Glück


(Ein neuer Rembrandt in Wiener Privatbesitz.) Während des Krieges ist ein interessantes kleines Kunstwerk in Wiener Privatbesitz gekommen. Es handelt sich, wie Gustav Glück im jüngsten Hefte der bei der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst in Wien erscheinenden Zeitschrift ›Die graphischen Künste‹ berichtet, um nichts Geringeres, als um eine vortreffliche und wohlerhaltene Jugendarbeit Rembrandts, ein kleines Ölgemälde, das seine Mutter, Neeltgen Willemsdochter van Zuytbrouck vorstellt, die ihm und seinen Schülern so oft in dieser frühen Zeit als Modell gedient hat. Ein preußischer Reserveoffizier hat das Bildchen durch einen Zufall auf dem Kriegsschauplatze in Kortrijk in Belgien entdeckt, brachte es nach Berlin, und von hier kam es durch den Münchener Kunsthandel in den Besitz eines der feinsinnigsten unter den jüngeren Sammlern Wiens, des Herrn Oskar Bondy. Es ist ein Brustbild der alten Frau in ovaler Form, das das eigentliche Original etwa eines halben Dutzend von Wiederholungen und Kopien dieses Kopfes zu sein scheint. Aus dem Studium dieser Wiederholungen hat Hofsteede de Groot schon früher geschlossen, dass ihnen ein eigenhändiges Vorbild von ovaler Form zugrunde gelegen haben muß, eine Vermutung, die durch die Auffindung unseres Bildchens zur Gewißheit geworden ist. Denn die Ausführung hier ist von einer solchen Frische, hat soviel von der Unmittelbarkeit der Naturbeobachtung, dass an der Eigenhändigkeit kaum gezweifelt werden kann.

Nein, an der Eigenhändigkeit (der Ausführung) kann nicht gezweifelt werden, und es geht nichts über einen glücklichen Zufall. Irgendwo im düstersten Belgien — was hat nur ein Rembrandt in Belgien zu suchen, der ja doch nach Berlin gehört — ist es einem Kunsthistoriker geglückt und ein anderer kann bereits darüber berichten. Der Rembrandt ist entdeckt und der Bondy ist feinsinnig und Krieg ist Krieg. Was nur der ehemalige Besitzer in Kortrijk, der sicher keine Ahnung hatte, welchen Schatz er in der Rumpelkammer beherbergte, zu der Entdeckung sagen mag? Am Ende ist er glücklich, wenn man ihm als Entschädigung Kochs Kolossalgemälde »Die große Zeit« oder das noch größere von Vogel bietet. An jenem — im Schaufenster eines Möbelgeschäfts am Kärntnerring, welches sich bescheidenerweise eine Niederlage nennt, jedoch in Wahrheit ein Sieg ist — gehe ich öfter vorbei. Aber ich sehe mir nicht das Bild an, weil mir die große Zeit doch nicht dürftig genug ist, um nach solchen Schinken Verlangen zu tragen und solchem Koch dankbar zu sein, sondern nur die Individuen, die bewundernd davor stehen und wirklich wie Menschen aussehen. Würde man ihnen den in Belgien entdeckten Rembrandt hinhängen, so würden sie vielleicht zugeben, dass das Bild zum Mitnehmen sei, aber die kunsthistorische Mühe nicht begreiflich finden. Ich hinwiederum würde einen von mir entdeckten Koch liegen lassen, natürlich nicht weil Eigentum Eigentum ist — Krieg ist Krieg —, sondern weil ich im Gegenteil der Ansicht wäre, dass mir das Bild gestohlen werden kann.

 

 

Januar, 1917.


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