Symmetrie der Augen


Das Zweite, was der Verstand bei seiner Umarbeitung der Empfindung in Anschauung leistet, ist, dass er das zwei Mal Empfundene zu einem einfach Angeschauten macht; da jedes Auge für sich, und sogar in einer etwas verschiedenen Richtung, den Eindruck: vom Gegenstand erhält, dieser aber doch als nur Einer sich darstellt; welches nur im Verstande geschehn kann. Der Prozeß, durch den Dies zu Stande kommt, ist folgender. Unsere Augen stehen nur dann parallel, wenn wir in die Ferne, d.h. über 200 Fuß weit, sehn: außerdem aber richten wir sie beide auf den zu betrachtenden Gegenstand, wodurch sie konvergieren und die beiden, von jedem Auge bis zum genau fixierten Punkte des Objekts gezogenen Linien daselbst einen Winkel schließen, den man den optischen, sie selbst aber die Augenaxen nennt. Diese treffen, bei gerade vor uns liegendem Objekt, genau in die Mitte jeder Retina, mithin auf zwei in jedem Auge einander genau entsprechende Punkte. Alsbald erkennt der Verstand, als welcher zu Allem immer nur die Ursache sucht, dass, obwohl hier der Eindruck doppelt ist, derselbe dennoch von nur einem äußern Punkte ausgeht, also nur eine Ursache ihm zum Grunde liegt: demnach stellt nunmehr diese Ursache sich als Objekt und nur einfach dar. Denn Alles, was wir anschauen, schauen wir als Ursache an, als Ursache empfundener Wirkung, mithin im Verstande. Da wir indessen nicht bloß Einen Punkt, sondern eine ansehnliche Fläche des Gegenstandes mit beiden Augen und doch nur einfach auffassen; so ist die gegebene Erklärung noch etwas weiter fortzuführen. Was im Objekt seitwärts von jenem Scheitelpunkte des optischen Winkels liegt, wirft seine Strahlen nicht mehr gerade in den Mittelpunkt jeder Retina, sondern eben so seitwärts von demselben, jedoch, in beiden Augen, auf die nämliche, z.B. die linke, Seite der Retina: daher sind die Stellen, welche die Strahlen daselbst treffen, eben so gut wie die Mittelpunkte, einander symmetrisch entsprechende, oder gleichnamige Stellen. Der Verstand lernt diese bald kennen und dehnt demnach die obige Regel seiner kausalen Auffassung auch auf sie aus, bezieht folglich nicht bloß die auf den Mittelpunkt jeder Retina fallenden Lichtstrahlen, sondern auch die, welche die übrigen einander symmetrisch entsprechenden Stellen beider Retinen treffen, auf einen und den selben solche aussendenden Punkt im Objekt, schaut also auch alle diese Punkte, mithin das ganze Objekt, nur einfach an. Hiebei nun ist wohl zu merken, dass nicht etwan die äußere Seite der einen Retina der äußern Seite der andern und die innere der Innern, sondern die Seite der rechten Retina der rechten Seite der andern entspricht u.s.f., die Sache also nicht im physiologischen, sondern im geometrischen Sinne zu verstehen ist. Deutliche und mannigfaltige, diesen Vorgang und alle damit zusammenhängenden Phänomene erläuternde Figuren findet man in Robert Smith's Optics, auch zum Teil in Kästner's Deutscher Übersetzung, von 1755. Ich habe, Fig. 2, nur eine gegeben, welche eigentlich einen weiterhin beizubringenden speziellen Fall darstellt, jedoch auch dienen kann, das Ganze zu erläutern, wenn man vom Punkte R ganz absieht. Wir richten dem gemäß beide Augen allezeit gleichmäßig auf das Objekt, um die von den selben Punkten ausgehenden Strahlen mit den einander symmetrisch entsprechenden Stellen beider Retinen aufzufangen. Bei der Bewegung der Augen seitwärts, aufwärts, abwärts und nach allen Richtungen, trifft nun der Punkt des Objekts, welcher vorhin den Mittelpunkt jeder Retina traf, jedesmal eine andere, aber stets, in beiden Augen, eine gleichnamige, der im andern entsprechende, Stelle. Wenn wir einen Gegenstand mustern (perlustrare), lassen wir die Augen hin und her darauf gleiten, um jeden Punkt desselben sukzessive mit dem Centro der Retina, welches am deutlichsten sieht, in Kontakt zu bringen, betasten also das Objekt mit den Augen. Hieraus wird deutlich, dass das Einfachsehn mit zwei Augen sich im Grunde eben so verhält, wie das Betasten eines Körpers mit 10 Fingern, deren jeder einen andern Eindruck und auch in anderer Richtung erhält, welche sämmtlichen Eindrücke jedoch der Verstand als von Einem Körper herrührend erkennt, dessen Gestalt und Größe er danach apprehendirt und räumlich konstruiert. Hierauf beruht es, dass ein Blinder ein Bildhauer sein kann: ein solcher war seit seinem fünften Jahre der im J. 1853 in Tirol gestorbene, rühmlich bekannte Joseph Kleinhanns.*) Denn die Anschauung geschieht immer durch den Verstand; gleichviel, von welchem Sinn er die Data erhält.

