Die Carmen Sylva
Philanthrop. Carmen Sylva ist keine bedeutende Schriftstellerin, wohl aber eine tüchtige Krankenpflegerin. Wir wollen es nach einem Artikel über das Befinden des Königs von Rumänien, den sie vor einigen Wochen für die ›Neue Freie Presse‹ schrieb, gerne glauben. Nicht alle Königinnen schreiben Krankenberichte für die Tagespresse. Und die, die es täten, würden die Klage nicht anbringen: »Schade, dass niemand in den Frieden und die Harmonie dieses Krankenzimmers hineinblicken kann!« Erstens, weil Königinnen es in der Regel nicht bedauern, dass dem Publikum der Eintritt in ihr Schlafzimmer verboten ist; und zweitens, weil die freiwillige publizistische Lüftung des Schlafzimmers solche Klage ohnedies Lügen straft. Carmen Sylva aber begründet ihre literarische Stilisierung der Bulletins vom Krankenlager ihres Gatten — früher hieß es einfach: »Temperatur hoch, Auswurf reichlich« — mit der Versicherung: »Gott hat mir doch die Feder in die Hand gegeben«. Da läuft natürlich eine kleine Verwechslung mit. Von Gottes Gnaden sind die Könige in der Regel nur Könige, nicht Schriftsteller. Schriftsteller sind sie von Gnaden der liberalen Presse, die ihnen günstige Buchkritiken schreibt, wenn sie ihr gelegentlich etwas Handschriftliches zur Verfügung stellen. Die ›Neue Freie Presse‹ ist sogar bereit, ihrer Verbindung mit Carmen Sylva zuliebe Judenverfolgungen zu unterdrücken. Oder vielmehr: Judenverfolgungen Vorschub zu leisten und bloß die Nachrichten darüber zu unterdrücken. Man berichtet mir von einer solchen Volksbelustigung, die kürzlich wieder in Rumänien stattgefunden habe, und über die in der ›Neuen Freien Presse‹ keine Silbe zu lesen war. Dagegen wird hier und in allen journalistischen Zentren des Liberalismus neuestens ein Hochlied auf das Judentum zitiert, das Carmen Sylva in der Zeitschrift ›Mode von heute‹ angestimmt hat. Dabei ist es leider nicht bekannt geworden, ob dieses Bekenntnis auch in rumänischer Sprache geschrieben ist. In Westeuropa könnte es nämlich — abgesehen von der Gunstwerbung für Carmen Sylvas Bücher bei der liberalen Presse — bloß den judenfeindlichen Bewegungen, die hier längst im Rückgange sind, auf die Beine helfen. Dagegen wäre es gewiß nicht schädlich, wenn Carmen Sylva ihre engeren Landsleute in die judenfreundliche Lehre einweihte. Dies ist auch die Meinung eines höheren österreichischen Staatsbeamten, der mir über einen Vorfall berichtet, dessen Zeuge er in Bukarest am 16. August 1905 gewesen ist. »Ein rumänischer Herr zerschlug an jenem Abende aus Übermut einem armen jüdischen Straßenhändler eine Gipsfigur. Als der geschädigte Händler mit vollem Rechte Ersatz heischte, wurde er über Verlangen des Rumänen durch einen bereitwilligen Polizisten in das Polizeihaus abgeführt und ohne Verhör oder Aufnahme des Tatbestandes körperlich gezüchtigt. Der zahlreich angesammelte Pöbel durfte die Prozedur durch die unverhängten Fenster von der Straße aus beobachten und mit beifälligen Bemerkungen begleiten. So oft ich mich dann erkundigte, ob in Rumänien noch geknutet werden dürfe, wurde mir die stolze Antwort zu teil: ›Wir Rumänen leben in einem Verfassungsstaate, wir eifern ausschließlich den Beispielen französischer Kultur und Humanität nach; die körperlichen Strafen sind längst abgeschafft, in der Züchtigung eines frechen Juden aber wird niemand eine Gesetzesverletzung erblicken können.‹ Dieses Erlebnis fiel mir ein, als ich das mit Marlitt’scher Rührseligkeit geschriebene Humanitätsbekenntnis Carmen Sylvas in der liberalen Presse gelesen hatte.« — Nun ja, Bestialität im Lande ist immer mit einem stark entwickelten Export von Toleranz gepaart. Blicket fest in die Sonne der Humanität, die im Namen Carmen Sylva die Judenheit wärmt, — und ihr seht nichts als gelbe Flecke.
Nr. 217, VIII. Jahr
23. Jänner 1907.