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Auf dem Nachttisch


Ilja Ehrenburg, ›Traumfabrik‹

Wenn ich nicht Peter Panter wäre, möchte ich Buchumschlag im Malik-Verlag sein. Dieser John Heartfield ist wirklich ein kleines Weltwunder. Was fällt ihm alles ein! Was macht er für bezaubernde Dinge Eine seiner Fotomontagen habe ich mir rahmen lassen, und aufbewahren möchte man sich beinah alle. Der Umschlag der ›Traumfabrik‹ von Ilja Ehrenburg sieht aus wie eine vergoldete Keksbüchse. Da sich die deutschen Bücher noch nicht wie die französischen zu einem einheitlichen Gewande aufgeschwungen haben, muß gesagt werden: bei Maliks werden sie am besten angezogen.

Die ›Traumfabrik‹ ist eine Chronik des Films. Dieser Ehrenburg ist ein merkwürdiger Mann. Er sitzt da, wo heute die besten Leute sitzen: zwischen den Stühlen. Den Russen ist er ein verfänglicher Halb-Burjui; den braven Bürgern gilt er als anrüchiger Bolschewist. Es muß also etwas an ihm sein. Es ist auch etwas an ihm.

Für seine Romane kann ich mich nicht recht erwärmen; um so mehr für die Reiseschilderungen, mit denen er groß und klein in allen Ländern bereits heftig geärgert hat. Lob: seine sentimentale Frechheit, seine unverschämte Melancholie, Tränenkrüglein und Nasenstüber und im ganzen ein Mann, der leidet, wenn andre leiden. Und der es sieht. Und der es sagt. Tadel: leichte Unexaktheit. Es stimmt nicht immer alles. Ich möchte nicht nur niedergedrückt und erhoben, bepredigt und erheitert, ich möchte von solch einem Reisenden auch gut informiert werden. Ich kenne von ihm Schilderungen aus England, die ich für schief halte, bei aller Gradheit. Hier in der Traumfabrik ist die Grundmelodie sicherlich richtig – aber vieles könnte, müßte, dürfte exakter sein. Ist die ekelhafte Szene aus dem Film ›Afrika spricht‹ ein Trick oder ist sie es nicht? Dergleichen muß man ganz genau feststellen, bevor man etwas darüber sagt. Das ist nicht leicht, ich weiß es. Aber ohne das bleibt sein Lamento ein Lamento. Das genügt nicht. Auch wirkt die gehetzte Präsensdarstellung durch dreihundert Seiten etwas monoton. Der Autor gibt an, es in zwei Monaten geschrieben zu haben. Und so klingt es auch. Hopp – hopp …

Doch stehen gute Kapitel darin. Die Schilderung, wie die Ehepaare vor der Erfindung des Kinos gelangweilt zusammensitzen und überhaupt nicht mehr wissen, was sie sich noch erzählen sollen; die Charakterisierung der Film-Moral: »Finden Liebende einen Pastor, ists gut. Stiehlt ein Bösewicht einen Brillanten, ists schlecht«; solche blitzartigen Einwürfe wie: »Durchs Radio kann man gut zureden«; verdichtete Beobachtungen: »In Paris ist die Luft der Lichtspielhäuser dick von Tabaksqualm, in Berlin von geistiger Anspannung«; und da wo Ehrenburg wirklich Informationen gibt, sind sie recht aufschlußreich. So, wenn er erzählt, dass die Ufa während der Rheinland-Besetzung regelmäßig in der von den Franzosen herausgegebenen ›Rheinischen Rundschau‹ inseriert habe, während die andern deutschen Firmen das Blatt boykottierten – heiliger Klitzsch, was sagst du dazu!

Und was Ehrenburg über den amerikanischen Filmgeneral Hays sagt: da lachen die Flundern! Das ist nun ganz und gar herrlich. Welche Bezeichnung er ihm beilegt, mögt ihr selber nachlesen: er vergleicht ihn mit einem Faktotum, dessen sich die frommen Juden am Sonnabend bedienen, wenn sie kein Feuer anzünden dürfen. Dieser Hays, nach Ehrenburg auch noch ein korruptes Subjekt, beherrscht drüben die gesamte Produktion; er statuiert die Moral, er setzt fest, was gegeben werden darf und was nicht … man sollte vielleicht den Film doch nicht nur ästhetisch betrachten. Ein von der Filmindustrie hochbezahlter Selterwassertrinker als Oberzensor – pfui Deibel. Ach, wir sind ja so freie Schriftsteller! Wie ich das hier in Berlin so sagen darf, was ich über den Herrn Hays denke! Dem gebe ichs aber ordentlich. Ja, das dürfen wir. Denn Hays ist gefährlich, unsauber, bigott und sehr weit entfernt.


