1. Philosophie des Islam


A. Im Morgenland.

 

Die Neuplatoniker der letzten, von Justinian aufgelösten athenischen Philosophenschule hatten sich (§ 50) nach Persien und Syrien gewandt, ohne hier den erhofften Einfluß zu finden. Dagegen wurde der der Kirche genehmerere Aristotelismus in einzelnen syrischen Schulen gepflegt. So lernten die Araber, als sie ihren Siegeslauf durch das gesamte Morgenland vollendet hatten und sich der Pflege der Wissenschaften zu widmen begannen, durch syrische und arabische Übersetzungen fast sämtliche aristotelische Schriften, von Plato dagegen nur Timäus, Republik und Gesetze kennen. Bald überflügeln sie ihre Lehrmeister. Am Anfange des 9. Jahrhunderts herrschte am Kalifenhofe zu Bagdad unter der Herrschaft der Abbassiden bereits reges wissenschaftliches Leben.

Praktische Naturkenntnisse, d.h. Astronomie, etwas Mathematik, praktische Chemie und Medizin in roher Form waren bei den arabischen Wüstenbewohnern und Händlern seit alters heimisch; dazu war dann der religiöse Aufschwung durch Mohammeds strengen und reinen Monotheismus gekommen. Daher ihr Interesse für die naturwissenschaftlichen wie für die metaphysischen Schriften des Aristoteles, welche letzteren ja einen theologischen Zug trugen und ihnen überdies zunächst in neuplatonischer Übersetzung und Auslegung bekannt wurden. Während sie rasch über die Naturkenntnisse des griechischen Philosophen hinauswuchsen, blieb dieser in der Theorie ihr Meister.

So sind die ersten in Bagdad lebenden Philosophen, die deutlicher hervortreten, Al-Kindi (• um 870) und Alfarabi (• um 950 in Damaskus), zugleich auch Ärzte, Mathematiker und Astrologen, in der Philosophie nicht viel mehr als neuplatonische, wenn auch selbstdenkende, Ausleger des Aristoteles. Sie gehörten der freidenkerischen Richtung der Mutaziliten d.h. der »sich Absondernden« an, die der Autorität des Koran die freie Forschung, der Offenbarung die Vernunft als höchste Instanz entgegensetzten. Als unentbehrliche Vorstufe zur Metaphysik gilt Al-Kindi, übrigens dem einzigen Araber von Geburt unter diesen und den folgenden Denkern, das Studium zunächst der Logik und Mathematik, dann der Naturwissenschaften. Ein eigentümliches, aus aristotelischen, neuplatonischen und neupythagoreischen Elementen gemischtes System, das zugleich ethisch-religiösen Charakter trägt und das ganze damalige Wissen enzyklopädisch zusammenfaßt, bildete der gegen Ende des ersten christlichen Jahrtausends in Basra entstandene Geheimbund der von der mohammedanischen Orthodoxie verfolgten »Lauteren « oder »Aufrichtigen « aus, deren Schriften, in Kairo 1889 verboten, neuerdings in Bombay in einer vierbändigen Ausgabe erschienen sind, während der wahrscheinlich von der indischen Philosophie beeinflußte Orden der Sufis, d. i. »Wollträger«, durch asketischen Verzicht auf alle irdischen Güter zur Vereinigung mit Gott zu gelangen strebte.

Dem reinen Aristotelismus näher steht der bedeutendste unter den morgenländischen Ärzten und Philosophen Avicenna (eigentlich Ibn Sina20, 980-1037, meist in Persien lebend), dessen »Kanon der Medizin« jahrhundertelang Christen und Mohammedanern als Grundlage des medizinischen Unterrichts gedient hat. Philosophisch erscheint er namentlich dadurch bedeutsam, dass er sozusagen den Universalienstreit im Morgenlande bereits geschlichtet hat, ehe er im Abendlande entbrannte. Er lehrte nämlich, die allgemeinen Begriffe seien ante res im göttlichen Verstande, in rebus in den natürlichen Dingen, post res in unseren abstrahierten Begriffen. Neuplatonische Elemente liegen in seiner Lehre von der Entfaltung der Welt aus dem einen Absoluten, Vollkommenen, Guten (der Gottheit), ihrem Hinstreben zum Göttlichen, ihrer Erleuchtung durch dasselbe. Dagegen gelten ihm Welt und Materie als ewig und strengen Gesetzen unterworfen. Seine Psychologie trägt ausgeprägten Erfahrungscharakter. Daneben hat er jedoch auch durchaus mystische Schriften verfaßt.

