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Gedächtnis und Interesse

Da ist aber mit dem Interesse noch ein anderer Begriff untrennbar verbunden: weil wir das Wort Interesse nicht tautologisch wiederholen dürfen, obwohl es das beste wäre, so wollen wir hier dafür die Empfindung eines Nutzens oder Schadens, das Gefühl der Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit setzen. Schon Verworn hat (S. 138) bemerkt: "Es hat den Anschein, als ob die Protisten den Nutzen oder Schaden der betreffenden Reize wissen, respektive angenehme oder unangenehme Empfindungen durch sie erleiden und deshalb ihrer Quelle nachzugehen oder auszuweichen sich bemühen." Schon Verworn hilft sich recht gut aus der Klemme, indem er alle diese helio- und thermotropischen Bewegungen trotz ihrer scheinbaren Zweckmäßigkeit zu den unbewußten Reflexbewegungen rechnet, die er dann freilich als eine wohlbekannte Tatsache nicht weiter erklären oder beschreiben zu müssen glaubt. Uns wird es geläufig werden, alle derartigen automatischen Bewegungen als ererbte oder erworbene Wirkungen des Gedächtnisses, und erst die Tatsache des Gedächtnisses als das letzte Geheimnis aufzufassen. Aber — so frage ich mich noch einmal und noch dringlicher — an welcher Stelle schleicht sich in dieses (menschlich gesprochen) rein Verstandesmäßige Gedächtnis das Interesse hinein, das Gefühlsmoment, der Eindruck des Angenehmen oder Unangenehmen? Ginge ich darauf aus, ein System zu schreiben, so hätte ich sofort eine prächtige Antwort bei der Hand, eine philosophische Antwort, die mir recht gut gefällt und die übrigens geistreich schillert. So nämlich: das verstandesmäßige Gedächtnis kann auf der niedersten Stufe der Organismen gar nichts anderes leisten als im höchsten Geistesleben des Menschen. Hier, wo das Gedächtnis zum wissenschaftlichen Denken geworden ist, führt es sein Meisterstück aus, wenn es die Zukunft voraus berechnet, wenn es zukünftige Erscheinungen auf das Handeln der Geegenwart einwirken läßt, wenn der Mensch gern spart, um als Greis ein Wohlleben zu führen, wenn man im Sommer vergnügt erntet, um im Winter essen zu können. Das menschliche Gedächtnis, in der Gegenwart allein lebendig, von der Vergangenheit allein genährt, wird der Zukunft dienstbar gemacht. Das Gefühl der Lust bei der Nahrungsaufnahme ist vielleicht nichts anderes als die Vorauswirkung des Gedächtnisses. Die bekömmliche Nahrung schmeckt, weil sie in früheren Fällen gut bekommen ist; die schädliche Nahrung widert an, weil sie in früheren Fällen schlecht bekommen ist. So könnte ein Gefühl der Lust und Unlust, also das eigentlichste Interesse der Organismen, wieder auf das Gedächtnis der Art allein zurückgeführt werden.

Mich befriedigt diese Antwort nicht. Und für unsere gegenwärtige Absicht, für die Frage nach der Entwicklung der Zufallssinne und ihrer Zufallsausschnitte, ist vielleicht eine noch unmittelbarere Verbindung zwischen Interesse und Gedächtnis herzustellen.

Wieder verlasse ich den Gang der Untersuchung für einen Augenblick. Ich könnte den Knoten nämlich leicht durchhauen, wollte ich mich dem Wortaberglauben unterwerfen und das Gedächtnis entweder materialistisch von unserem Bewußtsein trennen oder — was wirklich auf dasselbe hinausläuft - etwas wie ein unbewußtes Gedächtnis auch dem nichtorganischen Stoffe zuschreiben. Dieses letzte zu tun, bin ich gar sehr geneigt. Ob ein sogenanntes Atom Kohlenstoff im Diamanten den gesetzlich vorgeschriebenen Kristall bildet, ob es sich in der Pflanze gesetzlich Zellen bildend aus der Kohlensäure abscheidet, ob es sich im tierischen Körper gesetzlich auf den Sauerstoff stürzt, immer könnten wir dieses Gesetzmäßige im molekularen Vorgang das Gedächtnis des Kohlenstoffatoms nennen. Bewußtsein hin, Bewußtsein her, seine Kristallisationsform, seine chemische Befreiung oder Verbindung muß das Atom auswendig wissen. Daß wir die Kristallisation zur Physik rechnen, die chemische Lösung oder Bindung zu den Lebensprozessen, ist ja ganz unwesentliche menschliche Vorstellungsweise. Es ist menschliche Vorstellungsweise, daß wir der Bewegung des Kohlenstoffatoms im Tierkörper irgend eine letzte Spur von Innenleben oder von Interesse zuzusprechen geneigt sind, daß wir dieses Innenleben bei der Atombewegung in der Pflanze nur widerstrebend mitdenken, daß wir uns die Atombewegung bei der Kristallisation ohne Innenleben denken. Wir denken aber einmal als Menschen, und so müssen wir auf diesen weitern Gesichtspunkt, das Gedächtnis des Unorganischen, vorläufig verzichten und zusehen, ob wir — wie gesagt — eine unmittelbare Verbindung zwischen dem im Organismus vorausgesetzten, an ein Innenleben geknüpften Interesse und dem Gedächtnis herstellen können.

Die letzte Tatsache des Gedächtnisses ist das Wiedererkennen eines bestimmten Eindrucks, oder vielmehr — da wir niemals in denselben Fluß hinabsteigen können — das Vergleichen ähnlicher Eindrücke. Oder aber das Vergleichen ähnlicher Beziehungen von Eindrücken. Das ungeheuer komplizierte Gedächtnis des Kulturmenschen oder gar das Luxusgedächtnis des forschenden Menschen vergleicht so entfernte Ähnlichkeiten wie wandelnde Sterne und fallende Steine, wie den Blitz und das Kunststückchen des geriebenen Bernsteins, wie Interesse und Gedächtnis. Das Gedächtnis der sich entwickelnden Menschheit hat im Laufe der Jahrtausende z. B. Farbeneindrücke verglichen und klassifiziert und sich gemerkt. Das Gedächtnis auch schon des Menschen einer Urzeit hat durch Vergleichung von Eindrücken und Beziehungen die Klassifikationen oder Begriffe Hund, Vierfüßler, Tier gewonnen. Überspringen wir nun die Kluft und fragen wir, worin die Tätigkeit des Urgedächtnisses, des an den Organismus der Amöbe geknüpften Gedächtnisses bestand, weil allein bestehen konnte?