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〈Infantile Sexualität, Ödipuskomplex, Libido〉

Ich habe schon erwähnt, daß die Forschung nach den Veranlassungen und Begründungen der Neurose mit immer steigender Häufigkeit auf Konflikte zwischen den sexuellen Regungen der Person und den Widerständen gegen die Sexualität führte. Bei der Suche nach den pathogenen Situationen, in denen die Verdrängungen der Sexualität eingetreten waren und aus denen die Symptome als Ersatzbildungen des Verdrängten stammten, wurde man in immer frühere Lebenszeiten des Kranken zurückgeleitet und langte endlich in dessen ersten Kindheitsjähren an. Es ergab sich, was Dichter und Menschenkenner immer behauptet hatten, daß die Eindrücke dieser frühen Lebensperiode, obwohl sie meist der Amnesie verfallen, unvertilgbare Spuren in der Entwicklung des Individuums zurücklassen, insbesondere daß sie die Disposition für spätere neurotische Erkrankungen festlegen. Da es sich aber in diesen Kindererlebnissen immer um sexuelle Erregungen und um die Reaktion gegen dieselben handelte, stand man vor der Tatsache der infantilen Sexualität, die wiederum eine Neuheit und einen Widerspruch gegen eines der stärksten Vorurteile der Menschen bedeutete. Die Kindheit sollte ja „unschuldig“ sein, frei von geschlechtlichen Gelüsten, und der Kampf mit dem Dämon „Sinnlichkeit“ erst mit dem Sturm und Drang der Pubertät einsetzen. Was man von sexuellen Betätigungen gelegentlich an Kindern hatte wahrnehmen müssen, faßte man als Zeichen von Degeneration, vorzeitiger Verderbtheit oder als kuriose Laune der Natur auf. Wenige der Ermittlungen der Psychoanalyse haben eine so allgemeine Ablehnung gefunden, einen solchen Ausbruch von Entrüstung hervorgerufen wie die Behauptung, daß die Sexualfunktion vom Anfang des Lebens an beginne und schon in der Kindheit sich in wichtigen Erscheinungen äußere. Und doch ist kein anderer analytischer Fund so leicht und so vollständig zu erweisen.

Ehe ich weiter in die Würdigung der infantilen Sexualität eingehe, muß ich eines Irrtums gedenken, dem ich eine Weile verfallen war und der bald für meine ganze Arbeit verhängnisvoll geworden wäre. Unter dem Drängen meines damaligen technischen Verfahrens reproduzierten die meisten meiner Patienten Szenen aus ihrer Kindheit, deren Inhalt die sexuelle Verführung durch einen Erwachsenen war. Bei den weiblichen Personen war die Rolle des Verführers fast immer dem Vater zugeteilt. Ich schenkte diesen Mitteilungen Glauben und nahm also an, daß ich in diesen Erlebnissen sexueller Verführung in der Kindheit die Quellen der späteren Neurose aufgefunden hatte. Einige Fälle, in denen sich solche Beziehungen zum Vater, Oheim oder älteren Bruder bis in die Jahre sicherer Erinnerung fortgesetzt hatten, bestärkten mich in meinem Zutrauen. Wenn jemand über meine Leichtgläubigkeit mißtrauisch den Kopf schütteln wollte, so kann ich ihm nicht ganz unrecht geben, will aber vorbringen, daß es die Zeit war, wo ich meiner Kritik absichtlich Zwang antat, um unparteiisch und aufnahmefähig für die vielen Neuheiten zu bleiben, die mir täglich entgegentraten. Als ich dann doch erkennen mußte, diese Verführungsszenen seien niemals vorgefallen, seien nur Phantasien, die meine Patienten erdichtet, die ich ihnen vielleicht selbst aufgedrängt hatte, war ich eine Zeitlang ratlos. Mein Vertrauen in meine Technik wie in ihre Ergebnisse erlitt einen harten Stoß; ich hatte doch diese Szenen auf einem technischen Wege, den ich für korrekt hielt, gewonnen, und ihr Inhalt stand in unverkennbarer Beziehung zu den Symptomen, von denen meine Untersuchung ausgegangen war. Als ich mich gefaßt hatte, zog ich aus meiner Erfahrung die richtigen Schlüsse, daß die neurotischen Symptome nicht direkt an wirkliche Erlebnisse anknüpften, sondern an Wunschphantasien, und daß für die Neurose die psychische Realität mehr bedeute als die materielle. Ich glaube auch heute nicht, daß ich meinen Patienten jene Verführungsphantasien aufgedrängt, „suggeriert“ habe. Ich war da zum erstenmal mit dem Ödipus-Komplex zusammengetroffen, der späterhin eine so überragende Bedeutung gewinnen sollte, den ich aber in solch phantastischer Verkleidung noch nicht erkannte. Auch blieb der Verführung im Kindesalter ihr Anteil an der Ätiologie, wenngleich in bescheidenerem Ausmaß, gewahrt. Die Verführer waren aber zumeist ältere Kinder gewesen.

