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Ich habe noch …

»Ich habe noch meinen alten Paletot« – auf diesem traurig merkwürdigen Satz beruhen heute unendlich viele Existenzen. Sie haben noch … Die alten Dinge aus dem Frieden, die Anzüge, die Kragen, die Möbel und die Teppiche – Dinge, die während des Krieges still auf ihren Herrn gewartet haben, und nun sind sie noch da. Noch … Wie lange noch … ?

Eine ganze Schicht lebt heute das alte Leben weiter fort, aber es ist ein Scheinleben; das Rad läuft, aber der Antrieb ist gehemmt. Noch läuft es. Eine ganze Schicht fragt sich jeden Morgen besorgt und beschwert, wie lange es noch so wird weitergehen können. Denn die alten Sachen, die noch vorhanden sind, das Material, das heftig in Anspruch genommen wird: es wird eines Tages verbraucht sein, es muß erneuert werden, aber das kostet Geld, es wird also nicht erneuert werden – nun gut, und dann –?

Dann wird eine Schicht, die heute nicht das schlechteste am Mittelstand darstellt, untergegangen sein, leise, klanglos, still, ohne dass es einer merken wird. Untergehen – die Menschen gehen nicht unter. Sie verelenden. Und das geschieht ohne viel Lärm und Aufsehen.

Aber wird es keiner merken? Wir merkens schon. Wir merken, dass jener feine, unwägbare Einfluß fehlt, der von diesen Leuten, die da heute am Verelenden sind, immer ausgegangen ist. Die Lauten treten an ihre Stelle, die Robusten, jene, die zu jeder Konzession bereit sind, und die Geld verdienen, haben, scheffeln. Und so geht unser Bestes langsam vor die Hunde.

Es geht langsam. Im Kriege wurden diese Dinge humoristisch genommen – man lachte, weil dies oder jenes so rar oder so teuer war und wurde, dass man es sich nicht zulegen konnte – aber das ist der Krieg, nicht wahr, und er wird vorbeigehen … Aber er ging nicht vorbei, er ist bis heute nicht vorbeigegangen, und die Dinge, die über den Etat gehen, werden immer zahlreicher, und die kleinen, nagenden Sorgen werden immer mehr und mehr … Es geht langsam. Es fing mit einer ganz unbedeutenden Qualitätsminderung im Handschuhkauf an und bei den Stiefeln; es begann damit, dass man zufrieden war, überhaupt Butter zu bekommen, deren Beschaffenheit längst nicht mehr zur Diskussion stand, es begann damit, dass man dies und jenes unterließ, dieses oder jenes liebe Buch nicht kaufte und der gnädigen Frau ein paar Rosen weniger zu schicken in der Lage war … Es ging langsam.

Bis das Tempo lebhafter wurde. Bis aus den kleinen Unbequemlichkeiten große Unannehmlichkeiten, und aus diesen nackte Sorgen wurden. Bis eine ganze Schicht in diesem Lande erkannte: Ruin! So geht das nicht weiter! Und bis aus einem bescheidenen Mittelstand etwas wird, das noch immer der Tod allen geistigen Lebens gewesen ist: wirtschaftliches Proletariat. Ehre dem Proletarier, der trotz der Mietkaserne Bücher liest! Ehre dem jungen Arbeiter, der sich fort-bildet, und der es zu etwas bringt! Helden. Und Ausnahmen. Wer kann das –?

All die kleinen Lehrerinnen, die Beamten, die kaufmännischen Angestellten und ihre Angehörigen – diese ganze Schicht, die bis dahin den empfänglichsten Boden für die Gaben der Künstler gebildet hatte, die so dankbar waren für alles, was ihnen gegeben wurde – sie sind in der Nähe des Untergangs. Heute haben sie noch. Und dann –?

Unsere Väter sind alt und sitzen in ihren Möbeln. Unsere Kinder werden vielleicht einmal wieder in der Lage sein, sich in die ihren zu setzen. Aber wir? Aber die Dazwischenlebenden? Es besteht gar kein Zweifel, dass es heute für den Mann des Mittelstandes eine blanke Unmöglichkeit ist, eine Frau heimzuführen, die nicht im Besitz großer Geldmittel ist. Es besteht gar kein Zweifel, dass diese Lage nicht nur wirtschaftlich von den schwersten Folgen begleitet sein wird, sondern vor allem geistig. Wohin treiben wir? Wohin werden wir getrieben?

