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Sieben Gespenster

Professor Budweis von der Metaphysischen Universität New Callen hat nach langjährigen Forschungen ein zwei Pfund schweres Buch über die Klassifikation der landläufigen und seltener auftauchenden Gespenster geschrieben, aus dem wir hier einige Auszüge wiedergeben.

Das gemeine Hausgespenst

Nachts, wenn die ersten Möbel knacken (auch bezahlte Möbel knacken, aus Angst, sie fürchten sich so) – nachts, wenn die ersten Strahlen des sanften Mondes milchig durchs Fenster glimmen – nachts gegen halb ein Uhr erhebt sich das gemeine Hausgespenst. Hausgespenster erscheinen niemals um die Mitternachtsstunde – sie verschlafen die Zeit. Die meisten lassen sich durch die Ehemänner wecken, die gegen halb eins nach Hause kommen. Der Schlüssel knirscht, die Tür klappt, die Gattin fährt erschreckt aus dem Schlaf auf und fragt ein bißchen laut: »Wieviel Uhr ist es?« – Dann erwachen die Gespenster.

Das Hausgespenst geht zunächst an den Likörschrank und nimmt dort einen kleinen Schluck. Morgens wird die Hausfrau fragen: »Marie! Waren Sie bei dem Curaçao?« – »Nein«, sagt Marie. Man wird ihr nicht glauben. Das Gespenst schüttelt dann betrübt den Kopf – es mag diese süßen Liköre nicht, andere sind nicht da – und begibt sich hierauf Hit großen Schritten an den Wäscheschrank. Es entnimmt demselben eine Menge kleiner Taschentücher, immer hat es den Schnupfen, nachts spuken ist eine mühselige und gesundheitsschädliche Sache – es schnauft und schneuzt sich. Nachher fehlen Taschentücher. Haben Ihnen noch nie Taschentücher gefehlt?

Hierauf begibt sich das Gespenst, immer noch in die hohle Hand hustend, auf das grüne Sofa, setzt sich und nimmt übel. Dann spukt es.

Hausgespenster sind entsetzlich faul. Die Konkurrenz von Dienstmädchen, bösen Verwandten und herumschlurrenden brummigen Männern haben ihnen jede Lust genommen, sich sehr stark zu betätigen. Im großen und ganzen begnügen sich Hausgespenster damit, die üblichen kleinen Arbeiten zu verrichten, als da sind: der Hausfrau den Schlüsselbund zu verstecken, ein bißchen Rizinusöl in den Tee zu tun, der morgen früh getrunken werden soll, einige Ziffern im Haushaltungsbuch auszuradieren, acht Mark aus der Kasse zu nehmen (der Etat eines Gespenstes ist hoch: Laken, in denen zu spuken ist, sind entsetzlich teuer, Ersatzknochen auch) – den linken Pantoffel des Hausherrn zu verstecken. Der Pantoffel ist ein Ding, das nur in der Einzahl vorkommt, wie jeder weiß. Das Hausgespenst ist harmlos, leicht verdummt durch den nächtlichen Umgang mit immer denselben Menschen, gewöhnlich schwer verliebt in die Köchin (daher haben so viele Köchinnen Albdrücken) und im großen und ganzen ein netter Mitbewohner.

Jede Wohnung hat ihr Hausgespenst. Gespenster ziehen nicht mit um, wenigstens ist das sehr, sehr selten. Manche Gespenster fahren nachts Fahrstuhl – dann funktioniert der am nächsten Morgen nicht, wofür die Mieter fälschlich den Wirt verantwortlich machen.

Das Hausgespenst schläft am Tag oben auf den Gardinenstangen und träumt. Herrscht großer Familienkrach im Hause, so kommt es vor, dass es die Gardinenstange herunterwirft.

Das Geschäftsgespenst

Bürogespenster gespenstern nur am Tage. Nachts schlafen sie. (In Tintenfässern und Schreibmaschinen – daher Kleckse und verwickelte Farbbänder.) Das Geschäftsgespenst steht morgens mit dem Glockenschlag acht Uhr auf, wirft zunächst der Reinemachefrau den Eimer um, dass man die zehn Häuser weit fluchen hört, und begibt sich nunmehr an die Arbeit. Ein emsiges und einigermaßen gesundes Geschäftsgespenst richtet in den vier Morgenstunden bis zur Mittagspause folgendes an:

Privatpost für den Chef wird sorgfältig auf die Tischkante gelegt, eine Bewegung, und der ganze Salat fliegt auf den Boden. Der Tag fängt schön an! Grinsend schleift das Gespenst zur Tür hinaus. Sticht mit einer kleinen Büroklammer, die der Buchhalter wie wild sucht, den Prokuristen in die Kehrseite – der fährt auf, wie von der Tarantel gestochen, und sucht nach Roßhaaren im Stuhl. Findet keine. Setzt sich wieder hin und verrechnet sich. Gespenst ab. Legt den ›Uhu‹ oben auf einen Aktenstoß in der Rechnungsabteilung, einer der Direktoren tobt durch die Zimmer, sein rollendes Auge bleibt auf dem bunten Umschlag haften, donnernd: »Was ist das?« Niemand wagt zu antworten: »Sie Ochse, ein Korsett,« Krach, Radau, dicke Köpfe, lange Gesichter. Gespenst strahlend davon. Begibt sich nunmehr zum Frühstück in die Kantine, frißt dort das gute Essen weg – hat schon mal einer in einer Kantine gut zu essen bekommen? Also – und tritt seinen Nachmittagsdienst an. Am Telefon.

