Fast erraten


Unmöglich kann man von deutschen Männern und insbesondere von dem Publikum, das bei der Resitant verkehrt, verlangen, dass sie wissen, wie der Konjunktiv imperfecti von »erfahren« heißt. Wollte man sie befragen, man erführe es nie, denn es entstünde entweder verlegenes Schweigen oder eine Panik, zunächst weil sie nicht wissen, was man von ihnen haben will und was das eigentlich ist, ein Konjunktiv imperfecti, dann aber würde sich vielleicht doch einer finden, der das weiß, und man erföhre es. Also da ist nichts zu wollen. Wenn man aber einen Schriftleiter der »Wiener Stimmen« — und die Schrift muß sich von ihm leiten lassen, wiewohl sie doch lieber ungeleitet nachhause ginge —, wenn man ihn also nicht fragt, nicht verschüchtert, sondern ihn die Schrift leiten läßt, wie er will, so kommt das Folgende heraus:

Man könnte am Wesen des Geldes irre werden, erfähre man nicht. dass — —

Man sieht, wie gefährlich diese Dinge sind, und man könnte am Wesen der geleiteten Schrift irre werden, erführe man erst, wie's da zugegangen ist. Da hat wohl einer, der wußte, dass man nicht »erfahrte« sagen kann, aus »erfährt« einen Konjunktiv gemacht, sich aber nicht getraut, ein herzhaftes »erfährte« anzulegen. So ein armer Zeitungsgoi schlägt sich schlecht und recht durch die Fährlichkeiten der deutschen Grammatik, mit denen jüdischer Wagemut es leichter aufnimmt. Fast erraten hat ers ja. Und hälte er sich an der Stange, läße er sich von der Schrift leiten, so erräte ers ganz und gar. Freilich frage er, schlage es noch glücklicher aus. Das kommt aber davon, dass diese Leute, gepültet wie sie sind, nicht schreiben können, wie ihnen der Schnabel wächst, sondern, im Sinne Nestroys, nur, wie er ihnen wuchs. Wüchse er aber so, wie sie schreiben, so wachse er und wäre noch lieblicher anzuschauen. Die Wendung »wenn man erfahren würde« ist nicht schön, aber den Bedürfnissen der Strozzigasse schließlich angepaßt. Nein, sie müssen sich in ein Gedränge einlassen, und ich habe das Nachsehn. Fürwahr, wenn ich mich an solchen Dingen nicht stöße, sie leichter erträge oder sie mir gar nicht auf fällen, ich häbe bei den Deutschen, unter denen ich lebe, mehr Ansehen als deutscher Schriftsteller, dem heute bloß die Aufgabe zugewiesen ist, die Schrift, die andere geleitet haben und zwar irre, zu stellen und zwar richtig.

 

 

Dezember, 1924.


 © textlog.de 2004 • 19.03.2024 04:54:41 •
Seite zuletzt aktualisiert: 15.01.2007 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright Die Fackel: » Glossen » Gedichte » Aphorismen » Notizen