Wie nun aber, wenn ich eine Kugel mit gekreuzten Fingern betaste, ich sofort zwei Kugeln zu fühlen glaube, weil mein auf die Ursache zurückgehender und diese den Gesetzen des Raumes gemäß konstruierender Verstand, die natürliche Lage der Finger voraussetzend, zwei Kugelflächen, welche die äußeren Seiten des Mittel- und des Zeigefingers zugleich berühren, durchaus zweien verschiedenen Kugeln zuschreiben muß; eben so nun wird mir ein gesehenes Objekt doppelt erscheinen, wenn meine Augen nicht mehr, gleichmäßig konvergirend, den optischen Winkel an einem Punkte desselben schließen, sondern jedes in einem andern Winkel nach demselben schaut, d.h. wenn ich schiele. Denn jetzt werden nicht mehr von den aus einem Punkte des Objekts ausgehenden Strahlen auf den beiden Retinen die einander symmetrisch entsprechenden Stellen getroffen, welche mein Verstand, durch fortgesetzte Erfahrung, kennen gelernt hat; sondern ganz verschiedene Stellen, welche, bei gleichmäßiger Lage der Augen, nur von verschiedenen Körpern also affiziert werden können: daher sehe ich jetzt zwei Objekte; weil eben die Anschauung durch den Verstand und im Verstande geschieht. — Das Selbe tritt auch ohne Schielen ein, wenn nämlich zwei Gegenstände in ungleicher Entfernung vor mir stehen und ich den entfernteren fest ansehe, also an ihm den optischen Winkel schließe: denn jetzt werden die vom näher stehenden Gegenstande ausgehenden Strahlen auf einander nicht symmetrisch entsprechende Stellen in beiden Retinen treffen, mein Verstand wird daher sie zweien Gegenständen zuschreiben, d.h. ich werde das näher stehende Objekt doppelt sehn. (Hiezu Fig. 2) Schließe ich hingegen an diesem letzteren den optischen Winkel, indem ich es fest ansehe; so wird, aus dem nämlichen Grunde, das entferntere Objekt mir doppelt erscheinen. Man darf, um dies zu erproben, nur etwan einen Bleistift zwei Fuß vom Auge halten und abwechselnd bald ihn, bald ein weit dahinter liegendes Objekt ansehn.