Avicennas Philosophie erfuhr Angriffe von zwei Seiten. Einmal seitens der orthodoxen Dogmatiker, der sogen. Mutakallimun (oder Mutekallemin), wörtlich = Sprecher, d.h. Lehrer des Worts, die im Gegensatz zu Avicennas Entfaltungstheorie einen merkwürdigen, mit unaufhörlichem Werden verbundenen, aber beständigen göttlichen Eingriffen unterliegenden Atomismus aufstellten, nach dem Gott z.B. auch Feuer und Kälte miteinander verbinden kann. Anderseits von dem um 1059-1111 lebenden Perser Alghazel, der sich in seiner skeptisch gehaltenen Destructio philosophorum (die lateinischen Übersetzungen dieser Schriften stammen in der Regel aus nicht viel späterer Zeit) die Widerlegung der Philosophie zum Ziele setzte, um dann in seinen theologischen Werken ausgeprägter Rechtgläubigkeit zu huldigen, indem er alle Erkenntnisse in solche teilt, die der Religion nutzen, und die ihr schaden. In der Tat hatte seine populäre Wiederbelebung der Religionswissenschaft, die das Wollen über das Erkennen stellt, den gewünschten Erfolg. Die Werke der gelehrten Philosophen, die keinen Rückhalt in den Massen besaßen, flammten auf den Scheiterhaufen zu Bagdad, während Alghazels Schrift noch 1884 in Kairo neugedruckt worden ist. Die freiere Philosophie erhielt durch seinen unphilosophischen, aber vom Staate und der »Kirche« begünstigten Skeptizismus einen solchen Stoß, dass sie aus dem Orient, wo überhaupt das geistige Leben des Islam bald zusammenbrach, auswanderte nach dem fernen Westen, wo sich das muselmännische Schwert ein neues Reich gegründet hatte.

 

B. In Spanien.

 

Spanien war das Land, in dem im 12. Jahrhundert Künste und Wissenschaften mehr als in jedem anderen blühten, und vor allem durch das von ihnen beherrschte Spanien sind die Araber die geistigen Vermittler zwischen Orient und Okzident geworden. Auch die im folgenden genannten Philosophen sind zugleich Ärzte, Mathematiker, Astronomen oder Alchimisten. Von ihnen behandelt

1. Avempace (• 1138 in Fez) in seiner Leitung des Einsamen die Stufen der menschlichen Erkenntnis von dem tierischen Instinkte an bis hinauf zu dem aus der Gottheit fließenden reinen Denken, das mit seinem Gegenstande eins ist. Sein Nachfolger Abubaker (Ibn Tofail • 1185) legte diese stufenweise Entwicklung in einem philosophischen Roman: Der Lebende, Sohn des Wachenden (deutsch unter dem Titel Der Naturmensch von Eichhorn, 1783, und Das Erwachen der Seele, Rostock 1907) dar, dessen Held, auf einer einsamen Insel ohne Eltern entstanden, abgeschlossen von aller Welt, völlig aus sich heraus zur wahren Erkenntnis und Religion gelangt, die mit der Weisheit eines zu ihm verschlagenen treuen Bekenners des Islam durchaus übereinstimmt. Allein die reine Wahrheit ist nur für wenige Starke, nicht für die autoritätsbedürftige Masse, wie beide bei der Fahrt zu einer anderen Insel erfahren. Das Höchste bleibt für Abubaker, trotz seiner Betonung der menschlichen Selbständigkeit, die Vereinigung mit Gott.

2. Der berühmteste, wenn auch nicht selbständigste der arabischen Philosophen in Spanien ist sein Schüler Averroës (Ibn Roschd), geb. 1126 aus vornehmer Familie zu Cordova, Theologe, Jurist, Mediziner und Philosoph zugleich, eine Zeitlang Richter, dann Leibarzt des Kalifen, zuletzt aber wegen seiner Freidenkerei vom Hofe verbannt, • 1198 in Marokko. Seine Schriften, insbesondere seine zahlreichen, zum Teil in dreifacher Bearbeitung verfaßten, Kommentare21 zu Aristoteles, den er übrigens nur durch arabische Übersetzungen kannte, sind zusammen mit des letzteren Schriften im 15. und 16. Jahrhundert sehr häufig gedruckt worden. Von den eigenen Werken des Averroës heben wir hervor die (nur in einer schlechten lateinischen Übersetzung erhaltene) gegen Alghazel gerichtete Schrift Destructio destructionis und seine Metaphysik, beide verdeutscht und erläutert von M. Horten, Halle 1912 bezw. Bonn 1913. Das Hauptwerk über ihn E. Renan, Averroès et l'Averroisme, Paris 1852, 4. Aufl. 1882.

