2. Thomas von Aquin


a) Leben. Als Sohn eines Grafen in der Nähe von Aquino im Neapolitanischen 1225 oder 1227 geboren, trat Thomas schon in seinem sechzehnten Jahre in den Dominikanerorden ein und wurde bald der Lieblingsschüler Alberts, dem er nach verschiedenen Stätten seiner Wirksamkeit, wie Köln und Paris, folgte. Unter immer stärker werdendem Beifall trat er dann selbst zu Paris, Köln, Bologna, Rom und Neapel als Lehrer auf. Er starb schon 1274, als er eben seine Reise von Neapel zum Konzile von Lyon angetreten hatte. Von der Kirche ward er früh als »Dr, egregius«, »Dr. communis«, seit dem 15. Jh. häufiger als »Dr. angelicus« gepriesen, schon 1323 heilig gesprochen, 1567 von Pius V. feierlich als fünfter großer Kirchenlehrer neben Augustin, Hieronymus, Ambrosius und Gregor proklamiert.

b) Schriften. Die Werke des Thomas sind häufig gedruckt worden, zuerst zu Rom 1570 f. in 18 Foliobänden, dann 1594 ff., 1612, 1636 ff., 1660, 1745-88, 1852-73 (Parma), 1872 ff. (34 Quartbände, Besançon und Paris). Von der neuesten, »auf Befehl und Kosten« Papst Leos XIII. von dem Dominikanerorden seit 1882 veranstalteten Ausgabe (Rom und Freiburg i. B.) waren bis 1913 zwölf Folianten erschienen. Daneben existieren noch zahlreiche Ausgaben der Einzelschriften, besonders der Summa theologica (s. u.). Seine Schriften lassen sich in vier Gruppen einteilen: 1. Kommentare zu Aristoteles (denjenigen seines Lehrers Albert durch bessere Übersetzung, Latinität und Darstellungsweise überlegen), 2. sein philosophisches Hauptwerk De veritate fidei catholicae contra Gentiles (die Heiden), gewöhnlich als Summa contra Gentiles zitiert, in vier Bücher und nach scholastischer Methode (§ 64) in 464 Kapitel eingeteilt, 3. die beiden theologischen Hauptwerke: der Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus und die (unvollendete) Summa theologica oder theologiae, 4. eine Anzahl kleinerer Einzelabhandlungen (opuscula). Breit und unkünstlerisch im Stil sind sie alle.

c) Lehre. Schon in dem Titel des philosophischen Hauptwerks liegt sein Grundcharakter beschlossen; es ist eine »Verteidigung des katholischen Glaubens wider die Heiden«, d.h. vor allem gegen die arabischen Aristoteliker, von den Griechen namentlich gegen Demokrit, Empedokles und Anaxagoras. Aber die Verteidigung ist kein bloßer Kampf, sondern mit einer Aufnahme antiker Weltanschauung als Vorstufe der christlichen verbunden. Wir betrachten daher zunächst

α) das Verhältnis von Theologie und Philosophie. Das Charakteristische und in gewissem Sinne Großartige des schon von Albert vorbereiteten thomistischen Denkens besteht darin, dass es die aus Aristoteles geschöpfte antike Gedankenwelt nicht bloß bewußt, sondern auch methodisch in diejenige der Kirche einordnet und so ein in seiner Art imposantes System aufbaut. Die natürliche Vernunft (lumen naturale) wird nicht verworfen, sondern, was durch sie als unumstößlich erkannt ist, hat Geltung auch für die Theologie. Wo uns aber »das natürliche Licht« im Stiche läßt, hat die Offenbarung einzutreten. So kann z.B. auch die Vernunft schon eine Reihe von Beweisen für das Dasein Gottes auffinden (Schluß von dem Bewegten auf den Beweger, von der Zweckmäßigkeit der Welt auf ihren Schöpfer u. a.), dagegen nicht für die Mysterien der Dreieinigkeit, des jüngsten Gerichts, der Sakramente, des Fegefeuers usw. Hier kann sie nur helfend hinzutreten, durch Analogien erläuternd, gegnerische Einwürfe widerlegend, - denn diese Offenbarungslehren sind nicht wider-, sondern nur übervernünftig. Vernunftbeweise können auf diesem Gebiete nur dann beweisend sein, wenn man von vornherein das Offenbarungsprinzip und die Offenbarungsurkunden anerkennt, wozu uns ein innerer Zug und die äußere und innere Wunderkraft des Christentums unwiderstehlich treibt. So ist schließlich alle menschliche Wissenschaft doch nur eine Magd der Theologie, die Natur eine Verläuferin (praeambula) der Gnade. Aber die Gnade hebt die Natur nicht auf, sondern vollendet sie. Deshalb kann Thomas den gesamten weltlichen Lebenskreis, soweit er sich dem Christentum anpassen läßt, als Vorstufe zu dem Gebiet der Offenbarung anerkennen und seinem Systeme einfügen.

