Zur Erziehung der Eltern


(1912)

 

Ob es wohl noch Erzieher gibt, die dem lehrhaften Worte allein eine bessernde Kraft zuschreiben? Man fühlt sich versucht, diese Frage nach allen pädagogischen Erfahrungen und Belehrungen zu verneinen, wird aber gut tun, der menschlichen Psyche genug Fehlerquellen zuzutrauen, daß irgendwer, der sich mit Bewußtsein ganz des Erziehens durch Worte entschlagen hat, in einer Art Anmaßung immer wieder seinem Wort so viel Gewicht beimessen könnte, um ins Reden statt ins Erziehen zu verfallen.

Aber das Kind zeigt von seinen frühesten Tagen an eine Neigung, sich gegen das Wort wie gegen das Machtgebot seiner Erzieher aufzulehnen. Verschiedene dieser aggressiven, aus einer gegnerischen Stellung zur Umgebung stammenden Regungen sind uns zu vertraut, als daß man sie nicht als Auflehnung fühlte. Wer seine Aufmerksamkeit auf die Aggression des Kindes richtet, wird sich bald die feinere Witterung aneignen, die nötig ist, um zu verstehen, daß sich das Kind oft im Gegensatze zw seiner Umgebung fühlt und sich im Gegensatze zu ihr zu entwickeln sucht. Und es fällt weiter nicht schwer, alle sogenannten Kinderfehler und psychischen Entwicklungs­hemmungen, wenn bloß ein organischer Defekt ausgeschlossen werden kann, auf eine mißratene Aggression gegen die Umgebung zurückzuführen. Trotz und Jähzorn, Neid gegen Geschwister und Erwachsene, grausame Züge und Erscheinungen der Frühreife, aber auch Ängstlichkeit, Schüchternheit, Feigheit und Hang zur Lüge, kurz alle Regungen, die die Harmonie des Kindes mit Schule und Haus oft dauernd stören, sind als schärfere Ausprägungen dieser gegnerischen Stellung des Kindes zur Umgebung zu verstehen, ebenso die krankhaften Ausartungen wie Sprachfehler, Eß- und Schlafstörungen, Bettnässen, Nervosität wie Hysterie und Zwangserscheinungen.

Wer sich kurzerhand von der Richtigkeit dieser Behauptungen überzeugen will, beachte nur, wie selten das Kind imstande ist, »aufs Wort« zu folgen oder sofort einer Ermahnung nachzukommen. Noch lehrreicher vielleicht ist die Erscheinung des »gegenteiligen Erfolges«.

Es wäre oft nicht schwer, Kinder wie auch Erwachsene durch Anbefehlen des Gegenteils auf den richtigen Weg zu bringen. Nur liefe man dabei Gefahr, alle Gemeinschaftsgefühle zu untergraben, ohne die Selbständigkeit des Urteils zu fördern; und »negative Abhängigkeit« ist ein größeres Übel als Folgsamkeit.

Bei diesen Untersuchungen und bei dem Bestreben nach Heilung der mißratenen Aggression wird man bald belehrt, daß zwei Punkte vor allem in Frage kommen. Der wie ich glaube natürliche Gegensatz von Kind und Umgebung läßt sich nur durch das Mittel des Gemeinschaftsgefühles mildern. Und der Geltungsdrang des Kindes, der den Gegensatz so sehr verschärft, muß einige freie Bahn auf kulturellen Linien haben, muß durch Zukunftsfreudigkeit, Achtung und liebevolle Leitung zum Ausleben kommen, ohne das Gemeinschaftsgefühl zu stören.

Dies soll sich nun jeder vor Augen halten, der seine Feder eintaucht, um über Erziehungsfragen zu schreiben. Und ferner auch, daß man all die Regungen der Kinder mühelos wiederfindet im Leben der Erwachsenen, nicht anders, als wäre das Leben eine Fortsetzung der Kinderstube, nur mit schwerwiegenden Folgen und persönlicher Gefahr. Und der Prediger muß gewärtig sein, entweder gleich am Anfang niedergeschrien oder erst angehört und bald vergessen zu werden. Wie recht hat doch jene Anekdote, die von zwei Freunden erzählt, daß sie eines Tages über eine Frau in Streit gerieten, wobei der eine sie als dick, der andere als mager hinstellte! Unser geistiges Leben ist hochgradig nervös geworden, reizsam, hat der Geschichtsforscher Lamprecht gesagt, so sehr, daß jede lehrhafte Meinung oder Äußerung in der Regel den Widerspruch des andern wachruft. Und dies ist noch der günstigere Fall. Denn ist so das Gleichgewicht zwischen Schriftsteller und Leser einigermaßen hergestellt, dann wagt sich schüchtern auch die Anerkennung hervor oder man trägt fürsorglich eine gewonnene Einsicht nach Hause. Besonders dem Erzieher, aber auch dem Arzte geht es so. Die Früchte ihrer sozialen Leistungen reifen spät. Denn wo gibt es einen Menschen, der sich nicht zum Erzieher oder Arzt geschaffen glaubte und deshalb munter herumdokterte an Kindern und Kranken?

