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Über den sogenannten ›Landesverrat‹

Die Talarvereinigung, die sich in Deutschland ›Reichsgericht‹ nennt, hat seit jeher über Landesverräter geradezu barbarische Strafen verhängt. Diese rein administrativen Maßnahmen werden in geheimen Sitzungen vorgenommen; es ist immer wieder zu betonen, dass eine juristische Kritik hier nicht vorzunehmen ist: mit Rechtsprechung hat das, was da getrieben wird, nichts zu tun.

Wer sind nun diese Landesverräter, und was ist Landesverrat?


Die üblichen Spionagefälle betreffen meist Leute, derer man sich nur schwer annehmen kann: es sind im allgemeinen üble Existenzen, die da ihr etwas schmieriges Gewerbe ausüben. Ihr Beruf erfordert in den Spitzenleistungen sehr viel Intelligenz, Geistesgegenwart, Gerissenheit – muß sich aber doch meist derart schmutziger Mittel bedienen, dass es auch beim besten Willen nicht möglich ist, diesen Handel mit Geheimnissen hoch zu bewerten. Schmutzig die Mittel, schmutzig der Zweck, sehr oft ein Geschäft und nichts als das, mit Alkohol, Bestechung, Weibern und Diebstahl arbeitend … es ist nichts.

Daß die richterliche Bewertung dieser Straftaten danebenhaut, ist verständlich, wenn man die Vorbildung dieser Richter kennt; ihre durchaus nationalistische Erziehung, ihre Klassenherkunft setzen sie nicht in die Lage, über staatliche Interessen so objektiv zu denken, wie das nötig wäre.

Ganz etwas anders aber ist die moralische Wertung der Personen und der Sache. Und da erhebt sich die Frage:

Darf der Pazifist, wenn es ihm richtig erscheint, natürlich, ohne dass Geld im Spiel ist, Fremden das mitteilen, was man bei ihm zu Hause als ›geheim‹ bezeichnet?

Diese Frage ist zu behandeln ohne jede Rücksichtnahme auf die herrschende Bürgerideologie von der ›Heiligkeit des Staates‹.

Es ist grundfalsch, wenn lammfromme Pazifisten oder Sozialisten vor ausländischen Freunden plötzlich zusammenknicken, weil dies oder jenes ›aus taktischen Gründen‹ vor Ausländern nicht gesagt werden dürfe. Das ist entweder Feigheit oder Verkennung der eigenen pädagogischen Belastung.

Wenn man mir in Frankreich das Ansinnen stellte, die trüben Geheimnisse der deutschen Reichswehr an Franzosen auszuliefern, so würde ich folgende Überlegung anstellen:

Wer stellt das Ansinnen an mich? Sind es pazifistische Freunde? Was werden diese pazifistischen Freunde mit meinem Material tun? Nützen sie damit unserer Bewegung? Besteht Gewähr, dass dieses Material so verarbeitet wird, dass seine fälschliche Ausnutzung durch fremde Nationalisten in gewissem Maße verhindert wird? (Ganz verhindern kann man dergleichen nie, ist auch nicht nötig.) Schädige ich mit der Preisgabe solchen Materials deutsche Arbeiter und Angestellte, die unschuldig an den Rüstungen sind?

Hätte ich diese Fragen nach bestem Wissen und Gewissen so entschieden, dass sie für die Preisgabe des Materials sprechen, so lieferte ich das Material aus.

»Und wenn Sie späterhin von einem deutschen Richter gefragt werden, ob Sie es getan haben – dann haben Sie doch hoffentlich den Mut, zu bekennen?«

Dann hätte ich nicht das dazu nötige Maß Torheit, zu bekennen.

Ich sehe noch die blauen Augen eines tapferen und anständigen Pazifisten vor mir, der mir während einer gegen ihn gerichteten Voruntersuchung sagte: »Ich werde doch natürlich nichts verschweigen!« – Falsch. Der Korpsstudentenstandpunkt des Untersuchungsrichters, den ich nicht dazu gemacht habe, auf dessen Ernennung und Absetzung ich niemals Einfluß gewonnen habe, weil meine Volksvertreter zu schlapp sind – dessen Ehrenstandpunkt ist mir vollständig gleichgültig. Gleichgültig seine Fibelsprüche von der Heiligkeit seines Staates, von dem, was er unter Feigheit, unter Tapferkeit versteht … Es gehört mitunter mehr Mut dazu, ›feige‹ zu sein, als eine Mensur auszupauken.

Unter revolutionären Pazifisten kann es nur eine einzige Front geben. Pässe sind gleichgültig, Grenzpfahlfarben, Uniformabzeichen, Gerichtshöfe: über die braven Vorschulideale hinweg soll der Pazifist seine eignen Ideale zur Geltung bringen.

Und deshalb halte ich es für den schwersten Fehler, den unsereiner begehen kann, wenn er den andern immer wieder den Gefallen tut, auf ihre vaterländischen Bibelverse hereinzufallen und entschuldigend zu rufen: »Nein, ich bin kein Vaterlandsfeind! Ich bin ein Pazifist, nur ein Pazifist! Nein – so böse bin ich gar nicht, wie du mich da hinmalst! Ich bin staatsfromm – auch ich!« – Es nützt nicht einmal etwas.

Diesen Leuten ist nur beizukommen, wenn sie den Gegner spüren, mit dem sie rechnen, den ernsthaften Gegner, den militanten Pazifisten, den kämpfenden Friedensfreund, Ob die das ›Landesverrat‹ nennen, was wir tun, ob sie uns beschuldigen, Antideutsche zu sein, Vaterlandsverräter und Staatsfeinde: das ist alles völlig unerheblich. Wir haben sie nicht gefragt.

Daß es in den meisten Fällen für den internationalen Pazifisten nicht einmal für seine eigene Sache günstig sein muß, den fremden Imperialismus gegen den eigenen auszuspielen, ist eine andere Sache. Daß diese allsonntäglich gepriesene, und allwöchentlich verhohnepipelte Republik eine Zeitlang auf den Spitzen fremder Bajonette gestanden hat, dass die entsetzliche Enttäuschung, die Frankreich der deutschen Linken bereitet hat, noch nicht verwunden ist, steht dahin. Aber was gar nicht dahinsteht, ist dies:

Eine moralische Verurteilung durch die Vaterländischen ist für uns manchmal ein Lob, meistens gleichgültig. Denn das Land, das ich angeblich verrate, ist nicht mein Land, dieser Staat ist nicht mein Staat, diese Rechtsordnung ist nicht meine Rechtsordnung. Mir sind ihre Farbenzusammenstellungen so gleich wie ihre lokal begrenzten Ideale; hier habe ich nichts zu verraten, denn man hat mir nichts anvertraut.

Den braven Bürgersprüchen nachzugeben, zu schweigen, wo wir sprechen sollten, uns zu beugen, wo wir zurückschlagen müßten –: nur dies wäre Verrat, Verrat an unserer eigenen pazifistischen Sache.

Ignaz Wrobel
Das Andere Deutschland, 11.09.1926.