2. Raymundus Lullus


Eine noch merkwürdigere Gestalt als Roger Bacon ist der Spanier Ramon Lull (Raymundus Lullus, 1235 bis 1315), der nach einem abenteuerlichen weltlichen Leben sich auf das Bekehren der Averroisten verlegte und die Wahrheiten des Christentums auf eine neue, untrügliche Art beweisen wollte. Er verfaßte zu diesem Zweck eine ungeheure Masse - wie es heißt 400, nach anderen sogar 4000! - Schriften, von denen 45 in acht Bänden 1721 bis 1740 ediert worden sind. Außer durch seine alchimistischen Schriften und Entdeckungen - unter denen neben vielem Unsinn wirklich einige wichtige sich befinden - ward er besonders berühmt durch sein Hauptwerk: Die große Kunst (Ars generalis). Alle möglichen aus Aristoteles, der Scholastik und - der Kabbalah aufgerafften Begriffe werden danach auf die Fächer von sieben konzentrischen Kreisen, deren jeder ein besonderes Wissensgebiet (z.B. A die ganze Theologie, B die Psychologie) darstellt, verteilt. Je nachdem man nun diese Kreise um einen gemeinsamen Mittelpunkt sich drehen läßt, lassen alle gewünschten Kombinationen sich mit Leichtigkeit herstellen und so alle - gewünschten Wahrheiten, auch die von Thomas als unbeweisbar angesehenen, wie Trinität und Inkarnation, »beweisen« Der erste Kreis enthält z.B. 16 durch die Buchstaben B bis R bezeichnete Eigenschaften Gottes; durch Kombination derselben (BB, BC, BD usw.) entstehen 136 weitere Begriffe usf. Man wird uns wohl erlassen, auf diesen spitzfindigen Unsinn weiter einzugehen. (Näheres findet der dafür Interessierte in Erdmanns Grundriß I, S. 373-384.) Die Schreibweise ist in hohem Grade schwülstig und überschwenglich, dabei anspruchsvoll. Dass diese ars investigandi (des Aufsuchens), demonstrandi et inveniendi trotzdem, namentlich in mnemotechnischer Beziehung, nicht ganz ohne Nutzen war und eine geistreich erdachte Schablone für das ohnehin so sehr an das Gedächtnis appellierende scholastische Denken bot, soll damit nicht geleugnet werden. Jedenfalls fand sie zahlreiche Anhänger; es bildete sich eine förmliche Sekte der Lullisten, die ihren Meister als den »Dr. illuminatissimus« feierte.

Ähnliche Tendenzen wiederholen sich zwei Jahrhunderte später bei seinem Landsmann, dem in Toulouse lehrenden und noch von Montaigne (s. S. 319) verteidigten spanischen Arzte Raymund von Sabunde. Nur dass dieser sich weniger als dialektische, denn als gemütvollbeschauliche Natur zeigt, wenn er in seiner Natürlichen Theologie oder dem Buch der Geschöpfe (1436) Natur und Bibel, das »lebendige« und das »geschriebene« Buch der göttlichen Offenbarung, in Übereinstimmung zu bringen sucht, indem er von den vier Stufen des esse, vivere, sentire und intellegere ausgeht und ontologische, physiko-teleologische und moralische Beweisführung mit mystischen Gedanken verbindet.


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