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Der Tag der Wahrheit

Eindrücke aus einer Versammlung

Auf diesen Augenblick hatte ich mich vier Jahre lang gefreut. Endlich, endlich einmal laut und offen die Wahrheit sagen dürfen – endlich einmal sagen können, wie es wirklich draußen zugegangen ist, endlich einmal vom Krieg nicht im Stil jenes Kriegspresseamts sprechen dürfen: »Der brave Musketier … der Todesmut unserer Truppen … stramme Manneszucht Ritterkaste der deutschen Offiziere … « Endlich, endlich. Wenn wir draußen unter irgendeinem minderwertigen Leutnant oder verzogenen Militäranwärter gelitten hatten, entrang sich den Gequälten der Wunsch: »Jetzt sind wir stumm. Wenn wir sprechen dürften –!« Und nun konnten wir sprechen.

Der Bericht dieses Blattes über die Kundgebung des Friedensbundes der Kriegsteilnehmer wird den Lesern erzählt haben, wie es zuging. Darf ich an dieser Stelle all denen danken, für die Sache danken, die meinen Freuden und mir zugestimmt haben? Es war schön zu wissen, dass man nicht ganz allein stand.

Hübsche Dinge gingen vor sich. Am nettesten war wohl der Zwischenruf, der den Hauptmann Meyer unterbrach, als er gesagt hatte: »Ich stehe hier als alter, aktiver, preußischer Offizier und sage … « – »Pfui! Pfui!« riefen die anwesenden Soldaten unbekannter Herkunft. Das heißt: wenn einer einem verlogenen System gedient hat, so ist es seine Pflicht und Schuldigkeit, sein ganzes Leben lang fortzulügen, so hat er die Verpflichtung, niemals mehr die erkannte Wahrheit auszusprechen. Was sagt ihr dazu?

Aber ihr stimmt uns zu. Es tat so wohl, zu fühlen, dass die Erkenntnis von der Übelkeit dieses Kriegsbetriebes in viele Gemüter gedrungen ist, dass sich langsam, ganz langsam, die Einsicht Bahn bricht: Ja – wir sind behandelt worden wie die Hunde – schlimmer als die Hunde – wir waren »Leute«, »Kerls«, »Untergebene« – eine graue, geduckte, willenlose Masse. Aber keine empfindungslose Masse, und was sich vier Jahre lang aufgespeichert hatte, hier brach es wie mit einem Knall heraus, das Ventil platzte, und es entwich die zischende und berechtigte Wut der Erinnerung.

Nichts scheint mir falscher, als die kleinen eigenen Erlebnisse als Grundlage für die Beurteilung dieses Offizierskorps zu nehmen. Darauf kommt es nicht an. Die Angelegenheit ist nicht, wie die anwesenden Radaubrüder meinten, eine Stammrollenfrage. Es ist gänzlich gleichgültig, ob der Beurteiler des deutschen Heeres ein Drückeberger war oder ein Held. Worauf es allein ankommt, ist dies:

Ist es wahr, dass der Offizier dem Manne das Essen wegaß – ja oder nein? Ist es wahr, dass die gesamte Lebenshaltung des deutschen Offiziers im Kriege unverhältnismäßig besser war als die des Mannes, so dass kein kameradschaftliches Verhältnis mehr zwischen ihnen bestand – ja oder nein? Ist es wahr, daß sinnlos Tausende und Tausende einem wahnsinnigen militärischen Ehrgeiz geopfert wurden, wie es der Kindermörder von Ypern machte – ja oder nein? Nur das steht zur Diskussion und nicht persönliche Dinge.

Ich habe viele Eindrücke aus der Versammlung mit nach Hause genommen – der leuchtendste und unvergeßlichste ist dies Bild: Ich hatte gesagt, dass die letzte kurländische Hure dem deutschen Offizier nähergestanden hat als sein eigener Landsmann, der Muschkot – der Saal erbrauste. Unten stand ein lehmgrau gekleideter schwarzer Mann, er schwenkte seine Mütze, und in seinen Augen war so viel Dankbarkeit. Er hörte nicht mich – er hörte sich.

Kamerad, ich grüße dich. Es ist schön zu fühlen, dass man nicht allein steht.

Ignaz Wrobel
Berliner Volkszeitung, 17.12.1919, Nr. 603, S. 1.