Rudolf Borchardt, ›Deutsche Literatur im Kampfe um ihr Recht‹

Jetzt wollen wir Rudolf Borchardt vom Nachttisch herunterwerfen – Fräulein Nelly kann das morgen aufsammeln. Da habe ich mir auf der Rückseite seiner Broschüre ›Deutsche Literatur im Kampfe um ihr Recht‹ ein wimmelndes Nest von Notizen gemacht – damit kann ich aber keinem mehr kommen. Der Unsterbliche hat hier wieder einmal etwas geschrieben, das schon nach vierzehn Tagen verschimmelt ist. Die Vorwürfe stimmen gar nicht; einen Teil hat sein Verlag schon zurücknehmen müssen, und das Ganze ist lächerlich aufgepustet. Dieser Borchardt hat in geistigem Sinne etwas von einem Hochstapler – es ist mir unbegreiflich, wie man solchem Epigonen eines Nachahmers aus zweiter Hand auf seinen Kram hereinfallen kann. In diesem Heft will er nachweisen, dass der gesamte deutsche Verlagsbuchhandel – an der Spitze die Deutsche Verlags-Anstalt in Stuttgart – sich gegen den Erwerb der Verlage Albert Langen und Georg Müller durch den Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband verschworen habe. Kein Wort wahr, oder wohl nur ein Achtel. Den beiden Verlagen ist kein Vorwurf zu machen, es ging ihnen nicht gut, und sie haben eine Transaktion gemacht, wie sie jedem erlaubt ist, um so mehr, als sie sie ja gar nicht verbergen. Der Verband, dem es finanziell bisher sehr gut ergangen ist, hat den Expansionsfimmel: »Wir haben eine eigne Licht- und Kraftversorgung und eine eigne Polizei und eine eigne Feuerwehr … « wir kennen diese Melodie. Die also legen sich einen Verlag zu, und sie werden sich wundern, dass das Geschäft zwar nicht ganz schlecht, aber bedeutend schlechter gehn wird, als sie sich das gedacht haben. Denn die nationale Gesinnungsliteratur ist nicht sehr repräsentativ (was die Klügeren unter den deutschen Nationalisten sehr genau wissen), und wer soll den Kram kaufen? Das vermiekerte Bürgertum, für das er geschrieben wird, hat kein Geld. Borchardt ist eine traurige Nummer: gegen die Philister von links eifert er, und die Philister von rechts faßt er mit Samthandschuhen, Vergebung, mit Stulpenhandschuhen an. Wir Ritter tragen Stulpenhandschuhe. Der Junge hat wahrscheinlich eine Rüstung als Nachthemd. So feierlich möchte ich mich auch mal nehmen. Und ich will ihn ja auch gern feierlich nehmen. Aber nicht ernst.

Inzwischen ist das Heft von dem loyalen Verlag Georg Müller aus dem Buchhandel zurückgezogen worden. Bei jedem andern Autor entfiele also die Kritik. Bei dem da muß man keine Rücksicht nehmen – wer das Maul so aufreißt, dem gehören ein paar Kartoffelklöße hineingeworfen.


Ernst Ottwalt, ›Denn sie wissen, was sie tun‹

Ernst Ottwalt ›Denn sie wissen, was sie tun‹ (erschienen im Malik-Verlag zu Berlin). Das ist eine recht beachtliche Sache – weniger als künstlerische Leistung denn als gute Hilfe im Kampf gegen diese Justiz.

Mit den Mitteln des frühnaturalistischen Romans wird die Laufbahn eines deutschen Durchschnittsjuristen geschildert Was mir gefällt, ist: dieser Jurist ist kein schwarzes Schwein, kein wilder Berserker, kein besonders bösartiger Mensch – er ist das Produkt von Erziehung, Kaste und System. Es ist gut gesehn, wie die Rädchen des großen Unrechtgetriebes ineinandergreifen, Akte auf Akte, Paragraph auf Paragraph, die Verantwortung ist in unendlich winzige Teile zerteilt, und zum Schluß ist es keiner gewesen. Jakubowski? Wenn die Klage eines Landgerichtsrats gegen seinen Hauswirt mit derselben Sorgfalt geführt würde wie dieser mecklenburger Prozeß, der um Tod oder Leben eines ehemaligen russischen Kriegsgefangenen ging … den Landgerichtsrat möchte ich schimpfen hören. Aber schließlich ist ja eine Klage um 125,40 Reichsmark eine ernste Angelegenheit.

