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Gedächtnis und Leben

Wenn nun nach einer Entwicklung von unzählbaren Hunderttausenden von Jahren der natürliche Mensch mit dert Hühnern schlafen geht, wenn nicht nur für den Schlaf, sondern sogar für die Müdigkeit Vorstellungen und Worte da sind, was ist es anderes als die Tatsache: es hat der Organismus ein Gedächtnis, es ist nichts im Leben, was nicht vorher in der Erfahrung war? Das Gefühl der Furcht war zuerst im innerer: Sinne, das Aufpicken des Körnchens hat das Hühnchen im ererbten Gedächtnis des Muskelsinnes behalten; die feinste Tätigkeit des Verstandes, die mathematische Abschätzung von Zeit und Raum wäre nicht möglich, wenn ihre Elemente nicht vorher in den Nerven des Gesichtssinns und des Augenmuskelsinns gewesen wären; und in der Vernunft, das heißt im begrifflichen Denken ist erst recht nichts, was nicht vorher bei dem Torschreiber eines Sinnes vorbeigezogen ist. Kurz: unser ganzes Seelenleben, das vegetative sowohl wie das tierische und das begriffliche, ist nichts als Gedächtnis, und insbesondere das begriffliche Seelenleben oder die Vernunft erkennen wir an als nicht mehr und nicht weniger denn das Gedächtnis unserer Sinneseindrücke oder die — Sprache. Sind wir so weit gelangt, dann dürfen wir den bekannten sensualistischen Satz auch so formulieren, ganz leer, ganz arm: In dem Gedächtnis unserer Sinne ist nichts, was nicht vorher in den Sinnen war. Es ist aber dieser tautologische Satz der Grund, weshalb sich die Psychologie fast ausschließlich mit dem Intellekt beschäftigt; und dies wäre noch auffallender, wenn die Psychologie manches traditionelle Geschwätz über Gefühle und Willen aufgeben und wenn sie dafür die sogenannte Logik, wie sich's gehört, zu einem Teil der Psychologie machen wollte. Das ist so wenig anerkannt, daß Spencer sich noch dafür entschuldigen zu müssen glaubt, wenn er in der spezieller: Analyse seiner Psychologie sich auf die intellektuellen Vorstellungen beschränkt.

Für uns ist es nun außerordentlich wichtig, einzusehen, daß gerade diejenigen Vorstellungen uns intellektuell erscheinen, die durch eines der fünf Tore unserer Sinne in unser Gehirn eingezogen sind. Es handelt sich offenbar darum, daß die Nervenkomplexe, welche unser vegetatives Leben bedienen, kein so rechtes Gedächtnis haben wie die speziellen Sinnesnerven, und daß unter den speziellen Sinnesnerven das Gedächtnis nach Reichtum und Kraft nicht das gleiche ist. Oder: es muß das organische Gedächtnis z. B. der Nerven, die den Blutkreislauf bedienen, außerordentlich genau sein, aber ihm entspricht nicht ein ebenso treues Gehirngedächtnis, und daher allein kommt es, daß die Zustände des Blutkreislaufs nicht immer im Intellekt sind. Oder vielmehr: die bekannten fünf Sinne, welche besondere Tore nach der Außenwelt haben, welche lange Zeit allein als Sinne angesprochen wurden (so daß auch formelhaft "die fünf Sinne" vom normalen Seelenleben gebraucht wurden), sind allein im stände, unsere Weltkenntnis zu klassifizieren, zu ordnen (provisorisch), sie sprachlich vorzukauen, sie mundgerecht zu machen; die Organe der Vitalempfindungen, der Bewegungsempfindungen liegen versteckt, diese Empfindungen selbst sind dunkel, der Gemeinsprache oft ganz fremd oder gar zu grob unwissenschaftlich. Für beide Gruppen gilt aber mein traurig armer Satz: Es ist nichts im Gedächtnis der Sinne, was nicht vorher in den Sinnen war.