Averroës ist durchaus Aristoteliker. Aristoteles ist »die Regel und das Muster, das die Natur erfand, um die höchste menschliche Vollendung zu zeigen«, er »ward uns durch die göttliche Vorsehung gegeben, damit wir wüßten, was zu wissen möglich ist.« So hält er denn auch, trotz des fortgeschrittenen Naturwissens, durchaus an der durch die Neuplatoniker überlieferten aristotelischen Welt- und Naturauffassung fest. Über der unvollkommenen, wandelbaren »sublunarischen« Welt existiert eine höhere, unvergängliche über den Sternen. Die Formen liegen als keimartige Substanzen von vornherein in der von Ewigkeit her vorhandenen Materie, aus der sie sich durch Einwirkung der höheren Formen (Intelligenzen), in letzter Linie Gottes, zur Wirklichkeit entwickeln. Die Seele des Einzelmenschen ist an seinen Körper (die Gehirnmitte) gebunden, daher sterblich, unsterblich dagegen der allen Menschen innewohnende Geist (= Vernunft), durch dessen Ausbildung sich der Mensch schon hienieden mit dem »tätigen Geiste« vereinigen kann. Ähnlich Abubaker und verschiedenen christlichen Scholastikern lehrt auch Averroës, dass Philosophie und geoffenbarte Religion an sich nicht im Widerspruche miteinander stehen. Die letztere ist für die große Menge und muß sich daher der Bilder bedienen; die Philosophie hat zu erklären und zu beweisen. Die würdigste Verehrung Gottes, der, weil vollkommen, auch bedürfnis- und willenlos ist, besteht in der wissenschaftlichen Erkenntnis seiner Werke.

Die philosophiegeschichtliche Bedeutung des Averroës beruht im wesentlichen darauf, dass er die Ergebnisse der arabisch-aristotelischen Philosophie als deren letzter hervorragender Vertreter zusammengefaßt und durch seine ins Lateinische übersetzten zahlreichen Schriften im gelehrten Abendlande, namentlich in Frankreich (Paris) und Italien, verbreitet hat (vgl. Werner, Der Averroismus in der christlich-peripatetischen Philosophie des späteren MA. Wien 1881). Dadurch, dass er die naturalistische Seite des Aristoteles (Ewigkeit der Welt, Wesenseinheit der Vernunft, Verzicht auf individuelle Unsterblichkeit) betonte, naturwissenschaftliche Kenntnisse verbreitete und für Aufklärung im Sinne der natürlichen Religion eintrat, wirkte er zersetzend auf die Scholastik (vgl. S. 296); durch die scharfe Ausprägung seines aristotelischen Standpunktes trug er anderseits dazu bei, ihre Grundbegriffe zu befestigen. Auf seine Glaubensgenossen, deren Macht und geistiger Einfluß bald nach ihm zusammenbrach, scheint er weniger nachhaltig gewirkt zu haben, wohl dagegen auf das Denken der in Spanien lebenden gebildeten Juden.

 

Literatur: Schmölders, Essais sur les écoles philosophiques chez les Arabes, Paris 1842, u. Documenta philosophiae Arabum, Bonn 1836. Dieterici, Die Philosophie der Araber im 10. Jahrh. (16 Einzelabhandl.), 1876-94. Munk, Mélanges de philosophie juive et arabe, Paris 1859, v. Kremer, Geschichte der herrschenden Ideen des Islam, Leipzig 1868. T. J. de Boer, Gesch. d. Philos. im Islam, Stuttg. 1901. Münz, Moses ben Maimon, s. Leben u. s. Werke, Frankf. 1912. Eine knappe Zusammenfassung bieten J. Goldziher in »Allgem. Gesch. d. Philos.« (1909), S. 45-47 und P. Deussen, a. a. O. S. 392-413.


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