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Drei Potenzen des Zufalls

Kein Strahl irgend eines Wissens dringt zu dem ersten Zufall, der uns die Weltvibrationen nach unseren spezifischen Sinnesenergien als sichtbare, hörbare, fühlbare u. s. w. Wirkungen unterscheiden läßt. Nur ahnend wissen wir etwas davon, wie der Zufall in zweiter Potenz entstanden ist, wie das Interesse der sich entwickelnden Organismen innerhalb der spezifischen Sinnesenergien kleine Ausschnitte des Wahrnehmbaren aus dem Ungeheuern Kreise des für Menschensinne Unwahrnehmbaren ausgeschieden hat. Hie und da wissen wir etwas von dem Zufall in dritter Potenz, der auf diesen kleinen Ausschnitten bestimmte Punkte fixierte und die Vibrationen dieser Punkte und ihrer nahen Umgebung als besondere Sinneswahrnehmungen, Wirkungen oder Eigenschaften auszeichnete, mit Namen versah oder als Begriffe festhielt wie: blau, süß, hart, cis, warm, Flieder. Wenn es nicht über menschliche Kraft ginge, so müßten wir die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Sprache zurückverfolgen über diese drei Zufallspotenzen hinaus, so müßten wir die Zufallsgeschichte des Bedeutungswandels, die wir für die Gegenwart, d. h. für die letzten vier Jahrtausende, verstehen gelernt haben, zurückverfolgen in die vorgeschichtliche und in die vormenschliche Zeit, als die klassifizierende Vergleichung der Weltvibrationen nacheinander die arme menschliche Welterkenntnis schuf, zuerst durch Differenzierung der Sinnesorgane, sodann durch Anpassung der einzelnen Organe an das organische Interesse und endlich durch menschliche Begriffsbildung oder menschliche Gedächtnisarbeit. Sprache können wir alle diese Tätigkeit nennen.

Erinnern wir uns noch einmal des Chaos von Weltvibrationen. Irgend ein Unterschied, den wir resigniert in ein Ding-an-sich zurückhypostasieren, läßt uns Luftschwingungen vorstellen, die von der äußersten Langsamkeit bis zu unausdenkbarer Schnelligkeit fortschreiten können. Aus dieser unendlichen Reihe vernimmt das menschliche Ohr die Schwingungszahlen von sechzehn bis sechzehntausend in der Sekunde. Innerhalb dieses Ausschnittes empfinden wir gewisse Beziehungen oder Verhältnisse als musikalisch. Der Violinspieler wiederum kann seinem Instrumente nur eine bestimmte Anzahl Töne innerhalb dieses Gesamtausschnittes entlocken, weil er zum Greifen nur eine einzige menschliche Hand mit ihren fünf Fingern von bestimmter Länge zur Verfügung hat und weil die Violinen nach diesem Zufall des menschlichen Baues ihrerseits gebaut werden müssen. Und so wie der Violinspieler, so steht das Denken oder die Sprache oder das Gedächtnis des Menschengeschlechts dem Chaos der Weltvibrationen gegenüber; so klein im Umfang, so ahnungsreich im Inhalt ist unsere Welterkenntnis wie eine "Träumerei" auf der Violine.

Wir werden später die Geschichte der Sprache als ein Werk des Zufalls, wie überhaupt die Geschichte der Menschheit als eine Zufallsgeschichte erkennen. Wir werden tiefer in den Zufallsbegriff einzudringen haben. Hier, auf einer der Vorstufen, nur einen Wink, damit das erschreckende Wort "Zufallssinne" sich gleich einer weiten Weltanschauung ruhig und heiter anschmiegen könne. Ist es nicht ein Zufall, daß die chemische Verbindung H2O zu dem bekannten Stoffe verbrennt, den wir Wasser nennen? Ist es nicht weiter ein Zufall, daß dieser Stoff auf unserer Erde nicht selten ist, sondern in solchen Massen vorkommt? Und doch ist die Erscheinung dieses Zufallsstoffes die Grundbedingung alles Lebens auf der Erde in Tieren, Pflanzen und (oft nachweisbar) in Kristallen. und doch ist der Zufallsstoff Wasser die Grundbedingung des menschlichen Organismus und seiner Zufallssinne. Wird man jetzt besser die Vergleichung mit der Violine verstehen, die nur einen Teil der möglichen musikalischen Töne umfaßt, weil sie der Länge und der Gliederung der fünf Finger einer linken Menschenhand angepaßt ist?

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