Am besten, man lernt an den Kindern, wie man den Eltern mit Ratschlägen beikommt. Da muß nun in erster Linie anerkannt werden, was gut und klug erscheint. Und zwar bedingt, womöglich ohne Übertreibung. Aber dieses Zugeständnis dürfen wir Pädagogen den Eltern machen, daß sie viele Vorurteile aufgegeben haben, daß sie bessere Beobachter geworden sind und daß sie nur selten mehr den Drill für ein Erziehungsmittel halten. Auch die Aufmerksamkeit und das Interesse für das Wohlergehen des Kindes sind ungleich größer geworden, wo nicht das Massenelend allen Eifer und alles Verständnis erstickt oder den Zusammenhang von Eltern und Kindern zerreißt. Man trachtet mehr als früher nach körperlicher Ausbildung, weiß Verstocktheit und Krankheit besser zu trennen, sucht seine Grundsätze über Kinderhygiene den modernen Anschauungen anzupassen und beginnt sich loszulösen vom Wunderglauben an den Stock, von der Fabel, daß die Strafe im Kinderleben die Stittlichkeit stärke.

Und wir Pädagogen wollen uns nicht aufs hohe Roß setzen. Wir wollen gerne zugeben, daß unsere Wissenschaft keine allgemeingültigen Regeln liefert. Auch daß sie nicht abgeschlossen, sondern in Entwicklung begriffen ist. Daß wir das Beste, was wir haben, nicht erdenken oder erdichten können, sondern in vorurteilsloser Beobachtung erlernen. Auch läßt sich Pädagogik nicht wie eine Wissenschaft, sondern nur als Kunst erlernen, und daraus geht hervor, daß mancher ein Künstler sein kann, bevor er ein Lernender war.

Das »Werk der guten Kinderstube« ist unvergänglich und ein sicheres Bollwerk fürs Leben. Wer möchte es nicht seinen Kindern schaffen? Am Willen fehlt es wohl nie. Was am meisten die ruhige Entwicklung des Kindes stört, ist die Uneinigkeit der Eltern und einseitige, oft unbewußte Ziele und Absichten des Vaters oder der Mutter. Von diesen soll nun die Rede sein.

Wie oft ist eines oder beide der Elternteile in seiner geistigen Reifung vorzeitig stecken geblieben! Nicht wissenschaftliche, sondern soziale Reife kommt in Betracht, die Schärfung des Blicks für Entwicklung, für neue Formen des Lebens. Schon das Leben in der Schule und der Umgang mit Altersgenossen fördert häufig innere Widersprüche zutage, in denen die Achtung vor dem Elternhause verfliegt. Wird diese nun gar mit Gewalt festzuhalten versucht, so kommt das Kind leicht zu offener oder heimlicher Auflehnung. Es sieht die Eltern so oft im Unrecht, daß sein Geltungstrieb in ein einziges trotziges Sehnen aufläuft: alles im Gegensatz zu den Eltern zu tun! In den äußersten Fällen merkt man leicht am Gehaben des Kindes: die Eltern sollen nicht recht behalten! Der rückwärts gewandte Blick der Eltern hindert oft ihr Vorwärtsschreiten, sie hängen oft an Dogmen und veralteten Erziehungsweisen fest, weil sie im Kampf des Lebens sich und ihre Familie isoliert haben. Nun ist der Fortschritt des sozialen Lebens an ihnen vorübergegangen, sie sind von der Überlieferung alter Erziehungsweisen gefangen gesetzt, bis das Kind aus der Schule die neuen Keime nach Hause trägt und die Erkenntnis seines Gegensatzes zu seinen Eltern täglich stärker fühlt und erlebt. Auch die Verschiedenheit der Wertschätzung fällt ins Gewicht. In der engen Kinderstube gilt der Knabe als Genie, in der Schule stößt man sich an seinen frech-albernen Äußerungen. Zu Hause zurückgesetzt, bringt das Kind sich in der Schule zur Geltung. Oder es tauscht eine traditionell unzärtliche Häuslichkeit gegen verständnisvolles Entgegenkommen bei Altersgenossen und Lehrern. Dieser Umschwung in den Beziehungen tritt häufig ein und macht das Kind für lange Zeit unsicher oder sicherer.

Es muß ein Einklang bestehen zwischen den Forderungen in der Kinderstube und der Entwicklung unseres öffentlichen Lebens. Denn gerade die Kinder, die erst in der Schule und in der Außenwelt umsatteln müssen, die auf andersgeartete, kaum vermutete Schwierigkeiten stoßen, sind am meisten gefährdet. Die Eltern könnten es zur Not erreichen, daß sich das Kind ihnen völlig unterordnet und seine Selbständigkeit begräbt. Die Schule aber und die Gesellschaft von Kameraden, von der Gesellschaft der Erwachsenen ganz zu schweigen, wird sich gerade an dieser Hilflosigkeit und an diesem unselbständigen Wesen am meisten stoßen, sie werden den Schwächling verwerfen, krank machen oder erst aufrütteln müssen, wobei recht oft der kaum gebändigte Trotz über alles Maß hinauswächst und sich in allerlei Verkehrtheiten austobt. Oder Feigheit und Schüchternheit schlagen Wurzel.

