Die Schuldfrage oder
Was in Fleisch und Blut übergehen soll


»...Es gibt nur eine Schuldfrage, die auf der Tagesordnung des Stockholmer Kongresses stehen müßte, ebenso wie auf der Tagesordnung jedes Parteitages: wieso das Proletariat in die Lage kommen konnte, seinen internationalen Geist und Zusammenhang zu verlieren. Dazu genügt es nicht, im stolzen Besitz der materialistischen Geschichtsauffassung darzulegen, dass und welche ökonomische Wandlungen eine ganz andere Stellung des Proletariats in der imperialistischen Ökonomie und Staatsordnung bewirkt haben ... Vielmehr muß gerade die Aufzeigung dieser Ursachen, die dazu geführt haben, dass das Proletariat überall in hohem Grade an den ökonomischen und politischen Interessen seiner Machthaber ein Mitinteresse zu gewinnen schien, bis zu dem Punkte kritischer Einsicht fortgeführt werden, von dem aus das Proletariat erkennt, dass alle diese wirklichen und oft nur eingebildeten Mitinteressen zuletzt dem großen gemeinschaftlichen Emanzipationsinteresse der ganzen Klasse nicht im Wege stehen dürfen, daher Grad und Begrenzung ihrer Beachtung einzig und allein nur aus dem internationalen Kampfziel des Proletariats erhalten dürfen. Nur ein solcher Standpunkt, der freilich nicht bloßer Standpunkt, sondern in Fleisch und Blut übergegangene Gesinnung sein muß, kann das Proletariat der Welt wahrhaft einigen, nur ein solches Bewußtsein kann es sieghaft herausführen aus all den Jämmerlichkeiten und Fährlichkeiten seiner gegenwärtigen unseligen Verstrickung in die Kriegspolitik imperialistischer Staaten. Und nur in diesem Geiste wird schließlich auch jede Debatte über die Schuldfrage glücklich überwunden: denn es ist selbst ja die radikalste Befreiung von der großen Schuld des Sozialismus in diesem Kriege

Vortrefflich; nur schade, dass die Reue, die den Schuldigen ehrt, eine papierene Regung bleiben könnte, während die Beteiligung des Proletariats an den ökonomischen und politischen Interessen seiner Machthaber die blutige Realität bedeutet, die von den andern Papieren bekräftigt wird. Warum war denn das Emanzipationsinteresse nicht stark genug, diese Hilfe zu verhindern und jene Mitinteressen zu überwinden? Man frage die Technik, die das stärkste Interesse hat, ihre Mitarbeiter von deren Emanzipationsinteresse zu emanzipieren. Selbst der Katholizismus hat kein solches Weltabsurdum zu verantworten wie die andere Internationale, deren Gläubige in allen kriegführenden Staaten schon im Friedensberuf mit der Herstellung jener Behelfe befaßt sind, die ihnen gegenseitig den Tod bringen sollen. Kriegsminister und Offiziere erzeugen keine Flammenwerfer. Aber dass es die Zeit bis zu diesen gebracht hat, dürfte auch deren Verwendung gegen ihre Erzeuger erklären, deren Parteiideal doch schon erschaffen war, als die Entwicklung der Waffe eingesetzt hatte. Welche Idee vermöchte vor der eines Flammenwerfers zu bestehn! Dass er einen Philosophen tötet, ist beiweitem nicht so tragisch, wie dass er seinen Erzeuger tötet. Es ist jene tragische Schuldfrage, die kaum in Stockholm beantwortet werden wird, denn die Philosophen, soweit sie nicht die Opfer der weltbeherrschenden Idee sind, werden in Stockholm kaum zu Wort gelangen und das Emanzipationsinteresse wird bis dahin keine sonderlichen Fortschritte gemacht haben. Das internationale Kampfziel des Proletariats hat nicht gehindert, das Proletariat für das internationale Kampfziel zu gewinnen, und die Gesinnung, die in Fleisch und Blut übergehen mag, wird dies bei weitem nicht so gut treffen, wie ein Schrapnell, das zu erzeugen sie doch nicht verhindert hat.

 

 

Oktober, 1917.


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