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Imponderabilien

Imponderabilien weist Büchmann S. 653 als ein von Bismarck beflügeltes Schlagwort vom 1. Febr. 1868 bis zum 27. März 1879 nach. Aber auch in seiner berühmten Rede vom 6. Febr. 1888 (Polit. Reden 12, 471) fehlt es nicht: „Kurz, wenn wir schließlich zum Angriff kommen, so wird das ganze Gewicht der Imponderabilien, die viel schwerer wiegen als die materiellen Gewichte, auf der Seite unserer Gegner sein, die wir angegriffen haben.“

Der Ausdruck selbst, der dem physikalischen Gebiet entstammt und mit einer angedeuteten Litotes gewisse Strömungen und Stimmungen als unwägbar, aber doch eben sehr gewichtig bezeichnet, ist nach Arnolds Untersuchung in der ZfdW. 3, 347 ff. weit älteren Ursprungs. Seiner Vermutung nach entstand er im Gelehrtenlatein des 18. Jahrhunderts, wurde Ende dieses Zeitraums ins Englische und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auch ins Französische übernommen, wo er 1835 offiziell gebucht wird, und taucht vorläufig zuerst bei Jean Paul im Deutschen auf. Die Stelle findet sich im zweiten Bändchen seines „Kometen“ (1821) und zwar sogleich in übertragenem Sinn: „Ihr Staats- und Geschäftsmänner, sehet doch die Philosophie und Poesie, welche kein kameralistisches Gewicht aufzeigen, darum nicht für unwichtig, sondern gerade für die geistigen Imponderabilien an, welche den körperlichen gleichen.“

Dann verleiht aber besonders Görres 6, 172 f. (1840) dem Ausdruck erst wirkliche Schlagkraft, indem er ihn in einer politischen Erörterung wiederholt mit Nachdruck gebraucht: „Darum gefällt mir Wolfgang Menzels Gedanken mit den Imponderabilien viel besser als das schwerfällige System des Pentarchen. Die dynastischen Interessen, die sich bei diesem so breit machen, werden dort zusammengeschlagen, und bilden nur eine der Federleichtigkeiten; ihnen zur Seite aber treten als ebenbürtig die Macht der Nationalitäten, die Macht des Glaubens und der Kirchen, die Macht politischer Prinzipe und die Macht der materiellen Interessen.“ Dazu die kritisch-polemischen Glossen S. 173, worin u. a. daraus hingewiesen wird, dass freilich die materiellen Interessen sonst immer zu den Ponderabilien gerechnet worden seien, und zwar von der recht schweren, niederziehenden Art.

Menzels Schrift, auf welche hier Görres anspielt, führt den Titel: „Europa im Jahre 1840“ (Stuttgart 1839). Darin wird aber der Ausdruck Imponderabilien selbst nirgends verwendet. Im ästhetischen Sinne wird er von Auerbach 20, 27 (1846) gebraucht.

Dagegen erscheint er bei Brunner, Prinzensch. 1, 127 (1848) wieder im alten naturgeschichtlichen Zusammenhang, wenn auch stark ironisiert: „Sie haben doch schon von den unwägbaren Stoffen, von den Imponderabilien gehört?“ Von neuem aber im Sinne von Görres erscheinen die Imponderabilien als bewegende Kräfte des deutschen Staatslebens in Wigands Jahrb. für Wiss. u. Kunst 1, 155 (1854), wo ausführlich erörtert wird: „Diese politischen Imponderabilien sind sehr zahlreich und sehr mannigfaltig. Es gehören dahin alle die tausenderlei Neigungen, Leidenschaften, Gewohnheiten, Stimmungen, Ideen, Interessen, welche in den einzelnen Menschen durch angeborene Anlage, körperliche und geistige Entwicklung, gesellschaftliche Stellung, Berufstätigkeit, Lebensschicksale usw. erregt, ausgebildet, befestigt, untereinander verschmolzen oder auch Eins durch das Andere geschwächt, modifiziert, zurückgedrängt werden.“

Bismarck gab somit nur einem gebräuchlichen politischen Schlagwort durch seine Autorität neue Flügel, so dass es nunmehr auch in die Schichten des allgemeinen Publikums getragen wurde.

Dass aber auch nach Bismarcks Rücktritt der Ausdruck noch keineswegs ausrangiert worden ist, beweist z. B. ein lehrreicher Artikel im Naumann-Buch S. 169 ff. (1901), der speziell über Die Imponderabilien in der Politik handelt. Daraus sei nur der eine Satz herausgehoben: „Aus der Erkenntnis von der möglichen Bedeutung unpolitischer Gesinnungsmotive auf die Politik stammt die oft gehörte Warnung, die Imponderabilien nicht zu unterschätzen.“