfindlichkeit sowie die sekundär verstärkte Triebintensität und -extensität mit sich, daß sich die gereizte Aggressionstendenz des Kindes gegen Personen richtet, die ihm die allernächsten, zuweilen auch die allerliebsten sind, gegen Vater, Mutter oder Geschwister. Ist es ein Knabe, so wird er in der Regel nach den väterlichen Prärogativen verlangen, ein Mädchen, nach den mütterlichen. Findet sich das Kind in seiner Geschlechtsrolle nicht zurecht, so beginnt es zu schwanken und der Zweifel beginnt seine frühesten Wurzeln zu schlagen. Zuweilen kann sich die feindliche Aggressionsneigung im Kinde entfalten, dann kommt es zu feindseligen Gedanken und Regungen gegen Personen der Familie. Gewöhnlich widerstreitet diesen ein Gefühl der Zärtlichkeit, der Liebe, der Dankbarkeit, die Aggression wird eingeschränkt oder so weit abgeschwächt, daß ihr Ursprung nur schwer zu finden ist oder sich nur in Träumen und im Charakter auch der späteren Jahre als Schema gegenüber anderen Menschen verrät.

Schon auf dieser Stufe der Entwicklung ergeben sich verschiedene psychische Zustandsbilder, deren Zahl noch namhaft vergrößert wird, wenn wir andere gleichzeitig oder nacheinander wirksame psychische Einschläge und Regungen in Betracht ziehen. So ist die teilweise Emanzipation des Kindes von seinem Stuhl- und Harntrieb vor sich gegangen, und diese Emanzipation hat ihm im Zusammenhange mit der Entwicklung des Schau- und Riechtriebes und des Gemeinschaftsgefühls eine dauernde Reaktion gegen Schmutz und schlechte Gerüche hinterlassen. Ich muß auch bei diesem Punkte darauf hinweisen, wie sehr dieses Resultat von der Wertigkeit und Empfindlichkeit des Auges, der Nase abhängig ist, so daß die Entscheidung gleichfalls von der Organminderwertigkeit abhängig wird. Haben nun schon das Organ und sein Trieb, sowie alle ihre differenzierten Fähigkeiten, wie Empfindlichkeit usw., auf der primitivsten Stufe ihren psychischen Ausdruck und Charakter, so fallen die Erscheinungen der Hemmungen, der Reaktion, ganz ins Gebiet der psychischen Phänomene und präsentieren sich als Furcht, Idiosynkrasie, Ekel, Scham. Die ganz psychisch gewordene Überempfindlichkeit erfaßt im Dienste des Machtstrebens je nach der Individualität, d. h. je nach der Beeinflussung der Psyche durch das minderwertige Organ, alle Beziehungsmöglichkeiten, die ihr widerstreiten und sucht sie aus dem Erleben auszuschalten.7) Aus diesen Affektlagen, die, mit Überempfindlichkeit und starker Reaktionsmöglichkeit ausgestattet, sozusagen den wunden Punkt der Psyche darstellen, entspringt bald eine passive, bald eine aktive Konstellation, überwiegt bald das Ausweichen vor Verletzungen der Empfindlichkeit, bald das aggressive Vorbauen oder Vorschauen, meist beides.

Die Stärke des ursprünglich vorhandenen Aggressionstriebes sowie der Aggressionsfähigkeit ist teilweise vererbt und als Ausdruck der biologischen Kompensationstendenz zu betrachten. Physiologisch betrachtet handelt es sich um die Leistungsfähigkeit der kortiko-muskulären Bahn, und eines der Zeichen ihrer angeborenen Minderwertigkeit wird sich als »körperliche Schwäche«, d. h. in erster Linie als muskuläre Insuffizienz darstellen. In der Tat ist es ein nahezu regelmäßiger Bericht der Frühanamnese neurotischer Patienten, daß sie schwächliche Kinder waren. Oder aber man erfährt, daß die Patienten als Kinder auffallend »linkisch«, (linkshändig?) und ungeschickt waren und sich dadurch viele Blamagen und Strafen zugezogen haben. Ich muß an dieser Stelle darauf verweisen, daß auch manche der »Kinderfehler«, wie Enuresis, Stuhlinkontinenz, Stammeln, Stottern, Sprachfehler usw., die ich als Zeichen der Organminderwertigkeit hingestellt habe, neben der Tatsache der primären Überempfindlichkeit diesen Eindruck der Ungeschicklichkeit hervortreten lassen, so daß auch die Ungeschicklichkeit als ein Beweisstück des Kampfes angesehen werden muß, den gewisse Organsysteme bei ihrer Domestikation, bei ihrer Einfügung in das Kulturmilieu zu führen haben.

