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Lessing

Die Vorstellung, daß unsere Sinne Zufallssinne seien, ist ganz merkwürdigerweise schon bei Lessing zu finden in dem kleinen Aufsatz, welchen sein Bruder unter dem Titel "Daß mehr als fünf Sinne für den Menschen sein können" herausgegeben hat. Bevor wir den Inhalt und den Sinn dieser im Nachlaß gefundenen Blätter ermitteln können, müssen wir mit einigen Worten Lessings philosophischen Standpunkt, das heißt seine Stellung in der Geschichte der Philosophie kurz festhalten. Es wird das nicht angehen, ohne das berühmte Gespräch zu befragen, das Fritz Jacobi bald nach Lessings Tode veröffentlicht hat. Dieses Gespräch zwischen Lessing und Jacobi, das alle Zeichen der Echtheit an sich trägt, ist vielleicht von kulturhistorischer Bedeutung geworden. Der arme Mendelssohn starb — wie man sich erzählte — vor Schrecken darüber, daß sein langjähriger Freund Lessing Spinozist gewesen sein sollte, ohne daß Mendelssohn davon eine Ahnung gehabt hätte. Das wäre nun freilich kein Ereignis von weltbewegender Bedeutung gewesen. Aber durch dieses Gespräch, wurden die führenden Geister Deutschlands auf Spinoza aufmerksam gemacht, von dem die Leute damals, eben nach Lessings grimmiger Äußerung, wie von einem toten Hunde redeten. Goethe wurde Spinozist, soweit er ein . . . ist werden konnte, und vielleicht hat dieser Umstand mehr als alle Arbeit der Geschichtschreiber der Philosophie dazu beigetragen, daß die nachkantische Philosophie in Deutschland (Kant selbst ließ sich, kurz vor dem Tode Friedrichs überreden, etwas unklar gegen Spinozismus und Atheismus, Jacobi und Genietum Stellung zu nehmen) eine spinozistische Färbung erhielt, daß Spinoza heute mit seinem Determinismus die Ethik beherrscht, mit seinem Pantheismus gerade auf dem Gebiete der Psychophysik (in Fechner und seinen Schülern) wieder auflebt.

Nicht so wichtig wie für die Geistesgeschichte der Deutschen scheint mir das Gespräch für die Beurteilung Lessings. Es ist offenbar echt, wie gesagt; denn Jacobi läßt Lessing Sätze aussprechen, die über Jacobis Horizont gehen. Dennoch haben wohl diejenigen Lessingforscher recht, welche auf eine absonderliche Gewohnheit Lessingscher Gespräche hinweisen, auf seinen bald heftigen bald übermütigen Widerspruchsgeist, und überdies aus Lessings Schriften den Schluß ziehen, daß er doch vornehmlich unter dem Einflüsse von Leibniz gestanden habe.

Die ganze Frage wird von Jacobi selbst dadurch verschoben, daß er in seiner dilettantischen Unklarheit Philosophie und Theologie vermischt. Für Jacobi war Spinoza der große Atheist, und ob Lessing ein Atheist gewesen sei oder nicht, darauf kommt es ihm eigentlich an. Ich vermute beinahe, daß die Bezeichnung Spinozist zu Anfang des Gesprächs und dann wieder an einigen Stellen nur eine Umschreibung des Schreckenswortes Atheist sein sollte; gab doch Goethes "Prometheus" den Anlaß, und dieses Gedicht ist eher atheistisch als spinozistisch zu nennen. Lessing mag nun auf die zudringliche Ausholerei Jacobis quertreiberisch ("fun" nennt Nicolai einmal diese Art, die man die dialektische Methode Lessings nennen könnte) eingegangen sein, um sich schließlich über Jacobi, überlegen und etwas ungeduldig, lustig zu machen. Übrigens war es ihm jedoch bei seinem Bekenntnis zu dem Pantheismus, das heißt Atheismus Spinozas sicherlich ernst; auch in weiteren Punkten, die mit theologischen Fragen zusammenhingen, konnte er sich einen Spinozisten nennen. Was aber seine gesamte Weltanschauung anbelangt, seine Erkenntnis der Wirklichkeitswelt, seine Erkenntnistheorie, da bekennt er sich auch in dem berühmten Spinoza-Gespräche zu Leibniz, und zwar echt Lessingisch, nicht um des Besitzes der Wahrheit willen, sondern um des immer regen Triebes nach Wahrheit willen: trotzdem es bei dem größten Scharfsinn oft sehr schwer sei, Leibnizens eigentliche Meinung zu entdecken. "Eben darum hielt ich ihn so wert, ich meine wegen dieser großen Art zu denken, und nicht wegen dieser oder jener Meinung, die er nur zu haben schien oder auch wirklich haben mochte."