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Die kleinen Könige

Ein Streitruf

Das Kapitel, das hier behandelt werden soll, ist eines der traurigsten des deutschen Lebens. Und es scheint mir an der Zeit, es zu behandeln, weil seine Helden noch niemals den Kopf so hoch trugen wie heute, und weil sie nie drückender auf ihren Untertanen lasteten als in diesen schweren Tagen.

Die Organisation des modernen Lebens hat es mit sich gebracht, dass die Zahl derjenigen, die anderen Menschen ›vorgesetzt‹ worden sind, ins unermeßliche angeschwollen ist. Jeder Mann ist heute Vorgesetzter und Untergebener; jeder ist Glied in der Kette, jeder hat zu befehlen und zu gehorchen.

Das war früher anders. Da befahl der eine, befahl ganz und gar, befahl ausschließlich und in allem – und der andere gehorchte, gehorchte geduckt und gebeugt und hatte nichts als zu gehorchen. Befehlen und herrschen – das war eines.

Heute ist Befehlen etwas anderes. Ein Befehl ist noch lange keine persönliche Herrschaft, sondern – seinem ursprünglichen Sinn nach – eine sachliche Anordnung. Der Befehl wird ausgeführt, aber der Ausführende geht nachher nach Hause und ist ein freier Mann.

So ist das System gedacht. In Wahrheit aber hat jeder, der Befehle zu erteilen hat, die alte Form über den neuen Inhalt gestülpt (daran krankt unsere Zeit) und glaubt nun, er sei ein Herrscher alten Stils, weil man ihn eingesetzt hat, sachliche Anordnungen zu treffen. Und das schreckliche Wort wird wahr: »In unserer Zeit ist Befehlen ein Laster geworden und Gehorchen ein Martyrium.«

Seht euch um! Es ist ja nicht nur das Heer, man möchte fast sagen, das am allerwenigsten. Daß einem jungen Unteroffizier der Kamm schwillt, ist menschlich begreiflich. Aber wie schnell verfliegt das! Wie rasch wird ihm von Vorgesetzten und Kameraden begreiflich gemacht, dass er eben nur Glied in der Kette sei, kein Selbstherrscher aller Preußen. Man lächelt darüber, solange die Tressen noch blinken – dann ist's vorbei.

Aber seht euch um! Seht in Arbeitsheime, in Pensionen, in Handwerksstuben, in Büros, in Geschäftszimmer, in kleine Fabrikbetriebe, in Ämter! Welche Tyrannen im Schlafrock! Welche Königskronen aus Tomback! Welche Grandezza gekränkter Haushähne, wieviel Dionysosse mit zweihundert Mark Monatsgehalt, wieviel Neros in abgescheuerten Hausröcken, wieviel Caligulas in Hemdsärmeln! Und keiner wagt zu mucken.

Steckt der Korporal so tief in uns allen? Denn diese Burschen wären ja unmöglich, wenn nicht auf der anderen Seite die unendlich große Zahl der Geduckten stände, diese moles inerta, die bedauernd die Achseln zuckt und fragt: Ja, aber was sollen wir machen?

Was ihr machen sollt? Ihr sollt vor allem den Unteroffizier aus eurer eigenen Brust herausreißen. Ihr sollt vor allem nicht, wenn ihr ans Ruder kommt, wiederum den Bakel wie ein Zepter schwingen, das Briefeingangsbuch wie einen Reichsapfel, den Federhalter wie einen Marschallstab. Ihr sollt die Süßigkeiten des Herrschens nicht da auskosten, wo es nichts zu herrschen, sondern nur zu ordnen gibt. Ihr sollt nicht sagen: »Meine Leute!« Es sind nicht eure Leute. Ihr seid nicht mehr der Großgrundbesitzer aus der alten Zeit, dem Menschen gehörten. Blast euch nicht vor euren Frauen auf – wenn es auch so leicht und lohnend ist – regiert nicht, ordnet an; leitet, aber herrscht nicht; führt, aber laßt das Ducken.

Dann wird's besser werden. Es wird aber – vor allem – besser werden, wenn die, die heute so unter diesen königlichen Schießbudenfiguren zu leiden haben, sich nur einmal klarmachen wollten: was können sie uns denn? Wie weit reicht ihre Macht?

Sie reicht meist nicht weit. Schlimm, wenn ein kleiner König seine finanzielle Überlegenheit ausnutzt, um dem Untergebenen klarzumachen, dass einer Herrscher sein müsse. Aber da hilft nur die Organisation. In den meisten Fällen ist es Angst, Angst vor Unbequemlichkeiten, vor Weiterungen, vor Skandal, platte Angst, die die Unterdrückten (die diese Zeilen schlürfen werden) abhält, sich aufzulehnen.

Ich predigte Abschaffung jeder Autorität? Aber gar nicht. Ich predige Abschaffung des Grundübels unseres Volkes, Herrscher und Vorgesetzte zu sehen, wo (sachlich!) Leitende sein sollten. Sagt mir der Leiter meines Unternehmens, der es besser weiß als ich, ich solle das und das tun, so tu ich es. Auch gegen meine Überzeugung. Will er mich ducken, naht er mir mit unnahbarer Würde, so lach ich ihn aus. Das könnt ihr nicht? Das könntet ihr nicht, Angestellte, Beamte, Söhne, Töchter, Neffen, Gesellen, Schwestern, Diener? Ihr könnt, wenn ihr nur wollt. Wollt endlich!

Die kleinen Könige – und noch mehr die kleinen Königinnen – müssen herunter von ihren Thronen. Jeder Deutsche sollte wissen und fühlen, dass er – persönlich – frei ist. Verschwende ich viel Pathos an eine kleine Sache? Aber es ist keine kleine Sache, unter der Tausende und Tausende seufzen.

Dies ist kein ›Schlüsselaufsatz‹. Ich befinde mich nicht in der unglücklichen Lage, unter einem solchen kleinen König zu leben. Weil ich aber frei bin, weil ich's sagen darf, sage ich: Lehnt euch auf! Schweigt nicht! Tut euch zusammen! Hütet euch selber vor dem Fehler, kleine Bürgerkönige zu sein! Und werft diese Privattyrannei, die nachgerade unser ganzes Leben zur Hölle macht, heraus: Amtsvorsteher, alte Onkel, würdengeschwellte Vorstandsdamen, Titulardirektoren, Vorstandslöwen – werft sie heraus!

Lächerlichkeit tötet sie nicht. Und dass die Überlegenheit des Geistes auf eurer Seite ist, spricht nicht gegen die kleinen Könige, sondern gegen euch. Anonyme Scheltworte, feinsinnige Rache der Literaten, Ironie – das sind pappene Pfeile. Lernt von euern Tyrannen die Rücksichtslosigkeit, den festen Griff, die harte Faust – greift zu! Und ihr werdet unser deutsches privates Leben – in der Familie und im Amt, in der Fabrik und im Geschäft – gereinigt haben.

Ihr werdet sehen: es geht viel, viel besser ohne sie; ohne die kleinen Könige. In tirannos!

Ignaz Wrobel
Berliner Tageblatt, 02.10.1918.