Spuren dieser Ungeschicklichkeit kann man ebenso wie Reste des Kinderfehlers im Leben des erwachsenen Neurotikers oft nachweisen.8) Häufig bleibt eine psychische Unbeholfenheit zurück, die mit der späteren häufig hervorragenden geistigen Schärfe lebhaft kontrastiert und den Schein geistiger Minderwertigkeit hervorrufen kann. Zumeist aber resultiert ein Zustand der Ratlosigkeit, Schüchternheit, Zaghaftigkeit, der weit vor Beginn der Neurose einsetzt. Die Entwicklung des Selbstvertrauens, der Selbständigkeit bleibt mangelhaft, das Anlehnungs- und Zärtlichkeitsbedürfnis steigert sich ins Unermeßliche, so daß den Wünschen des Kindes unmöglich Genüge geleistet werden kann. So kommt es, daß die von Haus aus vorhandene stärkere Empfindlichkeit ungemein gesteigert wird und zu einer Überempfindlichkeit anwächst, die fortwährend zu Verwicklungen und Konflikten Anlaß gibt. Anfänglich besteht ein Gefühl des Zurückgesetztseins, der Vernachlässigung, »man ist ein Stiefkind, ein Aschenbrödel«, daran knüpfen Gedanken und Phantasien an, die sich wieder im Leben des Kindes äußern, als Entfremdung, Hang zum Mißtrauen und als der brennende Ehrgeiz, es den anderen zuvorzutun, besser zu sein als diese, schöner, stärker, größer und klüger. Daß diese ununterbrochen andauernden Wünsche einen mächtigen psychischen Antrieb bilden und daß sie in der Tat vielen von diesen Kindern zur »Überwertigkeit« verhelfen, ist keine Frage. Oft aber tritt aus dieser Konstellation vorwiegend die Kehrseite an die Oberfläche, die wirklich geeignet ist, dieses Menschenmaterial unbeliebt zu machen, so daß sie mit ihren Befürchtungen der Herabsetzung, der Mißgunst, der allgemeinen menschlichen Schlechtigkeit und Gehässigkeit zum Schluß scheinbar recht behalten. Damit nun hängt es zusammen, daß sich gewisse Charakterzüge immens verstärken, daß wir Regungen des Hasses, des Neides, des Geizes vorfinden, die sonst in der Kinderseele nicht diese große Rolle spielen, und daß wir in der fertigen Neurose diese Stimmungslagen individuell nachweisen können. Aus der Weiterentwicklung dieser Regungen, die in der verwegensten Weise die Gedankenwelt und die Phantasie des Kindes befruchten, sowie der psychischen Überempfindlichkeit, mittels deren das Kind Blamage und Strafe nicht nur härter empfindet als andere, sondern auch — zuweilen grundlos — vorausahnt, ergibt sich von selbst ein fortwährender innerer Konflikt in der kindlichen Psyche, der der Umgebung nur selten bekannt wird. Denn das Kind lernt sich verstellen und schweigt — eben aus Überempfindlichkeit, aus Furcht vor Strafe oder Herabsetzung, immer auch bedrückt durch die Stimme seines Gemeinschaftsgefühls.

