Die allerletzten Tage der Menschheit


— — Die Dunkelheit wurde von vielen Leuten dazu benützt, um die armen, stöhnenden Opfer des Eisenbahnunglücks (bei Celakowitz), die hilflos, ohnmächtig dalagen, auszuplündern. Bei schärferem Hinsehen konnte man bemerken, wie sich diese Hyänen auf ihre Opfer stürzten, hastig Uhr und Kette den am Boden Liegenden entrissen und krampfhaft nach der Geldbörse suchten. Nur dem baldigen Einschreiten des Militärs, das die Ordnung aufrecht erhielt und sich auch der Hilflosen annahm, ist es zu danken, dass die Bedauernswerten nicht bis auf die nackte Haut ausgeplündert wurden. Nichtsdestoweniger wurde fast alles Gepäck der Verletzten gestohlen. Durch das taktlose Verhalten vieler Neugieriger, die sich bis in die nächste Nähe der auf Tragbahren, die man rasch aus den Trümmern der Waggons zurechtgerichtet hatte, liegenden Verwundeten herandrängten, litten diese natürlich sehr; auch war es durch dieses Verhalten der Zudringlichen sehr erschwert, Ordnung zu machen. Einzelne, die ihre Angehörigen suchten oder aus bloßer Neugierde längs der Wagentrümmer im Finstern hin und her liefen, traten die am Boden Liegenden mit Füßen. Das Stöhnen der Verletzten und die ins Weite hallenden Wehrufe, wenn die raubgierige Menge mit den Füßen in Wunden trat, ließen das Blut in den Adern erstarren, und es gehörten starke Nerven dazu, den Kopf nicht zu verlieren. Die freiwillig den Hilfsdienst versehenden Offiziere mußten mit gezogenen Revolvern und mit der Drohung, jeden zu erschießen, der nicht folge, Ordnung machen. Erst als von der Station aus genügend Lampen und Fackeln gebracht worden waren, löste sich das Chaos allmählich auf.

Dies entmutigt mich, die von mir beschriebenen Tage der Menschheit für ihre letzten zu halten. Aber es gehört dazu und ist schließlich nichts anderes als was die Gut- und Blutsauger von anno 14 beschlossen haben. Auch hier geschieht, was längst geschah. Am Ende liegt eine verunglückte Menschheit auf der Fortschrittsbahn und wird von jenen überwältigt, die noch Hände haben. Es geschieht allerorten. Um leben zu können, bleibt nichts als Leichenraub. Der Mensch ist gut. Ist der Mord keine Vorbereitung, so ist er nur eine Gelegenheit. Von allen Seiten kommen Sieger. So verbluten Menschen und Völker, so verbluten selbst Hyänen, wenn ihrer zu viele waren. Noch glaubt der Sterbende den Samariter zu sehen, der ihm den Herzschlag fühlt; da hat im Zwielicht dieser letzten Nacht, im Dunkel dieses Abschieds jener schon sein Werk getan. Geld her und das Leben! Wie sank die Welt, seit ihr die Ehre befohlen war, zum Schuft! Und jene erblassen nicht, die Blutbadhuren, die animiert hatten, es werde ein Stahlbad sein und ein Seelenaufschwung kommen wie noch nie. Sie geben den Republiken die Schuld; sie danken insgeheim den Imperatoren, die es angerichtet haben. Und plätschern wohlig in dem Diebstahlbad, dessen Wohltat der grause Schmutz ist, der ihre Blößen deckt, und lachen der Sonderlinge, die zwar rein geblieben, doch auf dem Trockenen. Die gehen bei Tag durch einen Angsttraum, und jeder Blick in die Zeitung, jeder Schritt übers Trottoir zwingt sie, um dem Wahnsinn zu entfliehen, zu dem Glauben, die Welt sei von einem tollen Hund gebissen worden. Dringen denn nicht Wehrufe von Sterbenden herüber, denen Räuber in die Wunden traten? Wurde nicht überall Foxtrott getanzt, als es dort geschah? Rasen die Menschen nicht wie eh und je, wenn wer immer aus dem Theater kam, Tenorist oder Terrorist? Hat nicht das Auditorium in Budapest die zum Tode Verurteilten um Autogramme bestürmt? Ich gehe nicht mehr ins Leben, um nicht meine Vorstellung erfüllt zu finden; den andern genügt selbst die Wirklichkeit nicht. Hier fiel eine Frau durch Hunger; sie konnte noch die Worte hervorbringen, dass der Verkauf der Gobelins eine Schmach wäre. Männer schoben vorbei, mit Klauen statt Händen und mit Gebissen, die Valuten zermahlen können, geteilt durch einen Gürtel, oben für Raub und unten für Fraß. Der Blick der Frauen, ganz nach dem Westen gerichtet, begehrt Liebe von einer stabilen, wenn schon nicht ewigen Währung. Junger Italiener sucht, was er längst gefunden haben müßte, schönes, intelligentes Fräulein für deutsche Konversation, ist auch geneigt, nähere Bekanntschaft zu schließen, wie die wohlinformierte Neue Freie Presse erfährt. Dazu braucht man sie! Die Uniform des Siegers besiegt die Uniform des Besiegten. Wenn auch der Bruder am Monte Gabriele noch ohne Grab ist, so hilfts doch dem Gatten, und es gibt kein schöneres Gefühl, als so erliegend doppelt verachtet zu sein. Und keine bessere Mission in Europa, als so den Sieg zu ernten. Welch dreifarbige Pracht von Held, Händler und Hengst entschädigt uns für alle Armut! Wer Ihm, als er alles reiflich erwog, diese etwas unsaubere Himmelfahrt mit dem Anbot, dazu das Gewand zu verkaufen, vorausgesagt hätte! Man hat ihn drangekriegt. Was wollen Sie von mir haben, kann ich Armeen aus der Erde stampfen? rief ein Besiegter, dem ein Waggon in der flachen Hand wuchs. Man darf nicht generalisieren, aber wo die Männer nichts mehr zu bieten haben, haben die Weiber noch den Schmuck ihrer Ehre und vor allem die Ehre ihres Schmucks, das letzte was ihnen geblieben ist. Berchtold fehlt. Er ißt in der Schweiz Aähskaffee. Den würde er auch hier kriegen. Ein Falter über Totenschädeln, gaukelt Schumpeterl vorbei. Ein Damenschneider? Nein, ein Finanzminister, der sich gewaschen hat. Liebling der Frauen, der den Männern auch nicht weh getan hätte. Eine Koalition aller Parteibekenntnisse, das nichtgewünschte bitte zu durchstreichen. Ein vorbildlicher Republikaner, der bereit war, den Löwen auch zu spielen, und der bloß, als der Rothschild ins Theater kam, mit einem »Habe die Ehre Herr Baron!« aus der Rolle fiel. Ein Austauschprofessor seiner Überzeugungen, umspannt er eine soziale Welt zwischen jener Wiener Gesellschaft, die Kinderfleisch auf dem Misthaufen zusammenklaubt, und jener, die 6000 Kronen für eine Silvesterloge zahlt, aber besser konversiert sichs mit dieser. Ein Mann, nehmt alles nur in allem, der mehr Gesinnungen hatte, als zum Vorwärtskommen nötig war, und was die Hauptsache, stets à quatre épingles. Ein Mann von Welt, ja von aller Welt, hatte er wie keiner sowohl das savoir wie das faire heraus und last not least auch das vivre, während wir nur das mourir. Così fan tutte, aber nicht jedem gelingts. Man schlägt sich durch die Kontraste. In Favoriten wohnen die Leute in Erdlöchern, weil es da wärmer ist. In der Innern Stadt gehen sie zu diesem Behufe »ins Chapeau«, nicht fürchtend, dass schon die Formel einen Hieb sei es ins Ponem sei es in die Fresse rechtfertigen könnte. Vulkane sind Tanzböden. Bolschewismus ist eine gefährliche Drohung, die nicht verhindern kann, dass in der »Femina« — welch ein Geschlecht! — gesungen wird:

