§ 45. Gedächtnis


Die Eigentümlichkeit des erkennenden Subjekts, dass es in Vergegenwärtigung von Vorstellungen dem Willen desto leichter gehorcht, je öfter solche Vorstellungen ihm schon gegenwärtig gewesen sind, d.h. seine Übungsfähigkeit, ist das Gedächtnis. Der gewöhnlichen Darstellung desselben, als eines Behältnisses, in welchem wir einen Vorrat fertiger Vorstellungen aufbewahrten, die wir folglich immer hätten, nur ohne uns derselben immer bewußt zu sein, — kann ich nicht beistimmen. Die willkürliche Wiederholung gegenwärtig gewesener Vorstellungen wird durch Übung so leicht, dass, sobald ein Glied einer Reihe von Vorstellungen uns gegenwärtig geworden ist, wir alsbald die übrigen, selbst oft scheinbar gegen unsern Willen, hinzurufen. Will man von dieser Eigentümlichkeit unsers Vorstellungsvermögens ein Bild (wie Plato eines gibt, indem er das Gedächtnis mit einer weichen Masse vergleicht, welche Eindrücke annimmt und bewahrt), so scheint mir das richtigste das eines Tuchs, welches die Falten, in die es oft gelegt ist, nachher gleichsam von selbst wieder schlägt. Wie der Leib dem Willen durch Übung gehorchen lernt, eben so das Vorstellungsvermögen. Keineswegs ist, wie die gewöhnliche Darstellung es annimmt, eine Erinnerung immer die selbe Vorstellung, die gleichsam aus ihrem Behältnis wieder hervorgeholt wird, sondern jedesmal entsteht wirklich eine neue, nur mit besonderer Leichtigkeit durch die Übung: daher kommt es, dass Phantasmen, welche wir im Gedächtnis aufzubewahren glauben, eigentlich aber nur durch öftere Wiederholung üben, unvermerkt sich ändern, was wir inne werden, wenn wir einen alten bekannten Gegenstand nach langer Zeit wiedersehn und er dem Bilde, das wir von ihm mitbringen, nicht vollkommen entspricht. Dies könnte nicht sein, wenn wir ganz fertige Vorstellungen aufbewahrten. Eben daher kommt es, dass alle erworbenen Kenntnisse, wenn wir sie nicht üben, allmälig aus unserm Gedächtnis verschwinden; weil sie eben nur aus der Gewohnheit und dem Griffe kommende Übungsstücke sind: so z.B. vergessen die meisten Gelehrten ihr Griechisch, und die heimgekehrten Künstler ihr Italiänisch. Ebenfalls erklärt sich daraus, dass, wenn wir einen Namen, einen Vers oder dergleichen ehemals wohl gewußt, aber in vielen Jahren nicht gedacht haben, wir ihn mit Mühe zurückbringen, aber, wenn dieses gelungen ist, ihn abermals auf einige Jahre zur Disposition haben; weil jetzt die Übung erneuert ist. Daher soll wer mehrere Sprachen versteht in jeder derselben von Zeit zu Zeit etwas lesen; wodurch er seinen Besitz sich erhält.

Hieraus erklärt sich auch, warum die Umgebungen und Begebenheiten unserer Kindheit sich so tief dem Gedächtnis einprägen; weil wir nämlich als Kinder nur wenige und hauptsächlich anschauliche Vorstellungen haben und wir diese daher, um beschäftigt zu sein, unablässig wiederholen. Bei Menschen, die zum Selbstdenken wenig Fähigkeit haben, ist dieses ihr ganzes Leben hindurch (und zwar nicht nur mit anschaulichen Vorstellungen, sondern auch mit Begriffen und Worten) der Fall, daher solche bisweilen, wenn nämlich nicht Stumpfheit und Geistesträgheit es verhindert, ein sehr gutes Gedächtnis haben. Dagegen hat das Genie bisweilen kein vorzügliches Gedächtnis, wie Rousseau Dies von sich selbst angibt: es wäre daraus zu erklären, dass dem Genie die große Menge neuer Gedanken und Kombinationen zu vielen Wiederholungen keine Zeit läßt; wiewohl dasselbe sich wohl nicht leicht mit einem ganz schlechten Gedächtnis findet, weil die größere Energie und Beweglichkeit der gesammten Denkkraft hier die anhaltende Übung ersetzt. Auch wollen wir nicht vergessen, dass die Mnemosyne die Mutter der Musen ist. Man kann demnach sagen: das Gedächtnis steht unter zwei einander antagonistischen Einflüssen: dem der Energie des Vorstellungsvermögens einerseits und dem der Menge der dieses beschäftigenden Vorstellungen andererseits. Je kleiner der erste Faktor, desto kleiner muß auch der andere sein, um ein gutes Gedächtnis zu liefern; und je größer der zweite, desto größer muß auch der andere sein. Hieraus erklärt sich auch, warum Menschen, die unablässig Romane lesen, dadurch ihr Gedächtnis verlieren; weil nämlich auch bei ihnen, eben wie beim Genie, die Menge von Vorstellungen, die hier aber nicht eigne Gedanken und Kombinationen, sondern fremde, rasch vorüberziehende Zusammenstellungen sind, zur Wiederholung und Übung keine Zeit noch Geduld läßt: und was beim Genie die Übung kompensiert geht ihnen ab. Übrigens unterliegt die ganze Sache noch der Korrektion, dass Jeder das meiste Gedächtnis hat für Das, was ihn interessiert, das wenigste für das Übrige. Daher vergißt mancher große Geist die kleinen Angelegenheiten und Vorfälle des täglichen Lebens, imgleichen die ihm bekannt gewordenen unbedeutenden Menschen, unglaublich schnell; während beschränkte Köpfe das Alles trefflich behalten: nichtsdestoweniger wird Jener für die ihm wichtigen Dinge und für das an sich selbst Bedeutende ein gutes, wohl gar ein stupendes Gedächtnis haben.

Überhaupt aber ist leicht einzusehn, dass wir am besten solche Reihen von Vorstellungen behalten, welche unter sich am Bande einer oder mehrerer der angegebenen Arten von Gründen und Folgen zusammenhängen; schwerer aber die, welche nicht unter sich, sondern nur mit unserm Willen nach dem Gesetze der Motivation verknüpft, d.h. willkürlich zusammengestellt sind. Bei jenen nämlich ist in dem uns a priori bewußten Formalen die Hälfte der Mühe uns erlassen: Dieses, wie überhaupt alle Kenntnis a priori, hat auch wohl Plato's Lehre, dass alles Lernen nur ein Erinnern sei, veranlaßt. —


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