Dieses Schweigen aber, das Geheimnis des Kindes, verrät uns, daß in ihm Bewußtseinsregungen wirksam geworden sind, die es nicht merken lassen will. Und es ist die Vorstellung gerechtfertigt, daß das Kind vor anderen schweigt, aber auch seinen eigenen Gedanken über bestimmte Wünsche, über gewisse Triebregungen auszuweichen sucht, weil es sich durch das Bewußtsein derselben beschmutzt, herabgesetzt, lächerlich gemacht fühlt, oder — und dies ist bereits ein Erfolg seiner Vorempfindlichkeit — weil es solche unangenehme Folgen erwartet und befürchtet. Während sich einerseits eine Weltanschauung des Kindes Bahn bricht, die oft nur in Spuren rekonstruierbar oder zu erkennen ist, aus der eine Erwartung entspringt, wie: »man wird mich strafen«, — »man wird mich auslachen«, verstärkt durch eine tiefgefühlte Überzeugung, wie: »ich bin ja böse, sündhaft« oder »ich bin zu plump und ungeschickt«, versucht die Überempfindlichkeit je nach dem vorhandenen Material und zumeist ausgehend von den schwächsten Punkten des Seelenlebens oft die entgegensetzten Charaktere und Eigenschaften zu entwickeln. Man wird in diesen Fällen Tendenzen wahrnehmen, die auf Hemmung der primären Triebregungen (des Mundes, der Augen, der Exkretionsorgane) gerichtet sind, oder die imstande sind, das Peinliche der Minderwertigkeitserscheinungen oder gleichgeachteter Schwächen besonders tief empfinden zu lassen (das Erröten, die Schmerzempfindlichkeit, Schwächlichkeit, Unverständnis, geringe Körpergröße).9) Dicht daneben bemerkt man aber bereits die Ansätze, die als die psychischen Schutzvorrichtungen, Sicherungen deutlich zu erkennen sind, berufen, einem Umkippen in den alten Fehler und damit einer Verletzung der Überempfindlichkeit vorzubauen und das bereits feststehende Endziel zu erreichen. Hierher gehören alle Züge von Pedanterie, die nur den einen Sinn haben, eine Sicherung der Lage herbeizuführen und, wie ich später fand, zum Druck auf die Umgebung bestimmt sind. Aber ebenso machen sich abergläubische oder einem Anlehnungsbedürfnis entspringende Regungen breit, die wie Sicherungsvorkehrungen die Höhe der neugewonnenen moralischen oder ästhetischen Kultur garantieren müssen (Gebete, Zeichen- und Zahlensymbolik, Zauberglauben usw.).10) Und wieder nebenan, aus der gleichen Weltanschauung stammend, findet man Erscheinungen der Selbstbestrafung oder der Buße, ästhetische Anwandlungen, Tendenzen, sich Schmerzen, Entbehrungen, Leistungen aufzuerlegen,11) sich vom Spiel, von Vergnügungen, von der kleinen Welt der Gespielen zurückzuziehen.12) Dabei ist das Kind stets am Werke, mit äußerster Vorsicht sein Geheimnis zu wahren, und kann dabei so weit kommen, bei jedem Menschen, insbesondere aber beim Arzt, die Absicht zu vermuten, dieses Geheimnis auszukundschaften.13) Mißtrauen und der Verdacht, man habe etwas mit ihm vor, entstehen beim Kinde, dienen vor allem dem Beweis der eigenen Wichtigkeit, die alle Menschen, das Schicksal, Gott immerwährend beschäftigt. Dieses Ensemble führt zu den von mir (siehe: »Der Aggressionstrieb«) beschriebenen Formen der Aggressionshemmung, und ich muß weiterhin die Behauptung aufstellen, daß die Aggressionshemmung zustande kommt durch die Konkurrenz anderer Organminderwertigkeits-Erscheinungen, insbesondere der seelischen Überempfindlichkeit, die Kompensationen des verletzten Ehrgeizes auf einem neuen Wege nicht zuläßt.

Von der moralischen Seite betrachtet mündet der psychische Entwicklungsprozeß der Organminderwertigkeit mit seiner Überhebung in ein vergrößertes Schuldbewußtsein gegenüber dem Gemeinschaftsgefühl und in eine Überempfindlichkeit gegen Selbstvorwürfe und Vorwürfe der Umgebung.14) Diese drückende Konstellation bewirkt es, daß die psychische Arbeitsleistung eine namhafte Erhöhung erfährt, da das ganze weitere Leben unter dem Drucke der Überempfindlichkeit steht, die wie ein allzeit bereiter Motor das Triebleben modifiziert, die Triebrichtung hemmt und beeinflußt. Andererseits besteht dauernd ein lastendes, drückendes Gefühl einer begangenen oder zu verhütenden Schuld,15) das abstrakt geworden ist und ständig nach einem Inhalte sucht. Zuweilen ist dieses Suchen nach dem Inhalte des Schuldvollen, Strafbaren besonders akzentuiert (dann entsprechen ihm später oft Zwangshandlungen und Zwangsideen, Aufspüren des »Lasters« in jeder Form). Das Gefühl, ein »Verbrecher«, ein »Auswürfling« zu sein, beginnt zu dominieren und steigert die Überempfindlichkeit gerade gegen Vorwürfe und Konstellationen entsprechender Art. Das der Organminderwertigkeit entstammende Minderwertigkeitsgefühl führt nämlich zu einer egoistischen, feindseligen Aggressionsstellung. Die aus ihr entspringende Unversöhnlichkeit mit den Menschen stößt aber auf die Instanz des Gemeinschaftsgefühls.

Es scheint, daß gewisse Entwicklungspunkte diese innere Spannung den primären inneren Konflikt steigern und mit ihrem Inhalt erfüllen können. So vor allem sind es die Position in der Familie und die ersten Berührungen mit dem Sexualproblem, die etwa um das fünfte Lebensjahr statthaben, ferner die Berufsfrage und die Liebesbeziehungen des Erwachsenen. Man gewinnt dabei den Eindruck, daß alle die späteren Konflikte zur manifesten Neurose führen können, sobald der primäre, aus der Organminderwertigkeit stammende innere Widerspruch besteht, und man kann bei allen zur Neurose Disponierten von einem Zustande der »Psychischen Anaphylaxie« sprechen, der sein materielles Analogon bei bakteriellen Erkrankungen hat, wo bei gewissen Vorimpfungen eine Überempfindlichkeit gegen das ursprüngliche Gift erlangt wird.

