2. Gerbert


2. So hoch Eriugenas Denken über dem seiner Zeitgenossen und nächsten Nachfolger stand oder vielleicht gerade um dieses Abstandes willen, gewann er keine unmittelbare und nachhaltige Bedeutung, wie denn überhaupt die karlingische Kultur rasch in Trümmer ging. Das 10. Jahrhundert war in Frankreich und namentlich in Italien im ganzen eine Periode der Unkultur, Sittenroheit, Unwissenheit und des Aberglaubens, und in Deutschland ließ die tatbewegte Zeit der philosophischen Muße keinen Raum. Gegen Ende des Jahrhunderts erglänzt mit einem Male ein neues Licht in Gestalt des als Sylvester II. auf den päpstlichen Stuhl erhobenen Gerbert (• 1003), eines großen Geistes, der dem blöden Auge der Zeitgenossen als unheimlicher Zauberer erschien. In dem Kloster Aurillac (Auvergne) vorgebildet, nacheinander Erzbischof von Reims, Ravenna und Papst (999), ein eifriger Liebhaber der Alten, aber noch mehr der Mathematik, ausgezeichnet als Lehrer, teilte er seinen Schülern nicht ein rohes Vielerlei von Wissen mit, sondern baute vor ihren Augen in den Gesetzen der Natur, der Sprache und des Denkens ein System natürlicher Weltanschauung auf. Die sieben freien Künste waren hier zu einem einheitlichen Ganzen verbunden, selbst die Theologie nur eine neben den anderen, alle Einzelwissenschaften untergeordnet der Philosophie. Auf diesem Gebiete wenigstens gibt es auch bei ihm keine übernatürliche Erleuchtung, sondern Vertrauen zu der Zuverlässigkeit des natürlichen Erkennens, das nur soweit reicht als das Gesetz! Dann freilich folgt die Ergänzung durch die Welt des Glaubens. »Wo die Worte fehlen, schwelgt der Glaube,« setzt er als Motto über eine seiner theologischen Schriften, welche das Dogma der Transsubstantiation verteidigt. Wie er sich das Verhältnis dieser übernatürlichen Welt des Glaubens zu der natürlichen des Wissens gedacht hat, ist unbekannt. In seinem praktischen Wirken jedenfalls verließ, er sich auf seinen weltlichen Verstand, wenngleich er freilich mit religiöser Überschwenglichkeit von der über alles Weltliche erhabenen Würde des Priestertums zu reden wußte.


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