β) Metaphysik und Psychologie. Nicht bloß des Aristoteles gesamte Logik kann als unschädlich der Kirchenlehre einverleibt werden, sondern auch fast die ganze Psychologie und Ethik, ja mit gewissen Modifikationen auch die Metaphysik; woraus, nebenbei bemerkt, der konservative Charakter des Aristotelismus ersichtlich ist. Mit Aristoteles legt auch Thomas das größte Gewicht auf die Unterscheidung von Materie und Form. Das Prinzip der »Individuation« der Einzeldinge liegt darin, dass die Materie durch die Formen bestimmt wird (materia signata), von den ersten, Raum und Zeit, die dem Stoff untrennbar anhaften (materielle Formen), bis zu den Intelligenzen oder stofflosen, »abgesonderten« Formen, deren höchste, schlechthin einfache die Gottheit ist, die Ursache (causa efficiens) der von ihr aus dem Nichts hervorgerufenen Welt und ihr Endzweck (causa finalis).

Daraus folgt Thomas' Stellung zu dem Universalienproblem in dem Sinne des gemäßigten Realismus. - Die menschliche Seele ist (nach Aristoteles) zugleich die niedrigste der »abgesonderten« Formen und die Entelechie des Leibes, also gewissermaßen die oberste materielle Form. Es existiert eine stetige Entwicklungsreihe von den niedrigsten Daseinsformen über das pflanzliche (anima vegetativa) und tierische (a. sensitiva) Leben hinauf zu der vernünftigen (a. rationalis) Seele des Menschen und weiter der Welt reiner Geister (Engel), die u. a. auch die Gestirne lenken, bis zur reinen Tätigkeit und absoluten Form, d. i. der Gottheit, die von Anfang an den Hauptgegenstand von Thomas' Forschung bildet. Eine gewisse Selbständigkeit des Naturlaufs und des Menschen wird insofern anerkannt, als Gottes Güte den Naturdingen eine selbsttätige Kausalität verliehen hat, wonach Naturlauf, Zufall (Kreuzung von Mittel und Ursache) und freier Wille mit seiner Weltregierung vereinbar sind. Die menschliche Erkenntnis entsteht dadurch, dass die äußeren Gegenstände der Seele Abbilder von sich liefern. Die Einteilung der Seelenkräfte und -tätigkeiten ist dem Aristoteles entnommen; dagegen wird, unter scharfer Bekämpfung des Averroës, die Unsterblichkeit der Seele (nicht bloß des Geistes) im christlichen Sinne gelehrt; sie folgt im wesentlichen aus ihrer Nichtstofflichkeit.

γ) Wie Metaphysik und Psychologie, so zeigen auch Ethik und Politik den aristotelischen Grundzug. Das sittliche Ziel des Menschen liegt in der Entwicklung seiner vernünftigen Natur. Eine weitere Begründung der Ethik wird nicht gegeben, dagegen ein sehr verzweigtes System von Tugenden und Affekten entworfen. Zu den vier antiken Kardinaltugenden kommen auch bei Thomas die drei christlichen (Glaube, Liebe, Hoffnung) hinzu. Jene, die vom Menschen durch Übung erworben werden können, führen zur natürlichen, aber unvollkommenen, diese, »von Gott eingegossen«, zur vollkommenen und ewigen, himmlischen Glückseligkeit. Wie bei Aristoteles, besteht die Tugend in der rechten Mitte, und haben die dianoëtischen den Vorrang vor den ethischen. Denn Thomas ist entschiedener Intellektualist. Nicht dem Willen erteilt er den Primat zu, sondern der Erkenntnis. Der Wille kann frei wählen, aber er fällt seine Entscheidung auf Grund des Wissens, wie denn »Gewissen« (conscientia) vom Wissen (scire) stammt. Selbst der göttliche Wille ist durch den göttlichen Intellekt an die göttliche Weisheit gebunden. Das höchste Gut besteht in der Seligkeit und diese in der unmittelbaren Anschauung (visio) Gottes. Überhaupt steht das beschauliche Leben unserem Mönche höher als das tätige. Auf die übrigen, namentlich in der Summa theologica außerordentlich weit ins einzelne ausgesponnenen Ausführungen und Begriffsunterscheidungen, die mehr für die Theologie Interesse haben, einzugehen, können wir uns sparen; ihren inneren Charakter finden wir in jeder heutigen römisch-katholischen Moraltheologie wieder.