Die ersten Sexualkenntnisse, die sich dem Kinde auf Schleichwegen ergeben, verletzen seine vorhandene Überempfindlichkeit auf das aller­heftig­ste. Das Kind kann sich betrogen, gefoppt, ausgeschlossen vom allgemeinen Wissen vorkommen. Es empfängt den Eindruck, daß man Komödie vor ihm spiele, es sieht sich einem Geheimbunde der anderen gegenüber und ist, was insbesondere bei Minderwertigkeit der Sexualorgane und bei der sie häufig begleitenden größeren Empfindlichkeit vorkommt, mit seinem frühzeitig gesteigerten Sexualtriebe in eine schwierige Lage versetzt. Das »sexuelle Trauma«, ebenso die Frühmasturbation ergeben sich dann von selbst als »Ursache«, wichtiger aber sind die frühen Gedankenregungen und Phantasien, die gelegentlich ins Inzestuöse 16) geraten können und mangels wichtiger Orientierung perverse Züge annehmen oder das Schwanken und den Zweifel 17) des Kindes ungemein verstärken. Und über alle Regungen des Kindes legt sich drohend das nunmehr vertiefte Schuldbewußtsein, damit die Hemmung jeder Aggression, die Buße und die Erwartung einer Strafe, eines unglücklichen Ausganges. Ähnliche Vorgänge steigert die Masturbations­periode. Und es bleibt Sache des Schicksals des einzelnen, vor allem aber der jeweiligen Konstellation, aus welchen der oben geschilderten Minderwertigkeitserscheinungen und aus welcher Zeit ihrer Entwicklung die Neurose ihre Bilder zu nehmen gezwungen ist.

Nach diesen Vorbemerkungen will ich einige psychotherapeutische Ergebnisse zu dem Falle des siebenjährigen Mädchens mit »nervösem Kopfschmerz« vorbringen. Meine erste Frage betraf die Empfindlichkeit des Kindes. Die Mutter berichtete, daß das Mädchen gegen Schmerz, gegen Kälte und Hitze sehr empfindlich sei. In seelischer Beziehung sei die Empfindlichkeit geradezu krankhaft. Sie lerne ungemein fleißig und komme ganz verstört nach Hause, wenn sie einmal in der Schule eine Frage nicht beantworten konnte.

»Wie verträgt sie sich mit ihren Mitschülerinnen?«

»Sie streitet nicht, rauft nicht, hat aber keine eigentliche Freundin. Auch will sie immer alles besser wissen und besser machen als die anderen.«

»Können Sie etwas darüber sagen, ob sie den Vater vorzieht?«

»Der Vater ist häufig auf Reisen. Sie ist ihm sehr zugetan. Eher möchte ich glauben, daß sie mich vorzieht.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Es ist eine ständige Redensart meiner Tochter: wenn ich einmal groß bin, werde ich auch einen Hut, ein Kleid, usw. wie die Mama haben.«

»Leiden Sie denn auch an Kopfschmerzen?«

»Oh, ich habe seit Jahren die entsetzlichsten Kopfschmerzen.«

»Nun, da hat die Kleine eben auch Kopfschmerzen wie die Mama!«

Solche Behauptungen aufzustellen dürfte manchem gewagt erscheinen. Eine gewisse Erfahrung in der Individualpsychologie läßt aber ein solches Vorgehen gerechtfertigt, ja noch mehr: als notwendig erscheinen. So viel ist aus der kurzen Bekanntschaft bereits zu erschließen, daß dieses Mädchen den anstrengenden Versuch macht, sich in die Rolle der Mama hineinzudenken, woraus wir entnehmen können, daß sie sich über ihre Stellung als Mädchen und zukünftige Frau unzweifelhaft im Klaren ist. Was die Mutter als Bevorzugung ihrer Person ansieht, kann nicht ohne weiteres als solche zugegeben werden. Es gewinnt vielmehr den Anschein, als wähle die Kleine für ihr Benehmen in manchen Punkten die Beziehung der Mutter zum Vater als Ausgangspunkt, wobei sie der Mutter möglichst gleich zu werden trachtet. Diese Tendenz sowie der unverkennbare Ehrgeiz des Mädchens, ihre gereizte Überempfindlichkeit, wenn sie Kameradinnen gegenüber zurückstehen soll, müssen notwendigerweise nach außen hin das Gepräge des Neides erhalten. Eine diesbezügliche Frage wird von der Mutter bejaht mit dem Hinweise, daß es sich dabei vorwiegend um Futterneid — Obst und Näschereien bezüglich — handle. Der Vater der kleinen Patientin leidet an Cholelithiasis (Minderwertigkeit des Ernährungsapparates), die Kleine hat in den ersten zwei Lebensjahren an Diarrhöen, seither an Obstipation gelitten. Sollte die Kleine im allgemeinen die Mutter beneiden und bereits Zeichen von Wissensneid (Vorbereitungen für die zukünftige Rolle!) äußern?

