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Stimmungsbild aus dem Reichstag

Wenn heute im Reichstag ein einigermaßen gescheiter Mensch eine Rede hält, verlassen die Deutsch-Nationalen prompt das Lokal. Die Edelsten der Nation erheben sich von ihren Sitzen und gehen. Es hagelt Rufe: »Feiglinge! Jetzt gehen sie!« – Die deutsch-nationalen Stirnen ziehen sich hoch, die Mundfalten herunter, sie sind verletzt über so viel schlechte Manieren … Besonders die Frauen wissen sich gar nicht zu lassen vor lauter Vornehmheit. Drüben ruft einer: »Helfferich geht auch!« – Karlchen, diese Mischung von Assessor und Kellner, dreht sich noch einmal um und winkt frohgemut herüber. Er ist schon wieder obenauf. Und die Sitze der Rechten, wo so viel Gesäße und so wenig Köpfe versammelt sind, bleiben leer.

Was machen diese Leute während des größten Teils der Sitzungen? Ihre Wähler denken, sie hörten zu und nähmen teil – denn dazu sind sie ja gewählt worden. Nein, das tun sie nicht. Was machen sie also –?

Im Wandelgang auf der rechten Seite des Hauses steht eine seltsame Gruppe. In tiefen Sesseln sitzen uralte Frauen, drum herum stehen uralte Männer. Es sieht aus wie die Abordnung eines königlich preußischen Armenhauses oder noch besser: wie die Vorsitzenden eines Vereins früherer Schloßkastellane. Es sind kleine Leute, das sieht man. Sie haben alle etwas Geducktes im Blick, sie stehen gleichsam mit den Augen stramm.

In ihrer Mitte sitzt ein Abgeordneter der Rechten, ein würdiger Mann mit einem großen Fußsack im Gesicht: Er liest den armen Leuten aus einem Schriftstück etwas vor. Die Gesichter bleiben bekümmert – wahrscheinlich vertröstet er sie, verspricht ihnen irgend etwas, das er in der nächsten halben Stunde vergessen hat, weil er laufen muß, wenn Stinnes pfeift. Und dann werden die armen Leute nach Hause gehn.

Und der Zuschauer fragt sich verwundert: Warum gehen diese Armen zu diesen Leuten –? Wie kann ein vernünftiger Mensch mit fünf gesunden Sinnen zu dieser Partei hingehen, diese Partei wählen, die von Großverdienern und Kapitalisten strotzt, die während der ganzen Reichstagssession nur nachsinnt, wie sie deren Rechte halten und erweitern kann? Zwischen zwei Frühstücken wird einmal »warmes Herz fürs Volk« gespielt – für das Stimmvieh, den Untertan, das Kanonenfutter.

Die armen Leute wackeln jetzt aus dem Reichstag und debattieren leise und eifrig. Sie sprechen darüber, was ihnen der dicke Satte vorgelesen hat.

Arme Leute! Ihr seid die Dummen. Man hat euch betrogen. Geht in euer Landstädtchen zurück oder in euer Altersheim. Und wartet die paar Jahre, die ihr noch zu leben habt, darauf, dass euch der Deutschnationale seine Versprechungen erfüllt. Er wirds nie tun. Er hat keine Zeit. Er muß dem Unternehmer Hugenberg helfen, er muß Verbände finanzieren, die den »deutschen Geist« bewahren. (Im Wappen: eine Handgranate.)

Die armen Leute! Sie haben auf der falschen Seite des Hauses gestanden.

Ignaz Wrobel
Freiheit, 18.07.1922, Nr. 274, S. 6.