Geschäftsgespenster sind alle sehr gute Sportsleute und leben lange. Das macht das gesunde Training am Telefon. »Fräulein! Moritzplatz 6605!« Gespenst nimmt die beiden 6, stellt sie auf den Kopf, jetzt sind es zwei 9 – es meldet sich mitnichten: »Allgemeine Commerzzentrale A.-G.«, sondern leider: »Emmy Budicke. Sie wünschen?« – Gott verdamm mich! Gespenst zieht sich ganz lang auf den Drähten, hält sie alle mit einer eisernen Knochenfaust zusammen, das Amt muckt sich nicht. Der Mann im Büro läuft rot an, haucht die Zentrale an, die Zentrale wackelt mit dem Klinker auf und ab, knack, knack, knack – das Gespenst hat wunderbar ausgebildete Finger und eine herrliche Kraft in den Gelenken. Nichts. Das Gespenst haucht in den Draht: »Scheren Sie sich aus der Leitung!« – Hei! Büro in Flammen! »Gehen Sie doch aus der Leitung! Lümmel! Was fällt Ihnen ein?« – Gespenst setzt sich auf das Telefon. Telefon kaputt.

Es gibt große Unternehmen, die bis zu acht Gespenstern haben, spezialisierte Kräfte. Sie unterliegen keinem Tarif.

Das Börsengespenst

Das Börsengespenst ist das einzige dicke Gespenst, das es gibt. Es hat einen Bauch (die sogenannte aura). Das Restaurant in allen Börsen der Welt ist sehr gut, es hat nie Abfälle (aber das Gespenst eine aura). Das Börsengespenst kommt um zwölf Uhr von der großen Börsenuhr herunter; wo es auf den Zeigern zusammengekrümmt geruht hat, angenehm wird es im Schlaf rundum gedreht – kommt herunter und hatscht durchs dichteste Gedränge. »An mich!« Wer hat das gerufen? Eine ganze Gruppe ist in Aufregung! Irrtümer, Differenzen, Börsenschiedsgericht. Es schleicht zur Kurstafel, wischt die Zahlen auf, eine Hausse hebt, dass den Baissiers ganz angst und bange wird – warum? weshalb? wieso? Es steht geschrieben, die Ziffern stürzen, das Gespenst führt Hände, drückt Kreidestücke, zerbrochen sitzt Emmy Budicke heute abend am Frisiertisch – Chinchillapelz –: Nase. Das Gespenst nimmt sich einen dicken Börsianer vor, flüstert ihm unhörbar etwas ins Ohr, der Mann wird nachdenklich, seine Stirn zieht er in Falten, er wiegt den Kopf – flüstert dem rechten Nebenmann etwas zu, der wird sehr ernst, die Börse tuschelt – durch alle Räume läuft es: Das Gerücht. ›Nervöse Grundstimmung‹ steht abends in der Zeitung. Das Börsengespenst macht künstliche Hausse in Anleihen, blödsinnige Baissen in Gummiwerten, lotst die ältesten Bankchefs persönlich auf den Markt, sofort werden sie herantelefoniert, was ist denn, was ist denn los –? Das Gespenst war los.

Alle Börsengespenster haben Konten auf vielen Banken, geheimnisvolle Konten, die in den Bilanzen spuken – niemand weiß etwas Genaues. Kein Börsengespenst zahlt – im Gegensatz zu allen andern Menschen – die vollen Steuern. Man sollte es kaum für möglich halten –!

Das Theatergespenst

Das Theatergespenst wohnt im Fundus. Keine Ritterrüstung, keine Salondamenrobe, kein Pappstück wird herausgegeben, ohne dass es nicht mit seinen hagern Knochenhänden darüber hinführe. Will es heraus, so setzt es sich rittlings auf die Versatzstücke und läßt sich auf die Probe tragen. Dort blättert es leise wie der Wind im Manuskript des Regisseurs, entwendet vorsichtig die Seite, die gerade gebraucht wird, schraubt den Souffleurkastendeckel etwas tiefer, damit sich die Souffleuse abends den Kopf stößt, und guckt zu, was da oben geschieht.

»Laß mich in deiner Seele Kammern

nachts ruhen – ich will mich an dich klammern!« Halt –! Der Regisseur unterbricht. »Fräulein Morton, ein wenig weiter nach vorn!« Das Gespenst ist ganz leise hinter die Schauspielerin getreten.

