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Der trockene Putsch

Achtundvierzig Stunden nach der Ermordung Walther Rathenaus sah es so aus, als ob wir einen blutigen Putsch bekommen sollten. Wessen Blut geflossen wäre, ist ganz klar: ein großer Teil des Bürgertums wäre wie ein Mann aufgestanden –– und hätte erwartet, dass sich die Arbeiterschaft vor die Maschinengewehre geworfen hätte. Denn wenn es um die Freiheit geht und um die Republik, sind es letzten Endes immer die Arbeiter, die gutmachen müssen, was diese vier Jahre hindurch schlechtgemacht worden ist.

Dieser blutige Putsch ist nicht gekommen. Vielleicht war man noch nicht so weit – vielleicht wartet man noch. Die Gefahr ist nicht kleiner geworden. Denn was sich augenblicklich im Reichstag und in den Behörden langsam vorbereitet, ist ein trockener Putsch, einer, in dem kein Blut, aber viel Tinte vergossen wird, und einer, der in seinen Folgen genau so ausfallen wird, wie jene projektierte Ludendorffiade, zu der die Schüsse im Grunewald offenbar das Signal waren. Ich halte diesen bevorstehenden trockenen Putsch für viel gefährlicher.

Wenn die deutschen Reichstagsabgeordneten zu Mittag essen, dann sehen sie zu ihren Häupten auf der grauslich bemalten Saaldecke einen großen schwarzen Piepmatz, den Adler eines Reiches, das es nicht mehr gibt und hoffentlich nie mehr geben wird. Ein lateinischer Spruch ziert den Vogel: Sub umbra alarum tuarum protege nos! (Unter dem Schatten Deiner Flügel beschütze uns!) Da kann man nur: »Gott soll schützen!« rufen – und es ist verständlich, dass sich die Republik nach einem anderen Schutz umsieht als nach so einem traurigen.

Das Gesetz zum Schutze der Republik, das augenblicklich durchberaten wird, ist im Grunde eine doppelte Selbstverständlichkeit. Erstens ist es selbstverständlich, dass es überhaupt kommt. Wir können nicht länger tatenlos zusehen, wie ein Führer nach dem anderen abgeknallt, erschlagen, ins Wasser geworfen und gefleddert wird. Noch heute erhalten die oppositionellen Führer aller Lager ebenso anonyme wie deutschnationale Drohbriefe, und man fühlt sich an das Wort Eugen Levinés erinnert: »Wir sind alle Urlauber des Todes!«

Die zweite Selbstverständlichkeit ist der materielle Inhalt des Gesetzes. Hätten wir wirklich eine Republik und nicht eine verhinderte Monarchie mit einer Beamtenschaft, die, besonders was die höheren Herren angeht, ihr Geld dafür nimmt, dass sie dem Staat schadet: dann, aber nur dann langten die bestehenden Gesetze vollauf, um widerspenstige Beamte, um randalierende Staatsbürger im Zaum zu halten. Wir haben diese Beamtenschaft nicht. Wir haben insbesondere keine Richterschaft, zu deren politischen Urteilen wir noch irgendwelches Vertrauen haben können – und deshalb ist dieses Gesetz nötig.

Wie es nachher ausgelegt wird, und wie es durchgeführt wird, ist eine andere Sache. Wie insbesondere der § 2a, Ziffer 1, wirken wird, muß abgewartet werden. Er stellt die Herabwürdigung von Mitgliedern der republikanischen Regierung unter Strafe. Also wie? Dürfen wir nicht mehr sagen, dass der Reichswehrminister Geßler, von dem man nicht genau weiß, ob er als Demokrat oder als Reichswehrminister mehr enttäuscht hat, eine Unmöglichkeit ist? Und dass es ein Schauspiel mäßigsten Kalibers ist, dauernd seine Ableugnungskanone, den Major Schleicher, auffahren zu sehen, der bei allen festlichen Gelegenheiten und bei jedem neuen Skandal in der Reichswehr den Satz hervorschießt: »Es ist alles nicht wahr«? – Dürfen wir nicht mehr sagen, dass die etwa projektierte Ernennung Kaupischs, des jetzigen Obersten der Schutzpolizei, zum Reichswehrminister ein Witz und nicht einmal ein guter ist? Ist das Herabwürdigung der Republik?

Und dürfen wir nicht sagen, dass in fast allen wichtigen Stellen des Reiches und der Länder Kräfte am Werk sind, die offen, mit dem Maul am Wirtshaustisch, und versteckt, mit der Schikane im Geschäftsgang, die Republik sabotieren? Ist solche Kritik auch Herabwürdigung der Republik? Werden wir vor den Staatsgerichtshof kommen, wenn wir behaupten und nachweisen, dass leise, leise, von den Universitäten bis zu den höchsten Regierungsstellen die gebildete Schicht dieses Landes, die sich infolge der Lauheit und Flauheit des Bürgertums ›herrschende Klasse‹ nennen darf – dass sie, wo sie nur kann, jenen grauenhaften alten wilhelminischen Geist hegt und pflegt und einen Haß gegen den Proletarier mit Erfolg großzüchtet, dessen Auswirkungen, blutig oder unblutig, wir täglich zu sehen bekommen? »Sie achten nur die Vetternschaft, sie verkuppeln das Mikroskop mit dem Katechismus und die Philosophie mit der Polizei«, hat Jakob Wassermann einmal von solchen gesagt. Sie sind täglich dabei, feige und verantwortunglos, wie es ihre Gewohnheit ist, einen trockenen Putsch zu inszenieren. Einen leise dahinschwelenden, unmerklich glimmenden Putsch, der uns Kopf, Kragen, Republik und das bißchen Freiheit kosten kann.

Unsere Fraktion wird darüber zu beschließen haben, ob und unter welchen Bedingungen sie in die Regierung geht. Das gesamte arbeitende Volk, soweit es politisch denken kann, steht dieses Mal geschlossen hinter den sozialistischen Parteien. Weiß die Regierung nicht, wo die sitzen, die am meisten für die Republik tun? Kennt sie das Wort Alexander v. Humboldts? »Die Deutschen brauchen für jede Dummheit zweihundert Jahre: hundert, um sie zu begehen, und hundert, um sie einzusehen.« Die Entwicklung geht heute schnell. Wir wollen nicht so lange warten.

Gebannt ist die Gefahr für den Augenblick wohl – verschwunden ist sie nicht. Geht der Reichstag in seine Sommerferien, ohne mehr geschaffen zu haben als ein kurzes Gesetz, dessen Durchführung in Anbetracht dieser tückischen und hinterhältigen Beamtenschaft sehr zweifelhaft ist, dann werden sich die Herrschaften von der Organisation Consul zwar vielleicht überlegen, ob sie jetzt einen blutigen Putsch riskieren sollen. Aber den trockenen Putsch – den auf dem Wege der Verwaltung – haben wir dann auf alle Fälle. Die Landwirte haben die Hand an der Gurgel des Staates, durch die die Nahrung läuft. Sie können jeden Tag zudrücken. Sie haben den Roggen. Sie haben die Beamten.

Und wenn wir nicht wachsam sind, haben wir im nächsten Winter den trockenen Putsch.

Ignaz Wrobel
Freiheit, 16.07.1922.