Weitere Erkundigungen ergeben, daß das Kind schon vor längerer Zeit eine Neigung zu masturbatorischen Berührungen zeigte, daß es seit Geburt im Schlafzimmer der Eltern schlief, daß es kokett sei und sich gern in schönen Kleidern im Spiegel betrachte. Als ich der Mutter meine Vermutung über die Ursache der Kopfschmerzen mitteilte, rief die Mutter aus: »Oh, deshalb peinigt mich der Fratz immer mit der Frage, woher die Kinder kämen!«. Sie erzählte mir weiter, sie habe dem Kinde auf seine Fragen vor längerer Zeit geantwortet, die Kinder kämen aus einem Teiche. Seither bringe das Mädchen sehr häufig das Gespräch wieder auf diesen Punkt. Eines Tages fragte es: »Und wozu braucht man die Hebamme?« Die Mutter antwortete ihr, die hole eben das Kind aus dem Teiche. Nach einiger Zeit fragte das Mädchen: »Du sagst also, daß man die kleinen Kinder aus dem Teiche bringe? Was geschieht aber im Winter, wenn der Teich zugefroren ist?« Darauf konnte die Mutter nur ausweichend antworten.

Man sieht hier deutlich, wie die sexuelle Neugierde den Witz und Scharfsinn des Kindes zur Entfaltung bringt und im allgemeinen seine Wißbegierde steigert.18) — Von Zornausbrüchen, Jähzorn, Wut ist bei dem Kinde keine Spur wahrzunehmen. Der Aggressionstrieb vermeidet offenbar bei gegebener Verletzung der Überempfindlichkeit diese aktivsten Bahnen. Außer den Fragen an seine Mutter, die aber auch äußerst vorsichtig gefaßt sind, findet man keinerlei Zeichen einer äußeren Aggression. Es ist daher die Vermutung berechtigt, daß der stürmische Wissensdrang, der in dem Kinde tobt, auf die Schmerzbahnen abgelenkt wird (Imitation der Mutter), dabei einen ererbten Locus minoris resistentiae ergreift und so das Symptom der Kopfschmerzen erzeugt.

Bleibt noch die Frage, wodurch wird jedesmal dieser nervöse Mechanismus ausgelöst? Ich frage die Mutter, wann der letzte Anfall aufgetreten ist. »Gestern nachmittag; auf der Straße!«

»Können Sie einen Grund ausfindig machen?«

»Nein. Ich wollte mir ein neues Kleid bestellen.«

»Haben Sie das Kleid bestellt?«

»Nein. Die Kleine jammerte so entsetzlich, daß mir nichts übrig blieb, als unverrichteter Dinge nach Hause zu fahren.«

Das heißt, das Kind hat durch seine Kopfschmerzen vorübergehend verhindert, daß die Mutter ein neues Kleid bekommt.

Dann muß aber, wie wir vorausgesetzt haben, der Neid (ursprünglich Futterneid, später, durch Verschränkung, Augenneid, Wissensneid) eine maßgebende Rolle spielen. Wir erinnern uns der Worte des Kindes: »Wenn ich groß bin, werde ich auch einen solchen Hut, solche Kleider wie die Mutter haben.« Die Überempfindlichkeit des Mädchens ist also gegen jeden Vorzug gerichtet, durch den die Mutter vor ihr ausgezeichnet erscheint, gegen die Anschaffung neuer Kleidungsstücke, gegen das bessere Wissen über die Herkunft der Kinder, und es wäre nur zu verwundern, wenn sich die gleiche Überempfindlichkeit des frühreifen Kindes nicht auch noch gegen die zärtlichen Beziehungen des Vaters zur Mutter richten würde. — Es ist sicher vorauszusetzen, daß die Zärtlichkeit des Vaters gegen die Mutter gerade zur Zeit der Kopfschmerzen besonders auffällig wurde, was die Mutter auch lächelnd zugibt. Die Fixierung des gleichen Symptoms beim Kinde zeigt also in die gleiche Richtung: Rivalität gegen die Mutter. Der etwas ängstliche Vater, aber auch die Mutter beginnen nun das Kind zu verhätscheln.

Damit erspart sich das Kind eine große Anzahl von Verletzungen seiner Überempfindlichkeit. Aber schon zeigt sich von Ferne die Gefahr, die dem Kinde droht. Es hat keine Freundin, meidet Gesellschaft, wird schüchtern und feige, zeigt sich aufgeregt, wenn Besuche zu erwarten sind, beginnt also umzuschalten, um bestehen zu können. Es ist kein Zweifel, daß seine »kulturelle Aggression« gehemmt ist.