Aber das Schönste ist, dass man auch das umgekehrte Experiment machen kann; so dass man, zwei wirkliche Gegenstände gerade und nahe vor beiden, offenen Augen habend, doch nur einen sieht; welches am schlagendesten beweist, dass die Anschauung keineswegs in der Sinnesempfindung liegt, sondern durch einen Akt des Verstandes geschieht. Man lasse zwei pappene Röhren, von etwan 8 Zoll Länge und 1 1/2 Zoll Durchmesser, vollkommen parallel, nach Art des Binokularteleskops, zusammenfügen, und befestige vor der Öffnung eines jeden derselben ein Achtgroschenstück. Wenn man jetzt, das andere Ende an die Augen legend, durchschaut, wird man nur ein Achtgroschenstück, von einer Röhre umschlossen, wahrnehmen. Denn, durch die Röhren, zur gänzlich parallelen Lage genötigt, werden beide Augen von beiden Münzen gerade im Centro der Retina und den dieses umgebenden, einander folglich symmetrisch entsprechenden Stellen ganz gleichmäßig getroffen; daher der Verstand, die, bei nahen Objekten sonst gewöhnliche, ja notwendige, konvergirende Stellung der Augenaxen voraussetzend, ein einziges Objekt als Ursache des also zurückgestrahlten Lichtes annimmt, d.h. wir nur Eines sehn: so unmittelbar ist die kausale Apprehension des Verstandes.

Die versuchten physiologischen Erklärungen des Einfachsehns einzeln zu widerlegen ist hier kein Raum. Ihre Falschheit geht aber schon aus folgenden Betrachtungen hervor, 1) Wenn die Sache auf einem organischen Zusammenhange beruhte, müßten die auf beiden Retinen einander entsprechenden Stellen, von denen nachweislich das Einfachsehn abhängt, die im organischen Sinne gleichnamigen sein: allein sie sind es, wie schon erwähnt, bloß im geometrischen.

Denn organisch entsprechen einander die beiden innern und die beiden äußern Augenwinkel und Alles demgemäß: hingegen zum Behuf des Einfachsehns entspricht umgekehrt die rechte Seite der rechten Retina der rechten Seite der linken Retina u.s.w.; wie Dies aus den angeführten Phänomenen unwiderleglich erhellt. Eben weil die Sache intellektual ist, haben auch nur die verständigsten Tiere, nämlich die obern Säugetiere, sodann die Raubvögel, vorzüglich die Eulen, u.a.m., so gestellte Augen, dass sie beide Axen derselben auf Einen Punkt richten können, 2) Die zuerst von Neuton (Optics, querry 15th) aufgestellte Hypothese aus dem Zusammenfluß oder partieller Kreuzung der Sehnerven, vor ihrem Eintritt ins Gehirn, ist schon darum falsch, weil alsdann das Doppeltsehn durch Schielen unmöglich wäre: zudem haben bereits Vesalius und Caesalpinus anatomische Fälle angeführt, in denen gar keine Vermischung, ja, kein Kontakt der Sehnerven daselbst Statt fand, die Subjekte aber nichtsdestoweniger einfach gesehn hatten. Endlich spricht gegen jene Vermischung des Eindrucks Dieses, dass, wenn man, das rechte Auge fest zuhaltend, mit dem linken in die Sonne sieht, man das, nachher lange anhaltende Blendungsbild nur im linken, nie im rechten Auge haben wird, oder vice versa.

 

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*) Über diesen berichtet das Frankfurter Konversationsblatt vom 22. Juli 1853: In Nauders (Tirol) starb am 10. Juli der blinde Bildhauer Joseph Kleinhanns. In seinem fünften Jahre in Folge der Kuhpocken erblindet, tändelte und schnitzte der Knabe für die Langeweile. Prugg gab ihm Anleitung und Figuren zum Nachbilden, und in seinem zwölften Jahre verfertigte der Knabe einen Christus in Lebensgröße. In der Werkstätte des Bildhauers Nißl in Fügen profitierte er in der kurzen Zeit sehr viel und wurde vermöge seiner guten Anlage und seines Talents der weithin bekannte blinde Bildhauer. Seine verschiedenartigen Arbeiten sind sehr zahlreich. Bloß seine Christusbilder belaufen sich auf vierhundert, und in diesen tritt auch in Anbetracht seiner Blindheit seine Meisterschaft zu Tage. Er verfertigte auch andere anerkennungswerte Stücke, und vor zwei Monaten noch die Büste des Kaisers Franz Joseph, welche nach Wien übersendet wurde.


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