Wir geben den letzten Tizian,

Wenn nur die Mizzi dann

Mit ihrem Strizzian

Foxtrotteln kann.

Dies, während Holland absammelt. An einem Gasthaustisch höre ich eine Dame sich rühmen, dass sie Holz gekauft und dreimal so teuer verkauft habe; galante Herren trinken ihr zu, preisen die Gewure, aber ich glaube, sie schwärmt nur für den Marischka. Ich höre einen italienischen Offizier nießen und einen Juden »Salute!« sagen. Er wird schon wissen warum. Einer kennt ein Verfahren, sichs beim elektrischen Zähler so zu richten, dass man beliebig Strom konsumieren kann; man dringt in ihn, aber er sagt es nicht; so egoistisch sind die Menschen geworden. Diese täglichen Bulletins über die Kohlennot gehen ihm schon auf die Nerven. Einer mit vierfachem Kinn, was verboten sein sollte, ein dick verdienender Wampir, findet die ewige Bettelei beim Ausland einfach beschämend. Die Leut wollen einfach nicht arbeiten, ihm wird man nichts erzählen. Glänzend ist der Leitartikel über den Hunger »Schämen wir uns!« im 8 Uhr-Blatt. Wo man heut hingehen soll? Vierzig Lokale stehn im 8 Uhr-Blatt, no da, oben und unten, rechts und links vom Leitartikel. Einer weiß die Adresse von einem Tripot, wo die Arbeiterräte bestimmt nicht hinkommen. Der Präsident der Republik hat doch den Heinrichshof gekauft, er weiß es aus bester Quelle, jedenfalls ein Automobil. Intressant steht heut im Neuen Tag, dass sich der Renner einen Extrazug bestellt hat, die Leut leben; Karpeles plagt sich bis in die sinkende Nacht und weiß nicht, wo er das Geld hernehmen soll für den nächsten Monat. Meine Frau hat vorgestern einen Breitschwanz um 60.000 gekauft, aber er hat ihr gestern gesagt, er nimmt ihn um 70.000 zurück. Der Mensch ist gut. Haben Sie gelesen köstlich vom Eisenbahnunglück bei Celakowitz? Bitt Sie, im Krieg sind mehr zugrundgegangen, hat sich kein Mensch aufgeregt, übrigens fahrt man heut mit dem Antantzug. Dass sie ihnen die Uhren weggenommen haben? Gott, in so einem Gedränge, wo kann man das so genau unterscheiden, bittsie was tut einem nicht der Staat an mit dem Schmuck? No und die Vermögensabgabe is ein Hund? Man greift sich an den Kopf. Wissen Sie, was wir braucheten? Einen Horthy braucheten wir! … Ein Christ sagt: Weißt was, gehn wir zur Potenzecke! Der andere: Was ist das? Jener: No das weißt nicht? Das ist doch die Sirkecke, weißt! Dieser: Wieso? Jener: No weißt nicht, das ist doch ein Witz vom Fackelkraus! Weißt in dem Theaterstück über die Menschheit.

 

 

Nr. 521-530, XXI. Jahr 

Januar 1920.


 © textlog.de 2004 • 29.03.2024 07:45:07 •
Seite zuletzt aktualisiert: 15.01.2007 
bibliothek
text
  Home  Impressum  Copyright Die Fackel: » Glossen » Gedichte » Aphorismen » Notizen