Das hat Ottwalt gut begriffen. Seine Schilderungen sind noch flächig, sie haben keine Tiefendimensionen, es geht alles, klipp-klapp, wie man es braucht; Typen sind da und Argumente und Diskussionen – so sind jene, ja, ja, so sind sie. Aber das wird nur mitgeteilt, und es genügt nicht. Ohne Bosheit darf allen diesen Autoren immer wieder die große französische Romanschule empfohlen werden: sie werden mir das hoffentlich nicht als Ästhetentum auslegen. Wie etwa ein Gesellschaftsroman Stendhals aufgebaut ist: solcher Technik soll man nacheifern. Dazu muß man freilich sehr viel wissen. Und es ist so eingeteilt: die Bescheid wissen, können nicht schreiben, wollen nicht schreiben, dürfen nicht schreiben. Und die schreiben, wissen bestenfalls etwas Bescheid. Ich bin für das Buch von Ottwalt und seine Verbreitung. Es geht uns alle an.


A. W. Just, ›Mit Ilsebill freiwillig nach Sibirien‹

A. W. Just ›Mit Ilsebill freiwillig nach Sibirien‹ (erschienen bei Ernst Pollak in Berlin). Russisches Reisebuch mit Bildern. Der Verfasser ist Berichterstatter der ›Kölnischen Zeitung‹. Der Aufdruck besagt, das Buch sei aus der russischen Psyche geschrieben. Das ist nicht ganz richtig: das Buch ist aus der kölnischen Psyche heraus geschrieben.

Nach einem außerordentlich großmäuligen Vorwort gehts los. Der Mann kann russisch, kennt Rußland seit langer Zeit und kritisiert gar nicht einmal dumm. Man hat aber den Eindruck: er versteht nicht, was da vor sich geht. Dies ist nicht etwa gesagt, weil er vor Rußland nicht auf dem Bauch liegt und »O Fünfjahresplan!« lallt. Aber es ist nichts, was er da treibt. Es ist der mitteleuropäische Herr, der alles auf der Welt diskutierbar findet, nur nicht seinen eignen Standpunkt. Der ist ihm so selbstverständlich; er kommt keinen Augenblick darauf, dass grade der zur Debatte steht. Von dem vergilbten Groschenhumor schon gar nicht zu reden, der sich in diesen Reisebeschreibungen entfaltet. Der Mann muß bei seinem Verlag sehr beliebt sein. Aber was geht uns das an –?

Es sind auch ein paar Fotos in dem Buch. Mögen Sie noch gern russische Fotografien sehen? Sie haben alle zusammen so wenig Überzeugungskraft. Die Russen fotografieren uns bei Kiepenheuer ihre gefüllten Lebensmittel-Läden vor, und drei Meter links und drei Meter rechts davon sieht es vielleicht ganz anders aus. Aber dieser hier treibt es gar sinnig: »Oben: Behördenwohnungen am Boulevard in Nowosibirsk. (Mächtiger Palast.) Unten: Menschenwohnungen im Tal der Jelzowka (armselige Hütten).« Das stammt aus Rußland, nicht etwa aus Deutschland, wo es so etwas gar nicht gibt. Ich bekomme immerzu Bücher für Rußland oder gegen Rußland zu lesen – jetzt möchte ich bald einmal ein Buch über Rußland zu lesen bekommen.


Anton Kuh, ›Physiognomik‹

›Physiognomik‹, Aussprüche von Anton Kuh (erschienen bei R. Piper in München). Zweiundzwanzig Mal furchtbar gelacht; dreizehn Mal gelacht, vierundvierzig Mal geschmunzelt, manches nur gelesen. Das ist wirklich sehr lustig. Kuh ist, wie männiglich bekannt, ein Sprechsteller – er sagt seins besser als ers schreibt. Manches reicht, teuerster Kranz, den ich zu vergeben habe, an Lichtenberg heran. Zum Beispiel goldrichtig, obwohl in fast keinem deutschen Roman erfüllt, dieses Postulat: »Die Kunst des Romanciers liegt im ökonomischen Wechsel von Beteiligtheit und Unbeteiligtheit.« Manchmal ein Mann und sein Werk in zwei Zeilen: »Nicht das Schicksal, der Denkvorsatz furchte Richard Dehmels Antlitz. Er war Dionysos in Schweiß.« Ein eigentümliches Gewächs. Ich war einmal dabei, als A. Kuh französische Parfum-Namen improvisierte. Ich habe fast alle vergessen, aber es war zum Heulen. Er hat die sehr, sehr seltene Mischung von Witz und Humor. Schade, dass er aus Österreich ist. Er wäre aber nicht, wenn er nicht aus Österreich wäre.


