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Mikroskop

Verworns Begriffe sind deshalb unbrauchbar, weil er das Mikroskop überschätzt und den Ungeheuern Abstand zwischen den sogenannten Molekülen und den allerdings mikroskopisch kleinen Protisten nicht begriffen hat. Über diesen Punkt findet man, ganz allgemein ausgesprochen, ein ausgezeichnetes Wort in Tyndalls von Helmholtz herausgegebenen "Fragmenten aus den Naturwissenschaften", die freilich eine bessere Übersetzung verdient hätten. Tyndall sagt da (S. 180): "Wenn z. B. vom Inhalt einer Zelle gesagt wird, derselbe sei vollkommen homogen, gänzlich strukturlos, weil das Mikroskop keine Struktur zu erkennen vermag, oder wenn zwei Gebilde für identisch erklärt werden, weil das Mikroskop keinen Unterschied entdecken kann, dann spielt meiner Ansicht nach das Mikroskop eine schädliche Rolle. Eine kurze Überlegung wird Ihnen allen klar machen, daß das Mikroskop in der wahren Frage der Keimstruktur keine Stimme haben kann. Destilliertes Wasser ist vollkommener homogen, als der Inhalt irgendwelcher organischen Zelle. Was bewirkt nun, daß das Wasser bei 39° Fahrenheit aufhört, sich zusammenzuziehen, und von da ab sich auszudehnen beginnt, bis es friert? Es ist dies ein Vorgang in der Struktur, wovon das Mikroskop nichts enthüllt und es auch kaum tun wird trotz aller möglichen Fortschritte in seiner Leistungsfähigkeit . . . Oder sind etwa der Diamant, der Amethyst und die unzähligen Kristalle, die sich im Laboratorium der Natur bilden, ohne Struktur? Keineswegs; sie haben sämtlich ihre Struktur. Allein was vermag das Mikroskop daran zu leisten? Nichts. Es kann nicht bestimmt genug ausgesprochen werden, daß zwischen den Grenzen des Mikroskops und denen der Molekeln Raum ist für unzählige Vertauschungen und neue Verbindungen . . . Die Verwicklung des Problems erregt Zweifel nicht nur an der Macht unseres Instrumentes — das würde nichts sagen —, sondern daran, ob wir selbst die intellektuellen Urkräfte haben, welche es uns jemals gestatten werden, uns an den ursprünglich gestaltenden Kräften der Natur zu versuchen." Daran wird auch das Ultramikroskop nichts ändern.

Die Überschätzung des Mikroskops hat schlimme Begriffsverwirrungen zur Folge. Schon daß eine große Zahl kleiner Lebewesen nur um ihrer Kleinheit willen, also aus Verlegenheit, in eine einzige Klasse zusammengeworfen wird, ist für solche Untersuchungen ein arger Übelstand. Mir will scheinen, daß die unter unseren besten Mikroskopen noch strukturlosen Rhizopoden mit ihren Scheinfüßen und die hochentwickelten Ciliaten mit ihren Wimperbewegungen sich der Art nach so sehr unterscheiden wie irgend ein Schwamm von einem Wirbeltier. Klassifizieren kann man doch nur nach Ähnlichkeiten; Kleinheit ist morphologisch keine Ähnlichkeit. Dazu kommt, daß selbst der Größe nach in die Klasse der Protisten Wesen gerechnet werden, die sich an Länge relativ mehr voneinander unterscheiden als eine Maus und ein Elefant, da z. B. eine Halteria grandinella nur ein hundertstel Millimeter, ein Spirostomum ambiguum mehr als einen ganzen Millimeter lang ist. Es ist darum vollkommen unwissenschaftlich, unter solchen Umständen aus Beobachtungen an der einen Art Schlüsse auf die andere Art zu ziehen; ebensogut könnte ein sehr makroskopischer Beobachter (Swift's Riesen von Brobdingrag) behaupten, es habe irgend ein Säugetier keine Lungen, weil der Hering keine besitzt.

Es ist ebenso unwissenschaftlich, um des Haeckelschen Systems willen die Moneren, das heißt "strukturlose", kernlose Lebewesen, von organisch differenzierten Urtieren zu unterscheiden. Verworn selbst hat die Sachlage in seiner "Allgemeinen Physiologie" (4. Aufl. 1903, S. 85), wo er Haeckel schon freier gegenüber steht, sehr gut dargelegt: "Der Begriff Protoplasma, wie ihn die älteren (in der Physiologie veralten Hypothesen sehr rasch) Zellforscher geschaffen haben, ist einerseits gar kein chemischer, sondern ein morphologischer Begriff, und anderseits umfaßte er den ganzen Inhalt der Zelle mit Ausnahme des Kerns. Dieser Zellinhalt ist aber weder in chemischem noch in morphologischem Sinne eine einheitliche Substanz." Es wäre ein Glück für die Naturwissenschaft, wenn es die ganze Familie Plasma, Protoplasma und die gesamte Nomenklatur, die Haeckels Sprachklitterung hinzu erfunden hat, wieder los werden könnte.

Das Mikroskopieren verführt zu falscher Namenerfindung. Freilich ist das nur der gleiche Irrtum, der nichtmikroskopierende Menschen auf die Vortrefflichkeit ihrer unbewaflneten Sinnesorgane vertrauen läßt; der Mikroskopiker sieht nicht weiter als sein Mikroskop, und wo er keine Struktur wahrnimmt, da spricht er von Strukturlosigkeit. Die Bildung des Begriffs "Organoid", den ich oben nachgesprochen habe, hängt damit zusammen. Verworn bemerkt ganz deutlich, daß seine Urtierchen sich auf Reize zusammenziehen, also die Reize empfinden. Beim Menschen hat man als Organ der Bewegung die Muskeln, als Organ der Empfindung die Sinnesnerven erkannt. Eine berechtigte Einbildungskraft sagt dem Mikroskopiker, es werde die Empfindung und Bewegung beim Urtier in ähnlicher Weise vermittelt. Da aber selbst das schärfste Mikroskop ihn nicht in den Stand setzt, die niuskelähnlichen und die sinnähnlichen Organe zu beschreiben, so nennt er die beiden dunkel geahnten Gebilde Myoide und Organoide und glaubt eine Erklärung gegeben zu haben. Doch muß ausdrücklich anerkannt werden, daß Verworn wohl bemerkt hat, es sei die Einschränkung des Seelenbegriffs auf Tiere mit differenziertem, d. h. für den Menschen wahrnehmbarem und wahrnehmbar differenziertem Nervensystem, nur eine sprachliche Frage. Daß er im Übereifer Seele und Leben identifiziert, ist bei der allgemeinen Unklarheit der Psychologie weiter nicht schlimm. Für einen Physiologen erst recht nicht. Nun zu einigen Tatsachen, welche für unsere Untersuchung wichtig sind.