Während das außertheologische Interesse Alberts hauptsächlich dem naturwissenschaftlichen Gebiete galt, so ist das des Thomas in erster Linie den politischen Fragen zugewandt. Auch hier - es kommen namentlich die Schrift De regimine principum (die übrigens nicht in allen ihren Teilen echt ist) und sein Kommentar zu Aristoteles' Politik in Betracht - Aufnahme des Aristotelismus in den kirchlichen Gedankenkreis. Bei Thomas findet sich keineswegs mehr die starre Entgegensetzung des sündigen weltlichen und des Gottesstaates, wie bei Augustin. Sondern der Mensch ist als politisches Lebewesen durch die Natur auf Geselligkeit und Verbindung in Familie, Gemeinde und Staat hingewiesen. Der letztere ist eine rein menschliche Einrichtung, sein Zweck, die Tugend zu verwirklichen und nach Möglichkeit irdische Glückseligkeit herzustellen. Auch das Recht ist göttlichen Ursprungs. Die Monarchie ist die beste, weil nützlichste, Staatsform, soll aber mit teils aristokratischen, teils demokratischen Garantien gegen Ausartung in Despotismus umgeben werden. Von sozialen Gedanken enthält Thomas' »Idealstaat« sehr wenig. Lauter Gemeinbesitz würde nach ihm nur Unfrieden stiften. Hörigkeit und Leibeigenschaft hält er für ein ebenso natürliches und unantastbar soziales Erzeugnis, wie Aristoteles die Sklaverei. Für den Handel, den er für ein schimpfliches Gewerbe hält, zeigt der Scholastiker kein Verständnis. Übrigens ist dieser ganze weltliche Staat doch nur Vorbereitung auf den himmlischen, dessen sichtbaren Ausdruck auf Erden die römisch-katholische Kirche darstellt. Ihrem Oberhaupte, dem Papste, müssen daher alle christlichen Könige ebenso gehorchen wie »unserem Herrn Jesus Christus selber« (vgl. J. Baumann, Die Staatslehre des h. Thomas von Aquino, Leipzig 1873).

So zeigt sich Thomas als der rechte Vertreter mittelalterlich-kirchlicher Weltanschauung, die er in ein unleugbar mit großem Geschick und Scharfsinn im einzelnen ausgedachtes System gebracht hat. Er hat die antike Forschung mit dem Denken des christlichen Abendlands enger verknüpfter hat zur logischen Schulung der Geister beigetragen, ja durch seine Grenzabsteckung zwischen natürlichem Wissen und Offenbarung die künftige Selbständigkeit der Wissenschaft anbahnen helfen; und er ist, wo ihn nicht, wie z.B. gegenüber den Ketzern, sein kirchlicher Standpunkt verblendet, eine milde und edle Natur. Die Einwände, welche die selbständig gewordene Wissenschaft und Philosophie gegen seine Lehre erheben muß, treffen nicht seine Person, sondern die von ihm vertretene Weltansicht.

Thomas von Aquin hat schon unter seinen Zeitgenossen, und zwar nicht nur in seinem Orden, zahlreiche Anhänger gefunden. Wir nennen von ihnen den Polyhistor Vincenz von Beauvais (• 1264) wegen seines Speculum magnum, einer Enzyklopädie des damaligen Wissens, und Petrus Hispanus (• 1277 als Papst Johann XXI.), der des Byzantiners Psellus (11. Jahrhundert) Synopsis als logisches Schulbuch (summulae logicae) bearbeitete; ihm entstammen die bekannten Memorialbezeichnungen der Arten des Schlusses: Barbara, Celarent usw. Bedeutsamer ist, dass auch der größte Dichter des Mittelalters, Dante (1265 bis 1321), in seiner Divina Commedia und besonders in seiner politischen Abhandlung De monarchia (um 1309, übersetzt von Hubatsch 1872) sich von thomistischen Anschauungen beeinflußt zeigt: so dass man, wie Bäumker meint, »aus den Werken des Aquinaten einen Kommentar zu ihnen zusammenstellen« könnte. Freilich mit einem großen Unterschiede: aus der Unterordnung des Imperium unter das sacerdotium ist bei dem großen Ghibellinen eine Nebenordnung geworden. Es zeigen sich die ersten Keime einer neuen Zeit.


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