Die Paßgeschichte Kürnbergers


Literarhistoriker. Kürnbergers flammender Protest gegen die Polizeiwirtschaft, der seine Bedeutung behielte, auch wenn das Übel, gegen das er sich kehrt, nicht fortbestünde, wurde mir von den Erben des großen Polemikers als Manuskript übergeben. Ich habe Kürnbergers Handschrift — auf den Blättern eines Notizbuches der alten Firma Trentsensky — in die Druckerei geschickt. Nicht ohne vorher an den Dank für die Ehrung die eindringliche Frage geknüpft zu haben, ob das Manuskript wirklich ungedruckt sei, nicht ohne vorher in aller Form darüber beruhigt worden zu sein. Ich war also in jedem Falle berechtigt, von einem Erstdruck zu sprechen; es war klar, dass Kürnbergers Erben von einem andern Druck — etwa einer Abschrift oder eines Konzeptes der Arbeit — nichts wußten, dass er ohne ihr Wissen, sicher gegen ihre Absicht hätte erfolgt sein müssen, wenn er irgendeinmal zwischen 1866 und 1906 erfolgt wäre. Nun macht mir jemand, der vor zehn Jahren die Wochenschrift ›Die Zeit‹ gelesen hat — es hat tatsächlich solche Leute in Wien gegeben — die Mitteilung, Kürnbergers Eingabe sei damals in der von den Herren Kanner und Singer redigierten Revue erschienen. Ich nahm dies zuerst für wahr und dachte: Also ist der Artikel wirklich zum erstenmal durch die ›Fackel‹ der Öffentlichkeit übergeben worden. Wenn noch ein Zweifel bestehen konnte, jetzt war’s erwiesen. Und erwiesen schien, dass die ›Zeit‹ nicht nur hinter dem Rücken des Publikums, sondern auch hinter dem Rücken der Erben Kürnbergers die nachgelassene Arbeit publiziert hat. Ich ging der Sache natürlich sofort nach und habe im Verein mit dem von den Erben anerkannten Herausgeber des Kürnberger’schen Nachlasses (der hoffentlich bald dem Buchhandel übergeben werden wird) auf Grund vergleichender literarhistorischer Studien, die jedem Minor das Herz klopfen machen müßten, das Folgende festgestellt: Die Publikation der ›Fackel‹ war, wenn ich so sagen darf, nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv ein Erstdruck. In der Wochenschrift ›Die Zeit‹ (IX. 117 und X. 118) wurde um Neujahr 1897 »Ein« oder »Eine Promemoria an Schmerling von Ferdinand Kürnberger« abgedruckt. Die Herausgeber wußten nicht genau, ob die Angelegenheit sächlichen oder weiblichen Geschlechts sei, und setzten in beiden Heften auf das Titelblatt die eine, über den Aufsatz die andere Form. Sie wußten aber auch sonst nichts Gewisses über das Konzept des späteren Meisterwerkes, das ihnen von unbefugter Seite in die Hände gespielt wurde. Es war nämlich der erste Entwurf des Gesuches an Belcredi; im Frühjahr 1866, also nach Schmerlings Entlassung niedergeschrieben. Die zweite, endgiltige Fassung, die Kürnberger mit durchgreifenden stilistischen und inhaltlichen Verbesserungen, mit langen Zusätzen und Ausführungen, die im Konzept nicht enthalten sind, im »Sommer 1866«, wie er selbst auf dem Titelblatt des mir eingehändigten Manuskripts schreibt, überreichte, ist unmittelbar nach der Schlacht von Königgrätz entstanden. Und die ›Zeit‹ hat mit der Verlegung der Affaire in die Ära Schmerling nicht nur bewiesen, dass ihre Redakteure nicht imstande waren, ein Manuskript zu lesen, sondern auch, dass Herr Kanner nicht imstande ist, sich in der österreichischen Politik vor der Affaire Badeni-Davis zurechtzufinden. Die einleitende Fußnote der ›Zeit‹ zeugt überdies von einem literarischen Unverständnis, das — in der Umgebung der zwirnsdünnen Kanner’schen Polemiken — diese Kürnberger’sche Petarde als »ein seltsames Muster spezifisch Kürnberger’schen Kurialstiles« empfiehlt. Und endlich auch von einem sachlichen Unverständnis, das sich von der Sprache dieses Protestes nicht überzeugen ließ. Die ›Zeit‹ bleibt mit der Polizei bei der Annahme des »unbefugten Aufenthaltes im Auslande«. Eine Schmerling-Anekdote, die der unbefugte Übermittler des Konzeptes den gläubigen Herausgebern der ›Zeit‹ erzählt hat, basiert auf Geschwätz oder fehlerhafter Erinnerung, weil das Gesuch eben niemals an Schmerling gelangt ist, nie an ihn adressiert war. Zweifelten die Herren schon nicht an der Möglichkeit, dass Kürnberger für sich durch seinen großen Bruder beim Minister habe bitten lassen, so hätten sie als patentierte Politiker und Staatsgeschichtler aus der Eingabe selbst erkennen müssen, dass es sich nicht um Schmerling handeln konnte. Wenn die Herren sich dafür interessieren — den Leser mit dem Resultat unserer vergleichenden Arbeit zu ermüden, wäre grausam —, so kann ich ihnen nicht weniger als acht Belege für ihre Blamage zur Verfügung stellen. (Um nur einen, den vierten, anzuführen: Auf S. 5, Sp. 1, Abs. 5 des ›Zeit‹-Druckes sagt Kürnberger, dass es ihm ein Trost wäre, wenn Franke den Brief nicht an Mecsery abgesandt hätte, weil dann doch in dem liberalen Ministerium Schmerling ein illiberales Mitglied weniger gewesen wäre.) Aus dem Konzept, das den Herren vorlag, mußten sie ersehen, dass es 1866, also nach Schmerling, entstanden war. Natürlich geht dies heute umso evidenter aus der Unmöglichkeit hervor, dass Kürnberger an zwei Regierungen dasselbe Pathos — die Einleitung ist so ziemlich gleichlautend — adressiert habe. Wenn sich aber ein Schmock finden sollte, der diesem Ehrlichsten Solches zutraut, so kann doch selbst ein Schmock nicht glauben, dass Kürnberger zwei Minister — die Stelle ist in der ›Zeit‹ und in der ›Fackel‹ gleichlautend — dafür belobt haben könnte, dass sie die Paßvorschriften abgeschafft haben. Jedenfalls hat sie Belcredi und nicht Schmerling abgeschafft. Ich weiß es nicht; glaube es, weil es in der mir vorliegenden Eingabe an Belcredi geschrieben steht. Aber der Fachpolitiker Kanner mußte es wissen. Nun, er wußte es so wenig wie die rechtlich beglaubigte Verwalterin des Kürnberger’schen Nachlasses und die einzige noch lebende Erbin seiner Honorare bis heute etwas von dem Abdruck des Konzeptes in der ›Zeit‹ gewußt haben. Und der Herausgeber des Nachlasses, der alle bibliographischen Behelfe herangezogen hatte, fand nirgendswo die Tatsache erwähnt, dass eine nachgelassene Arbeit Kürnbergers in der ›Zeit‹ erschienen ist. Man mag daraus ersehen, ein wie großes Stück Publizität durch den Eingang jener Wochenschrift uns verloren ist. Die ›Fackel‹ hätte Kürnbergers Beschwerde auch zum erstenmale gebracht, wenn ihre Fassung mit jener der ›Zeit‹ gleichlautend wäre. Und es wäre schon ein gutes Werk gewesen, die prächtige Arbeit von den unsinnigen Lesefehlern, mit denen dort fast jede Zeile gespickt ist, zu säubern. Aber das Promemoria an Belcredi ist etwas wesentlich anderes als die Promemoria an Schmerling. Der unfertige, stilistisch recht unkonzentrierte Entwurf durfte nie und nimmer gedruckt werden, und die literarische Ehre Kürnbergers hätte selbst dann die Publikation in der ›Fackel‹ geboten, wenn mir die Publikation in der ›Zeit‹ bekannt gewesen wäre. Kommenden literarhistorischen Schnüfflern mußte die Möglichkeit genommen werden, die Fassung der ›Zeit‹ für die authentische zu halten. Und weil (oder wiewohl) die Herausgeber der ›Zeit‹ in ihrem Tagblatte aus gutem Grunde es unterlassen haben, sich ihres »Erstdrucks« zu rühmen, habe ich selbst die Feststellung vorgenommen. Dem Bemühen künftiger Literarhistoriker helfe ich durch den Hinweis, dass, von zahllosen Variationen, die hier nicht verzeichnet werden können, und von zahllosen stilistischen Verbesserungen abgesehen, die wichtigsten Abweichungen die folgenden sind: Neu — ›Fackel‹, S. 12 Mitte, S. 19 Mitte, S. 21 unten bis S. 24 oben (Achtundvierziger Studentenkomitee), S. 30 unten bis S. 33 oben, S. 37 unten bis S. 38 oben (Schluß). Ganz umgeändert — S. 34 Mitte bis S. 36 Mitte. — Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass der unvermeidliche Professor Minor (vor dem Erscheinen der Kürnberger-Sache in der ›Fackel‹) in einem Artikel »Moderne Klassikerausgaben« (›Neue Freie Presse‹, 16. Dezember) Kürnbergers gedacht hat. Herr Minor nennt ihn in der Reihe der »freien« Autoren und erzählt, der Wiener Verlag Daberkow habe schon fast den ganzen Kürnberger herausgegeben. Die Novellen, Dramen, Feuilletons und Gedichte, die jener Verlag tatsächlich edierte, bilden aber nur einen ganz kleinen Teil des Kürnbergerschen Lebenswerkes. Außer dem reichen handschriftlichen Nachlaß, außer dem »Schloß der Frevel«, außer dem »Haustyrannen«, »Löwenblut« und »Goldmärchen«, außer vielen in Zeitungen und Zeitschriften verstreuten Feuilletons und Novellen fehlt das Allerwichtigste, Kürnbergerischeste: die längst vergriffenen Sammlungen »Siegelringe« und »Literarische Herzenssachen«. Ja, diese Historiker! Herr Adolf Bartels, bekannt durch die germanische Ausdauer, mit der er an Heines Grab seine Notdurft verrichtet, soll in seiner jüngst erschienenen deutschen Literaturgeschichte Ferdinand Kürnberger mit den Worten charakterisiert haben: »Wahrscheinlich auch ein Jude

 

 

Nr. 217, VIII. Jahr

23. Jänner 1907.


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