Zeigt die Isolierung der Familie oft solche Fehler, so sollte man meinen, daß ein einfacher Hinweis bereits genügt. Weit gefehlt! Eine genaue Einsicht hat gelehrt, daß die Eltern oder wenigstens ein Teil derselben nicht imstande sind, ihre oft unbewußte Stellung zur Gesellschaft aufzugeben, und daß sie immer wieder versuchen, innerhalb ihrer Familie sich die Geltung zu verschaffen, die ihnen die Außenwelt verwehrt hat. Wie oft dieses Gehaben in offene und versteckte Tyrannei ausartet, lehren die Krankheitsgeschichten der später nervös gewordenen Kinder. Bald ist es der Vater, der seine eigenen schlimmen Instinkte fürchtet, sie mit Gewalt bezähmt und nun bei den Kindern deren Ausbruch und Spuren mit Übereifer zu verhüten sucht, bald eine Mutter, die ewig ihre unerfüllten Jugendphantasien betrauert und ihre Kinder zum Opfer ihrer unbefriedigten Zärtlichkeit oder ihrer Launenhaftigkeit auserwählt. Oder: der Vater sieht sich von einem heißersehnten Lebensziel abgeschnitten und peitscht nun den Sohn mit ängstlicher Hast, daß der ihm die Erfüllung seines Sehnens bringe. Hier eine Mutter, die sich zum übereifrigen Schutzengel ihrer Kinder aufwirft, jeden Schritt der vielleicht bereits Erwachsenen bedauert, überall Ängstlichkeit und Feigheit züchtet, jede Willensregung des Kindes als gefahrvoll bejammert, vielleicht nur, um sich ihre Unentbehrlichkeit zu beweisen, vielleicht nur um »der Kinder wegen« in einer liebeleeren Ehe standzuhalten, vielleicht nur um weiteren Kindersegen als Überlastung abzuwehren. Im folgenden will ich einige dieser typischen Situationen zu schildern versuchen. Immer werden wir es mit Eltern zu tun bekommen, die einem Gefühl der eigenen Unsicherheit durch übertriebene Erziehungskünste zu entkommen suchen. Ihr ganzes Leben ist mit ausgeklügelten »Sicherungstendenzen«1 durchsetzt. Mit letzteren greifen sie in die Erziehung ein, machen ihre Kinder ebenso unsicher und im schlechten Sinne weibisch, wie sie selbst es sind, und legen so den Keim zu den stürmischen Reaktionen des »männlichen Protestes«, durch die der Geiz, der Ehrgeiz, der Neid, der Geltungsdrang, Trotz, Rachsucht, Grausamkeit, sexuelle Frühreife und verbrecherische Gelüste maßlos aufgepeitscht werden können. Trotz des fortschreitenden Zusammenbruchs ihres Erziehungswerkes halten sich solche Eltern häufig für geborene Pädagogen. Oft haben sie den Schein für sich: sie haben alle kleinen Möglichkeiten in den Bereich ihrer Erwägungen gezogen. Nur ein Kleines haben sie vergessen: den Mut und die selbständige Energie ihrer Kinder zu entwickeln, den Kindern gegenüber ihre Unfehlbarkeit preiszugeben, ihnen den Weg frei zu geben. Mit beharrlicher Selbstsucht, die ihnen selbst nicht bewußt wird, lagern sie sich vor die Entwicklung der eigenen Kinder, bis diese gezwungen sind, über sie hinwegzuschreiten.

Manchmal wird ihnen der Schiffbruch offenbar: dann sind sie geneigt, diesen »Schicksalsschlag« als unbegreiflich hinzustellen und die Flinte rasch ins Korn zu werfen. In solchen Fällen muß man — man hat es ja mit nervös Erkrankten zu tun — vorsichtig eingreifen. Belehrungen werden regelmäßig als Beleidigungen aufgenommen. Manche verstehen es mit großer Geschicklichkeit, durch heimliche Sabotage, ein Fiasko der pädagogischen Ratschläge herbeizuführen, um den Arzt und Pädagogen bloßzustellen. Feines Taktgefühl, unerschütterliche Ruhe und Vorhersage der zu erwartenden Schwierigkeiten bei Eltern und Kindern sichern den Erfolg.

Und nun zu unseren Typen, zu den Fragen nach der Erziehung der Eltern.

 

• I. Schädigung der Kinder durch Übertreibung der

   Autorität.

• II. Schädigung der Kinder durch die Furcht vor

   Familienzuwachs.

• III. Schädigung des »Lieblingskindes« und des

   »Aschenbrödels«.

 

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1) Der Nervenarzt muß sie zu den »Nervösen« rechnen, mögen sie in Behandlung stehen oder nicht. Ihre übertriebene Empfindlichkeit, ihre Furcht vor Herabsetzung und Blamage rufen die oben erwähnten »Sicherungstendenzen« hervor, die ich als den wesentlichen Charakter der Neurose wiederholt beschrieben habe.


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