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Die Herren von gestern

»Eine Satire! Schreiben Sie uns eine Satire!« sagte der Redakteur. Und da stand ich nun; denn so schwer es manchmal ist, keine Satire zu schreiben – so schwer ist es auch, eine zu schreiben, und das sollte ich nun tun …

Am Nachmittag hatte ich keine Zeit – der war reserviert, ich mußte für meine Tante Amalie eine Auskunft auf einem Ministerium holen, und das dauert schon einen guten Nachmittag lang. (Wenn Dienststunden sind. Es waren aber keine.) Ich verlegte also die Angelegenheit auf den späten Abend. Aber was? Aber worüber? –

Da saß mir gegenüber, jenseits des Ganges, am weißgedeckten Tisch – da saßen vier Personen beim Abendbrot, eine Dame und drei Herren. Sagte ich schon, dass ich bei Karlemanns esse? Ja, ich esse bei Karlemanns – es ist eine gute Pension, und ich kann sie sehr empfehlen. Da saßen also diese vier Leute, und ich wußte, wer das war. Der lange Dunkle war der Sohn einer Exzellenz – er war früher Landrat gewesen, aber nun war er weggegangen oder weggegangen worden, das wußte ich nicht genau. Und sie war seine Frau, und die beiden andern waren seine Freunde.

Sie benahmen sich durchaus anständig. Ich mußte ihn immerzu ansehen. Ich fraß mich in dieses hochmütige, langweilige, nichtssagende Gesicht hinein – ich sah ihn bei seinen kleinen Amtshandlungen, wie der schnauzbärtige Gendarm vor ihm stramm stand, wie alle ihn zuerst zur Türe herausgehen ließen, wie er vorn und hinten hofiert wurde. Und ich sah auch, wie er vor seinen Vorgesetzten katzbuckelte, einstmals dieselben nichtssagenden Jünglinge wie er – aber nun hatten sie dicke Bäuche und große Gehälter und waren mächtige Herren … Herren von vorgestern …

Er hatte einen Brief hervorgezogen, einen Brief aus München, wie er sagte, und den las er vor. Im Tonfall, in der Gebärde – unnachahmlich – ein Schauspieler hätte es nicht besser machen können. »Was wir hier durchgemacht haben«, las er, »kann ich euch nicht alles erzählen. Das Pöbelpack ist ja heutzutage obenauf – früher hätte man diese Burschen zusammenkartätscht. Hoffentlich kommt's auch mal wieder anders! Die Stimmung der Befreiungskriege wird sich ja bei euch in Berlin bemerkbarer machen als hier!«

Und seine Frau und die beiden Freunde hörten ihm mit glänzenden Augen zu. Die Befreiungskriege! Das wäre etwas! Und er las.

Und wie er so las – von den »herrlichen Tagen Kaiser Wilhelms« und von den »törichten Bestrebungen der Straße« – da überkam es mich blitzartig, wie fremd, wie entsetzlich fremd mir doch diese Leute seien. Das waren nun Deutsche, Landsleute – ja, waren denn das überhaupt noch meine Landsleute? Hatte ich mit denen irgend etwas gemein, außer der Sprache?

Nichts. Das war eine andere Welt. Wir würden uns nie verstehen und verstanden uns sicherlich nicht. Was sie herrlich nannten, erschien mir verbrecherisch, und was sie den Pöbel der Gasse nannten, das sah ich vor mir: verhärmte und von dem langen Kriege ausgelaugte und ausgesaugte Frauen und Kinder, alte Männer, Krüppel, Kriegskrüppel … Was wollten diese da? Auf wen warteten sie? Die Felle waren ihnen weggeschwommen, und sie glaubten, sie kämen wieder. Herren von gestern. Auch Herren von morgen?

Herren von morgen, wenn törichte Fanatiker und Radaupolitiker ihnen den Gefallen tun, sie unentbehrlich zu machen. Herren von morgen, wenn man ihnen Gelegenheit gibt, die dreimal verfluchte Gewalt herauszukehren. Herren von morgen, wenn nicht alle freiheitlich Gesinnten einsehen, dass es nur ein Mittel gibt, diese da im Zaume zu halten und gänzlich unterzukriegen: Ordnung, Ruhe und gesunde Entwicklung!

Dann sind sie gewesen, die Herren von gestern, und endlich wird verschwinden, was Deutschland in der Welt so verhaßt gemacht hat: eine dickschädlige Schicht von Unterdrückern der eigenen Landsleute, ein Verein von Sklavenaufsehern und Gefängniswärtern, ein Ring von Privilegierten und leeren Uniformen. Das waren deine Herren, Deutschland! Gelüstet dich wieder nach ihnen?

So dachte ich, als der junge Landrat a. D. las, und dann ging ich nach Hause und schrieb dieses hier auf.

Aber nun ist es doch keine Satire geworden.

Ignaz Wrobel
Berliner Volkszeitung, 15.07.1919.