Noch geht im großen und ganzen das Spiel mit den alten Kulissen weiter. Noch wird verlangt, dass jeder reine und gut gepflegte Leibwäsche trägt – und er kann das ja auch, weil er sie noch besitzt. Aber wenn sie abgenutzt ist, was dann –? Noch täuscht man sich selbst mühsam vor, es habe sich ja im großen und ganzen nichts gewandelt, und es sei gewiß eine schwere Zeit, aber man werde wohl immerhin … Nun sind aber wirtschaftliche Gesetze stark, sehr stark – und ich sehe über das Land: angestrengt, die Lippen zusammengekniffen, mit gefurchter Stirn, stemmen sich Tausende und Tausende gegen das Rad des großen Wagens, der unaufhaltsam seinen Weg zu machen gesonnen ist, sie ächzen, die beste Manneskraft geht dahin – aber der Wagen rollt.

Der Typus des stillen Helden, den Thomas Mann für die deutsche Literatur entdeckt hat – er ist nie größer gewesen als in dieser Zeit. Nicht nur, dass die feinsten Köpfe gezwungen sind, für Geld Dinge herzustellen, die mit ihrem innersten Wesen nichts zu tun haben – wieviel Energie gehört dazu, wieviel Zähigkeit, wieviel Glaube!

Denn noch glauben sie. Die Schuhe sind nicht mehr sehr gut, die Anzüge bieten das Bild jenes leisen und schrecklichen Verfalls, das nur ein Frauenauge zu sehen in der Lage ist, die Möbel sind in ihren Ersatzteilen nicht mehr harmonisch – es geht langsam, ganz langsam bergab. Aber der Glaube blieb.

Noch glauben sie alle. Noch glauben sie, es könne damit nicht abgetan sein. Es könne so nicht aufhören. Dafür könnte die Generation ihrer Väter und Vorväter nicht gerungen haben (»Mein Junge soll mal was Besseres werden!«) – noch glauben sie. Und ich weiß zwar nicht, ob die Nationalökonomen, die restlos alles nach ökonomischen Gesetzen erklären wollen, lächeln werden: aber ich denke, dass dieser Glaube stärker ist als wirtschaftliche Gesetze.

Laßt nicht ab! Bleibt diesem Glauben treu! Es ist euer Bestes. Wir alle sehen, wie es bergab geht, unaufhaltsam bergab, und wie wenig Hoffnung ist, daß wir jemals die Zeiten des billigen Inselbuches (das mir geradezu als Symptom dieser Schicht erscheint), wieder erleben werden. Glaubt dennoch! Ihr seid nicht allein.

Die unerbittliche Mühle des Tages klappert. Tagaus, tagein. Leuchtendes Jugendland versinkt – das, was wir geliebt haben, ist Luxus geworden, heute fast ausnahmslos in den Händen derer, die es sich mit Geld erkaufen wollen – aber das geht nicht, geht zum Glück nicht. Wir hatten gehofft, es später, in besseren Zeiten, wiederzuerlangen – dafür haben wir gearbeitet, dafür durchgehalten. Was der beneidenswert robustere Teil der Bevölkerung nicht merkt: wir haben es empfunden. Und wollten es bewahren. Und nun laufen die Tage, rinnen dahin – und was bleibt uns? Noch geht es, noch können wir – noch einen Arbeitsmonat, noch dies, noch das – gewiß, noch geht es. Aber wie lange? Und besser werden wir nicht dabei.

Glaubt, glaubt. Haltet fest, ihr kleinen Kaufleute, und ihr, Lehrer, haltet fest, Angestellte und Arbeiter und Handwerker! Haltet fest. Die Valuta ist gefallen, diese Valuta darf nicht sinken. Ihr tragt sie in euern Händen. Und haltet fest, ihr Mädchen, die ihr das Kostbarste im Herzen habt, das es für die gibt, die euch lieben. Und halt auch du fest, liebste Frau – und warte. Warten ist schließlich das Schönste auf der Welt.

»Wir haben noch … « Nicht lange mehr, und ein härterer Kampf wird beginnen, als der war, der um jenes Fort Douaumont tobte. Und ein schicksalsreicherer. Trösten kann niemand. Aber anfeuern und ausharren machen. Und an eins der schönsten Worte Christian Morgensterns erinnern:

Dulde. Trage.

Bessere Tage

werden kommen.

Alles muß frommen,

denen, die fest sind.

Herz, altes Kind,

dulde, trage!

Es wird – scheltet mich nicht einen Metaphysiker – doch einmal belohnt werden.

Peter Panter
Berliner Tageblatt, 24.11.1919, Nr. 559.