Welches ist nun die Kraft, die imstande ist, eine solche Hemmung durchzuführen und dem Kinde die ungehinderte, freie Auswahl der Mittel, seine Triebe zu befriedigen, unmöglich zu machen? Nach meiner Erfahrung erfährt man das von den Kindern selten. Es sei denn unter ganz günstigen Bedingungen, bei noch ungebrochenem Mute des Kindes, und wenn man sein volles Zutrauen hat. Man ist darauf angewiesen, die aus der Individualpsychologie Neurotischer gewonnenen Erfahrungen zu Rate zu ziehen, aus denen auch die vorangeschickten Beobachtungen stammen. Die volle Beruhigung über die Richtigkeit und Konformität des Zusammenhanges wird sich dann aus der Anwendbarkeit und dem Verständnisse für mehrere oder alle Symptome der kindlichen Psyche ergeben.

So auch in diesem Falle. Der innere Widerspruch, der zum primären Konflikte und damit zur Unausgeglichenheit und Zaghaftigkeit dieser Kinderseele führte, muß in dem Zusammenstoße seiner Triebe und einer sie verurteilenden Instanz gelegen sein, wobei eine kleine Erfahrung peinlicher Erlebnisse (Organempfindlichkeit, Blamagen, Strafen) zur Intoleranz gegen Herabsetzung führte. Damit war ein mächtiger Impuls zum Neid und der Ansatz zu stürmischem Ehrgeiz gegeben, der größeren, erfahreneren Mutter gleich zu werden. Die Verschränkung mit dem frühzeitig erwachenden Sexualtriebe könnte in das ganze Ensemble von Regungen einen feindseligen, aber straffälligen Zug gegen die Mutter bringen. Es ergibt sich deshalb ein sicherndes Schuldgefühl, dessen Basis und Inhalt aus dem Bewußtsein gestoßen wird, ein sozusagen abstraktes Schuldgefühl, das sich mit jedem möglichen Inhalte verbinden kann, durch seine Inkonsequenz aber leicht auffällig wird. Dieses Schuldgefühl bewirkt die Hemmung der Aggression — »so macht Gewissen Feige aus uns allen« —, und so entsteht eine Situation, der die Ausgleichsmöglichkeit fehlt, eine Konstellation, auf deren Bahnen sich die Symptome der Neurose entwickeln, die aber wieder dem ehrgeizigen Ziele des Kindes, allen überlegen zu sein, genügen. Dementsprechend wird der Aufbau einer Neurose in jedem Falle Erscheinungen nachweisen lassen, die auf diese Konstellation und ihr vorläufiges Resultat (je nach der Wirksamkeit der angeborenen Aggressionsfähigkeit) reduzierbar sind, sich auch von diesem Punkte aus verstehen und kurieren lassen. Ein Schema der Neurose und ihrer Erscheinungen, das auf Vollständigkeit oder Abgeschlossenheit keinen Anspruch erhebt, hätte folgende Punkte regelmäßig zu berücksichtigen:

I. Erscheinungen, die den ursprünglichen Triebregungen sowie den Merkmalen der Organminderwertigkeit entsprechen.






Psychischer Verrat des Unsicherheits- und Schuldgefühles.


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II. Überempfindlichkeit, die sich gegen Herabsetzung, Beschmutzung, Bestrafung kehrt.

III. Erwartung von Herabsetzung, Beschmutzung und Bestrafung (siehe II), Vorkehrungen gegen dieselben. Angst.

IV. Selbstvorwürfe, Selbstbeschuldigung.

V. Selbstbestrafung, Buße, Askese.19)

VI. Ursachen des Schuldgefühles: Immer tendenziöse Verfehlungen infolge von festgehaltener Organminderwertigkeit und feindselige Aggression gegen den gleichgeschlechtlichen Teil der Eltern (letztere kann bei zweifelhafter sexueller Orientierung in der Kindheit fehlen), Masturbation. Alle anderen Ursachen des Schuldgefühles lassen sich, als Verschiebungen erkennen. Auch diese Hervorhebungen des Nervösen erwiesen sich später als tendenziöse Mittel zum Zweck.

VII. Als Folge einer der möglichen Konstellationen eine sich ergebende Aggressionshemmung, die als brauchbares Arrangement festgehalten wird.

Eine zusammenfassende Betrachtung ergibt zunächst den einheitlichen Aufbau bestimmter Neurosen, zu denen ich Hysterie, Zwangsneurose, Paranoia, Neurasthenie und Angstneurose rechnen muß. Alle diese Erkrankungen 20) befallen nur jenes egoistisch gewordene Menschenmaterial, das als Träger von Organminderwertigkeiten die größeren Schwierigkeiten bei Einfügung in die Kultur zu überwinden hat.