Irmgard Keun, ›Gilgi, eine von uns‹

Sternchen; weil diese Dame gesondert betrachtet werden muß. Eine schreibende Frau mit Humor, sieh mal an! Irmgard Keun ›Gilgi, eine von uns‹ (erschienen bei der Deutschen Verlags-Aktiengesellschaft Universitas in Berlin). Ungleich, aber sehr vielversprechend.

In der ersten Hälfte des Büchleins wimmelt es von ziselierten Einzelheiten. Schilderung der Fahrgäste in der Straßenbahn, morgens: »Keiner tut gern, was er tut. Keiner ist gern, was er ist.« Im Büro: »Warten Sie, sagt Herr Reuter, liest jeden Brief, um dann mit etwas verlogener Energie seinen Namen unter das getippte Hochachtungsvoll zu hauen.« Am besten alle Szenen, in denen ein Mann vor einer Frau, die dieses aber gar nicht gern hat, balzt. Das ist beste Kleinmädchen-Ironie. »Plötzlich überkommt ihn das Bedürfnis, sich unglücklich zu fühlen. Seine Ehe ist ganz und gar nicht gut, sein Leben ist verpfuscht, man ist ein alter Trottel, festgefahren in einem Krämerberuf. Er arbeitet mit Bitterkeit, Selbstironie und leichtem Pathos. Bei: ›man müßte mal raus aus allem‹ wirft er sich in die Brust, dass die Schulternähte krachen, und bestellt anschließend zwei Liköre.« Und dann, wirklich eine Pracht: »Am Sonntag sitzen Gilgi und Herr Reuter zusammen im Domhotel. Gilgi hat das Gefühl, zu Abend gegessen, Herr Reuter das Gefühl, soupiert zu haben.« Und: »Er breitet sein Innenleben vor ihr aus wie eine offene Skatkarte.« Und: »Gilgi nimmt zur gefälligen Kenntnis, höflich und mäßig interessiert. Hör auf, nicht so viel Lyrik, paßt nicht zu deinem Pickel am Kinn. Warum kann man nun nicht sagen: gib nichts aus, wenns nichts einbringt, steck kein Gefühlskapital in ein aussichtsloses Unternehmen. Kann man nicht sagen. Armer Alter.« Sehr gute Beobachtungen von der Straße; reizende kleine Einfälle, was eine so tut, wenn sie mit sich allein, also nicht allein, also doch allein ist; einmal eine kleine Weisheit, wie es im Leben zugeht: »Auf die Arbeitgeber ist man nun mal angewiesen, und ganz ohne Mätzchen ist ihnen nicht beizukommen. Können allein entscheidet nicht, Mätzchen allein entscheiden nicht – beides zusammen entscheidet meistens.« Hurra!

Wenn Frauen über die Liebe schreiben, geht das fast immer schief: sauer oder süßlich. Diese hier findet in der ersten Hälfte des Buches den guten Ton.

»Hübsch ist das, so still nebeneinander zu liegen. Man denkt sich und spricht sich nicht auseinander, man atmet sich zusammen … Vorsichtig tastet sie über seinen Schenkel: da ist die Narbe von dem Krokodil, das ihn gebissen hat. Es hat fast etwas Erhebendes, neben einem Mann zu liegen, der in Kolumbien von einem Krokodil gebissen wurde.«

Wenn Frauen über die Liebe schreiben, geht das fast immer schief. Diese hier findet in der zweiten Hälfte weder den richtigen Ton noch die guten Gefühle. Da langts nicht. Schwangerschaft, Komplikation … es langt nicht. Dazu kommt eine fatale Diktion: was reden die Leute nur alle so, wie wenn sie grade Freud gefrühstückt hätten! Es ist der Frau Keun sicherlich nicht bewußt, was sie da treibt, und eben das ist das schlimme, dass ihr diese ›Komplexe‹ so selbstverständlich erscheinen. So spricht man eben? Nein, so spricht man eben nicht – es ist schauerlich.

Flecken im Sönnchen, halten zu Gnaden. Hier ist ein Talent. Wenn die noch arbeitet, reist, eine große Liebe hinter sich und eine mittlere bei sich hat –: aus dieser Frau kann einmal etwas werden.

Peter Panter
Die Weltbühne, 02.02.1932, Nr. 5, S. 177.