»Laß mich in deiner Seele Kammern

nachts ruhen – –!« »Man versteht kein Wort!« heult der Regisseur. Das Gespenst tastet vorsichtig die Garderobe der Künstlerin ab.

»Laß mich in deiner Seele Kammern

nachts – –!« »Aufpassen! Aufpassen!« – Ratsch – beide Untertaillenbänder sind gerissen. Katastrophe. Garderobiere! Garderobiere! Der Regisseur bekommt seinen kleinen Morgen-Schlaganfall. Das Gespenst setzt sich in die Kasse, bringt die Rapporte ein bißchen durcheinander, verlegt die Trompete, die abends zum Signalblasen hinter der Szene gebraucht wird, und wartet die Abendvorstellung ab.

Abends halb sieben. Das Gespenst setzt sich auf die elektrischen Glühbirnen am Eingang, kreuzt Bein über Bein und wärmt sich. Es wird ihm warm, wärmer, heiß. Fieber schütteln seinen Körper. Jetzt ist es so weit. Das Gespenst begibt sich in die Garderoben und steckt die Darsteller an: Lampenfieber. Die Bühne zittert vor Nervosität. Die junge Schauspielerin wankt auf die Szene – »Die Morton!« summt es im Publikum –, sie spricht.

»Laß mich in deiner Seele Klammern –

kammern – –« Das Gespenst hält ihr den Mund zu. Pause. Tausend Herzen hören auf zu schlagen. Was nun –? Das Gespenst, rasch wie ein Blitz, hinunter ins Parkett, da kommt einer zu spät, es schlägt den Klappsessel hoch, der Mann plumpst zu Boden, Fräulein Morton kann wieder sprechen …

Theatergespenster sind tierliebend: sie halten sich alle Vögel, daher gibt es nirgends so viel Vögel wie grade im Theater. Manche halten sich im Käfig einen Pleitegeier.

Das Liebesgespenst

Das Liebesgespenst übt sein Gewerbe im Umherziehen aus. Es hat stets alte Fotografien bei sich und kann ein schönes Lied singen: »Ja – hättest du damals!« Dann werden Liebende leicht nachdenklich. Das Liebesgespenst hat kein Geschlecht, bewegt sich in Frauenröcken wie in Herrenfräcken und wirft auf weiße Vorhänge mit einer kleinen Laterna magica bunte Bilder: Sieh, wie hübsch Arthur ist! Was hältst du von Helene –? Das Liebesgespenst hat ein Salzbüchschen, damit streut es den Liebenden Salz ins Herz. Es verändert Frisuren, läßt Bartstoppeln wachsen, verdirbt manchmal mit einer künstlich erzeugten Sommersprosse ganze Ehen und ist an sämtlichen Überraschungen (»Himmel, mein Mann!«) schuld. Das Liebesgespenst gespenstert durch Bälle, auf Tanzdielen, durch Schlafzimmer und Salons – es macht Männer zur Unzeit korpulent und Frauen unvorteilhaft dünn. Es hat noch nie Liebende zueinander und zusammengebracht – es ist ein Gegner der Liebe. Manchmal bringt es aber doch ein Paar zusammen – das ist dann aber auch danach. Liebesgespenster sind Optiker – sie setzen den in Mitleidenschaft gezogenen Parteien Brillen auf, schwarze, rosenrote, gebatikte …

Das Liebesgespenst kommt in allen Weltteilen wild vor.

Das Liebesgespenst gaukelt dem Verliebten das Mädchen vor, betörend. Hat er sie, dreht es eine Lampe auf – entzaubert, enttäuscht, melancholisch sieht der Düpierte, was er sich da eingekauft hat. Dann geht ein trocknes Rascheln durchs Zimmer. Das Gespenst hat gelacht. »Was war das?« haucht die verliebte Braut. »Nichts – meine Hosenträger!« sagt der Bräutigam.

Allerhand Gespenster

Es gibt noch allerhand Gespenster – Renngespenster, Kinogespenster (prominente teurer), Literatur- und Kunstgespenster, die durch die Zeit gespenstern und gar nicht wissen, dass sie schon längst tot sind, Postgespenster, Bürokratengespenster, Schulgespenster und Soldatengespenster (siehe Budweis, II, 176–586).

Spiritistische Gespenster

Fehlanzeige.

Mittel gegen Gespenster

Es gibt ein Mittel gegen Gespenster. Man braucht einem jungen Gespenst nur zu sagen: »Du! Wenn du nicht artig bist, dann hole ich den Menschen! Der wird heute nacht spuken! Du sollst mal sehen: so einen richtigen dicken, fetten Aktiengesellschaftsdirektor und seine Frau!« – – dann nimmt das Gespenst seinen Kopf unter den Arm und läuft, wehenden Lakentuches, klapper, klapper, klapper – davon.

Peter Panter
Uhu, 01.04.1925, Nr. 7, S. 67.