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III. Das Urteil

Lebendiges Urteilen

Die neuere Logik sieht mit Recht nicht im Begriff, sondern im Urteil das Urphänomen des Denkens. Denn wir urteilen scharf, lange bevor wir klare Begriffe haben. Und nebenher wird diese Änderung auf unsere Tierpsychologie einwirken müssen. Denn wenn es auch den höheren Tieren an gut definierbaren Begriffen fehlen sollte, so wird man doch selbst den niedersten Tieren die Fähigkeit des Urteilens kaum absprechen können.

Nun hat Sigwart (Logik I. 23) sehr fein zu unterscheiden geglaubt zwischen dem sich bildenden Urteil, das das eigentliche Denken ist, und dem fortbestehenden Urteil, das Sprache ist. Hätte er recht, so wäre hier einzig und allein der Punkt zu finden, wo Denken und Sprache sich trennen. In Wirklichkeit aber scheint mir das, was Sigwart das lebendige Urteil nennt, dem sprachlichen Urteile, dem Denkakt doch nicht eigentlich entgegengesetzt zu sein, sondern ihm nur vorauszugehen. Das lebendige Urteilen ist nichts als ein tastendes Vergleichen, ein Versuchen, ein probeweises Aneinanderhalten von zwei Vorstellungen, von denen die eine zum Subjekt, die andere zum Prädikat werden wird. Aber selbst in unserer abgerichteten und gedrillten Sprache läßt sich dieses Verhältnis bei tausend Gelegenheiten willkürlich umkehren. Lassen wir die Kopula oder die entsprechende Verbalendung fort, reden wir wie Wilde: "Heiß — Wolke — Wasser — gut," so verstehen wir uns und machen uns verständlich und müssen nur unser Interesse und unsere Wünsche durch stärkere Betonung und durch fragenden Ton ausdrücken.

Selbst in diesen komplizierteren Fällen wird der Denkakt in dem Augenblick fertig, da er zu Worte kommt. Aber auch der allereinfachste Denkakt "das da ist ein Apfel" vollzieht sich, wenn er bewußt wird, sprachlich. Dass das Kind und der einfache Mensch solche Urteile sprachlos vollziehen kann, ebenso wie das Hühnchen sein Urteil "das da ist ein genießbares Samenkorn" oder vielleicht nur "das da ist genießbar", das beweist nicht, dass wir ohne Sprache denken, sondern nur, dass das Denken eine spätere Luxusfunktion ist und dass zum Vegetieren das Denken oder Sprechen nicht notwendig ist.

Aber Sigwart und seine Schüler haben es nicht verhindert, dass die alte Schullogik sich für etwas ausgibt, was gelernt werden müsse.

Auf der Stufenleiter der Schullogik steht das Urteil, sowohl seiner Aufgabe als seinem Werte nach, zwischen dem bescheidenen Begriff und der stolzen Schlußfolgerung. Bevor ich weiter zeige, dass diese Stufen eher abwärts als aufwärts führen, ja, dass sie recht eigentlich den Stufen im Rade einer Tretmühle gleichen, den Stufen, die ein Esel ewig aufwärts schreitet, ohne sich vom Flecke zu rühren — bevor ich diese Fernsicht wie von jeder Wendung des Weges so auch hier zeige, möchte ich gern auf das Unpassende der logischen Bezeichnung hinweisen. Mir scheint das Wort "Urteil" verwirrend, um so verwirrender, als die deutsche Volkssprache sich immer noch weigert, bei diesem Begriff deutlich an seinen logischen Sinn zu denken.