Diese Schwierigkeiten, von denen in meiner »Studie« (l. c.) und im vorhergehenden abgehandelt wird, liegen der »Disposition« zur Neurose zugrunde und sind identisch mit ihr. Die Möglichkeit einer glatten Überwindung durch Kompensation und Überkompensation, vor allem durch die individualpsychologische Therapie, ist allerdings gegeben. Oft stellen sich aber neue Erschwerungen ein, die aus dem Familienzusammenhange stammen. Wieweit die gegenwärtige Erziehung einen Einfluß hat, ist in jedem Falle besonders abzuschätzen, verdient aber eine gesonderte Besprechung. Da ihr Prinzip fast allgemein die Erzielung von Lebensfeigheit ist, kommt sie oft in die Lage, das Schuldbewußtsein zu verstärken.

Wer für die Einheit und den einheitlichen Aufbau der Psychoneurosen eintritt, dem erwächst naturgemäß die Pflicht, die Besonderheiten zu erklären. Die vorliegende Arbeit hat an verschiedenen Punkten dazu Stellung genommen. Je nach Art, Ausbildung und Zusammenwirken der vorhandenen Organminderwertigkeiten wird das Bild der Neurose sich gestalten. Von Wichtigkeit ist auch die Größe, Verwandlungsfähigkeit und Ausdauer des angeborenen Aggressionstriebes, weil diese Faktoren es sind, die das Kind »schuldig werden lassen«, ihm anderseits die Möglichkeit geben, teilweise oder ganz auf weniger strafbare Gebiete auszuweichen. Von großer Bedeutung ist ferner die Stellung des zur Neurose disponierten Kindes in der Familie, seine Position, insbesondere, weil sich daraus die Situation ergibt, die zum Grundrisse der Neurose wird. In dieser Situation ist bereits alles angedeutet, was der fertige Neurotiker an krankhaften Erscheinungen aufbringt, und es liegen die Ursachen für den krankhaften Charakter in ihr zutage. Die zur Neurose disponierende traumatische Situation setzt sich ungefähr im Areale der oben angeführten sieben Grundlinien durch und erzeugt den Zustand einer bestimmten psychischen Anaphylaxie, der entsprechend gleichgerichtete psychische Schädigungen oder die Aufgaben des späteren Lebens den verstärkten Zustand der ursprünglichen traumatischen Situation hervorrufen: die besondere individuelle Neurose.

 

___________________

1) Aus einer großen Anzahl von Untersuchungen geht nämlich hervor, daß sich der Zweifel neurotisoher Personen an dieses frühe kindliche Schwanken anschließt, ob ihm eine männliche oder weibliche Rolle zufallen werde. Die sexuelle Unerfahrenheit bringt in diesen Fällen die Verwirrung hervor.

2) Bleuler, Suggestibilität, Affektivität und Paranoia.

3) Ein Fall für viele: Ein 36jähriger Patient gefährdete sein Fortkommen dadurch n hohem Grade, daß er nach kurzer Zeit überall in Streit verwickelt wurde. In ler Analyse gelang der Nachweis, daß in ihm ein heimliches Streben lag, der Vater möge ihn mißhandeln. Aus seiner Kindheit und Pubertät lagen Erinnerungen vor, lach welchen er bei irgendeiner Herabsetzung in der Familie andernorts Streit infing, um Prügel zu bekommen; oder er ließ sich »zur Beruhigung« gesunde Zähne ziehen. Der Wunsch, vom Vater mißhandelt zu werden, entsprach seinem Suchen nach Beweisen des väterlichen Hasses, dessen und anderer Überlegenheit, um die masochistische, »weibliche« Linie halten zu können, sich abzuhärten, vor seinen Aufgaben Reißaus zu nehmen und sich für die männliche Rolle in Beruf und Liebe unmöglich zu machen.

4) Eine bestimmte Art der Nervenübererregbarkeit ist bekanntlich von Anomalien der Nebenschilddrüsen abhängig, so daß wir die angeborene Minderwertigkeit bestimmter Drüsen, der Schilddrüsen, des Pankreas, der Hypophyse, der Nebennieren, auch der Prostata, der Hoden und Ovarien usw. als den Ausgangspunkt bestimmter Überempfindlichkeiten erkennen werden. In vielen Fällen geht dann die auslösende Wirkung nicht von der ursprünglich minderwertigen Drüse aus, sondern kommt durch Überkompensation einzelner Teile oder anderer Organe zustande, die qualitativ oder quantitativ den Ersatzzweck verfehlt. So auch durch das Zentralnervensystem oder bestimmte Nervenbahnen, wenn sie zur Uberkompensation gezwungen sind. Eine eingehende Erörterung siehe in Adler, Studie über Minderwertigkeit der Organe. l. c.

5) Siehe Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose.

6) Asnaourow, Sadismus und Masochismus in Erziehung und Kultur. München 1913.

