Mörderin Presse


Die Arbeiter-Zeitung meldet:

(Eine Tragödie, die die Schmutzpresse verschuldet.) In Budapest hat sich gestern abend ein fünfzehnjähriges Mädchen durch Sturz vom dritten Stockwerk eines Hauses das Leben genommen. Dem Selbstmord liegt folgender Vorfall zugrunde: Das Mädchen wurde Montag in Gesellschaft eines jungen Mannes zur Polizei gebracht, wo sie weinend erklärte, dass sie ihr Begleiter, ein Beamter im Ackerbauministerium, vor dem Apollo-Kabarett angesprochen und eine Strecke weit begleitet hätte. In einer Seitengasse erfaßte der junge Mann ihren Arm und zog sie unter die Toreinfahrt eines Hotels. Erst in diesem Augenblick bemerkte sie, was ihr neuer Bekannter vorhabe, und als auf ihren lauten Protest das Hotelpersonal herbeieilte, ergriff sie rasch die Flucht Der Beamte folgte ihr aber und wollte sie um Entschuldigung bitten; in diesem Moment trat nun ein Polizist, den ein Hotelgast nachgeschickt hatte, auf sie zu und brachte beide auf die Stadthauptmannschaft. Das junge Mädchen, die Tochter eines Hutmachers, das die Handelsschule besucht, wollte die Schande nicht überleben und verübte den Selbstmord. Ihre Mutter ist daraufhin schwer erkrankt. Der Beamte, ein zweiunddreißigjähriger unverheirateter Mann, hat sich Mittwoch gleichfalls umgebracht; er erschoß sich in einer Badekabine. Die beiden Selbstmorde sind vorzugsweise darauf zurückzuführen, dass die Budapester Zeitungen die »Affaire« mit Nennung aller Namen veröffentlicht hatten. Auch der ›Pester Lloyd‹, diese Kloake aller Unreinlichkeiten, bringt die Namen und Adressen aller Beteiligten!

Am nächsten Tag ergänzt das Neue Wiener Tagblatt den Bericht durch die Namen der Opfer und durch die Mitteilung eines dritten:

(Das Drama eines jungen Mädchens.) Aus Budapest, 2. d., wird uns telegraphiert: Im »Kühlen Tal« erschoß sich heute der 19jährige Handelsschüler Julius F.......... In einem hinterlassenen Schreiben gibt er an, er sei in den Tod gegangen, weil er Margarethe K... geliebt habe und ohne dieses Mädchen nicht leben könne. Margarethe K... hat, wie gemeldet, vorgestern Selbstmord verübt, weil sie ein junger Mann, namens Dr. Eugen E...... verführen wollte. Auf die Nachricht von dem tragischen Ende des Mädchens hat sich Dr. E...... das Leben genommen. Julius F.......... ist nun das dritte Opfer dieses Dramas.

Zwischen die Puffer jener Mächte geraten, die einander in alle Ewigkeit fliehen sollten: Moral und Presse. Dass die Menschheit erbärmlich genug ist, sich des Drucks der Moral nicht erwehren zu können, verzeiht ihr das Mitleid. Wie lange aber wird sie sich geduldig von der Moral des Drucks ins Herz treten lassen? Wann wird sie sich zu brachialer Abwehr einer Tortur entschließen, deren Verüber ihr wie zum Hohn zeigen wollen, dass sie selbst in der Zeit, da sie ihr um vorgeschwindelter politischer Ideale willen Millionen Menschenleben entrissen haben, sich auch noch um der Moral willen mit Kleinigkeiten abgeben können? Wann werden nach Kierkegaards Weisung die Regierenden wissen, wozu Maschinengewehre erfunden sind?

 

 

April, 1917.


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