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Urteil und Satz

Die Logiker freilich helfen sich wie gewöhnlich dadurch, dass sie zwischen dem Denken und der Sprache unterscheiden, dass sie also zwischen dem Gedanken und seinem sprachlichen Ausdruck trennende Formen, am liebsten grammatische Formen, einschieben. Sie sagen also: der Satz sei der sprachliche Ausdruck für das logische Urteil. Wir aber, für die das Wort nicht der sprachliche Ausdruck für den Begriff ist, sondern nur eben ein Synonym für Begriff, wir sehen in Satz und Urteil dasselbe. Wenn der Chemiker für Kochsalz Chlornatrium sagt, so ist ihm das gelehrte Wort doch nur ein Zeichen für Kochsalz und erinnert ihn bloß an seine genaueren Beobachtungen des Dings, das den Begriff veranlaßt hat. Wenn der Apotheker Aqua destillata sagt oder liest, so meint er Wasser und gibt oft anstatt logisch und ideal reinen Wassers eine filtrierte Flüssigkeit, die nur ihren gröbsten Erdenschmutz im Filter gelassen hat. Und Regenwasser ist ihm gar auch Aqua destillata, wie der geschmackloseste Satz immer noch ein Urteil ist.

Ich habe schon öfter bemerkt, dass selbst Aristoteles im Verhältnis zu späteren Logikern eine ganz lebendige, natürliche Sprache spricht. Darum gibt es bei den Griechen auch noch keinen Unterschied zwischen dem logischen Urteil und seinem sprachlichen Ausdruck, dem Satz (apophasis). Der griechische Ausdruck heißt etwa so viel wie "etwas Ausgesprochenes". Die Römer übersetzten dieses Wort verschiedenartig, aber von Varro und Cicero bis auf Boethius immer im natürlichen griechischen Sinn. Erst das mittelalterliche Latein führte für den logischen Begriff des Satzes das Wort judicium ein, das bis dahin doch nur die richterliche Entscheidung bezeichnet hatte. So ist die Metapher vom Richterurteil auf den Satz in die modernen Sprachen eingedrungen, wenn auch nur langsam. Das alte deutsche Wort "Urteil" scheint erst Leibniz in logischer Bedeutung angewandt zu haben.