7) Ein dreijähriges Mädchen zeigte seit einiger Zeit Mangel an Eßlust. Befund negativ. Bei der Untersuchung fällt auf, daß das Kind wiederholt ausruft: »Es stinkt!« Die Eltern geben an, daß das Kind seit einiger Zeit bei allen Gelegenheiten diesen Ausruf gebrauche. Die weitere Exploration ergab eine überaus starke familiäre Geruchsüberempfindlichkeit und Defäkationsanomalien. Die Nase macht ihre Idiosynkrasien als Trotz gegen die Macht der Eltern geltend. Die Geruchstoleranz ist so niedrig geworden, daß auch auf normale Gerüche mit Widerwillen reagiert wird. Der Mangel an Eßlust stammt aus dieser tendenziös verminderten Toleranz. — Vor allem kommt das Ziel in Betracht, das Gefühl der Überlegenheit durch Negativismus zu erreichen.

8) Daß diese Unbeholfenheit oft in eine auffallende Geschicklichkeit, Kunstfertigkeit oder in künstlerisches Wesen übergeht, und zwar auf dem Wege der psychischen Überkompensation, habe ich in meiner Studie (1. c.) hinlänglich betont. Ich bin der Ansicht, daß die häufige Erscheinung der Linkshändigkeit bei Künstlern (siehe Fließ), aber auch bei Neurotikern die gleichen Grundlagen der cortico-muskulären Systemminderwertigkeit aufweist.

9) Erythrophobie, Stottern, Hypochondrie und verwandte Züge in den Neurosen lassen diesen Mechanismus stets erkennen.

10) Diese Züge finden sich später insbesondere bei der Zwangsneurose.

11) Einer meiner Patienten mußte jedesmal im Bade den Kopf so lange unter Wasser halten, bis er bis 49 gezählt hatte; vor allem, um sich seine Überlegenheit zu beweisen, seinen Antrieb, mit dem er Schwierigkeiten überwinden wollte.

12) Erscheinungen, die wir in der Hysterie, Hypochondrie und Melancholie, eigentlich in jeder Neurose, wiederfinden. Auch hier: »Aus der Not eine Tugend machen«, im kleinen Kreise überlegen zu sein, nicht »mitzuspielen«.

13) Ist diese Tendenz besonders ausgebildet, so stellt sie das normale Analogon der Paranoia dar. Auch bei der Hysterie finden sich diese Züge.

14) Die Bedeutung der »tragischen Schuld« im Drama entspricht ungefähr der Stellung des Schuldbewußtseins in der Neurose. Viele Dichter, insbesondere Dostojewsky, haben die Zusammenhänge von Schuldbewußtsein in der Psyche meisterhaft dargestellt. Spätere Befunde legten mir nahe, das Schuldbewußtsein als ein Mittel zur Aggressionshemmung, als Sicherung aufzufassen, dem gleichwohl oft das Gefühl der Überlegenheit über andere sich anschließt oder entstammt (Ethik, religiöse Erhebung).

15) Die Erbsünde der religiösen Anschauung ist das normale Gegenstück.

16) Wie sich mir diese Regung später als eine Täuschung des Nervösen tendenziöser Art, als »Inzestgleichnis«, erwies, siehe Über den nervösen Charakter, l. c.

17) Der Wiener Dialekt hat für den Fall des äußersten Zweifels und der lähmenden Ratlosigkeit den Ausruf: »Jetzt weiß ich nicht, ob ich ein Mandl oder ein Weibl bin.«

18) Für die Pädagogik möchte ich daraus die Folgerung ableiten, mit der Sexuai-auiklärung des Kindes so lange zu warten, bis diese Förderung der Wißbegierde erfolgt ist. Allerdings auch nicht länger. (Nachträglich: Heute würde ich diesen Fall etwas anders ansehen. Das Mädchen machte offenbar erhöhte Anstrengungen, um in der weiblichen Rolle, da sie kein Mann werden konnte, die Mutter zu überflügeln. Daher auch die zu diesem Zwecke der Überlegenheit brauchbaren Kopfschmerzen.)

19) Zuweilen kommen hier Erscheinungen zutage, die dem Punkte I gleichzeitig entsprechen: Selbstbeschmutzungen, Selbsterniedrigungen (Masturbationszwang) oder Verschiebungen ins Psychische: Ungeschicktheiten, gesuchte Blamagen und Schmerzen; Bevorzugung von Dirnen u.a.: die »Wollust der Askese«, Masochismus gehören in dieses Kapitel. Erstere sind ursprünglich als Realien zu verstehen, später als tendenziöse Mittel aufzufassen.

20) Vielleicht wird eine reichere Erfahrung gestatten, auch die Dementia praecox, Melancholie, das manisch-depressive Irresein und die Manie auf dieses Schema zu beziehen.


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