Mein Irrtum war also der nämliche gewesen, wie wenn jemand die Sagengeschichte der römischen Königszeit nach der Erzählung des Livius für historische Wahrheit nehmen würde, anstatt für das, was sie ist, eine Reaktionsbildung gegen die Erinnerung armseliger, wahrscheinlich nicht immer rühmlicher Zeiten und Verhältnisse. Nach der Aufhellung des Irrtums war der Weg zum Studium des infantilen Sexuallebens frei. Man kam da in die Lage, die Psychoanalyse auf ein anderes Wissensgebiet anzuwenden, aus ihren Daten ein bisher unbekanntes Stück des biologischen Geschehens zu erraten.

Die Sexualfunktion war von Anfang an vorhanden, lehnte sich zunächst an die anderen lebenswichtigen Funktionen an und machte sich dann von ihnen unabhängig; sie hatte eine lange und komplizierte Entwicklung durchzumachen, bis aus ihr das wurde, was als das normale Sexualleben des Erwachsenen bekannt war. Sie äußerte sich zuerst als Tätigkeit einer ganzen Reihe von Triebkomponenten, welche von exogenen Körperzonen abhängig waren, zum Teil in Gegensatzpaaren auftraten (Sadismus — Masochismus, Schautrieb — Exhibitionslust), unabhängig voneinander auf Lustgewinn ausgingen und ihr Objekt zumeist am eigenen Körper fanden. Sie war also zuerst nicht zentriert und vorwiegend autoerotisch. Später traten Zusammenfassungen in ihr auf; eine erste Organisationsstufe stand unter der Vorherrschaft der oralen Komponenten, dann folgte eine sadistisch-anale Phase, und erst die spät erreichte dritte Phase brachte den Primat der Genitalien, womit die Sexualfunktion in den Dienst der Fortpflanzung trat. Während dieser Entwicklung wurden manche Triebanteile als für diesen Endzweck unbrauchbar beiseite gelassen oder anderen Verwendungen zugeführt, andere von ihren Zielen abgelenkt und in die genitale Organisation übergeleitet. Ich nannte die Energie der Sexualtriebe — und nur diese — Libido. Ich mußte nun annehmen, daß die Libido die beschriebene Entwicklung nicht immer tadellos durchmache. Infolge der Überstärke einzelner Komponenten oder frühzeitiger Befriedigungserlebnisse kommt es zu Fixierungen der Libido an gewissen Stellen des Entwicklungsweges. Zu diesen Stellen strebt dann die Libido im Falle einer späteren Verdrängung zurück (Regression), und von ihnen aus wird auch der Durchbruch zum Symptom erfolgen. Eine spätere Einsicht fügte hinzu, daß die Lokalisation der Fixierungsstelle auch entscheidend ist für die Neurosenwahl, für die Form, in der die spätere Erkrankung auftritt.

Neben der Organisation der Libido geht der Prozeß der Objektfindung einher, dem eine große Rolle im Seelenleben vorbehalten ist. Das erste Liebesobjekt nach dem Stadium des Autoerotismus wird für beide Geschlechter die Mutter, deren nährendes Organ wahrscheinlich anfänglich vom eigenen Körper nicht unterschieden wurde. Später, aber noch in den ersten Kinderjahren, stellt sich die Relation des Ödipuskomplexes her, in welcher der Knabe seine sexuellen Wünsche auf die Person der Mutter konzentriert und feindselige Regungen gegen den Vater als Rivalen entwickelt. In analoger Weise stellt sich das kleine Mädchen ein,1 alle Variationen und Abfolgen des Ödipuskomplexes werden bedeutungsvoll, die angeborene bisexuelle Konstitution macht sich geltend und vermehrt die Anzahl der gleichzeitig vorhandenen Strebungen. Es dauert eine ganze Weile, bis das Kind über die Unterschiede der Geschlechter Klarheit gewinnt; in dieser Zeit der Sexualforschung schafft es sich typische Sexualtheorien, die, abhängig von der Unvollkommenheit der eigenen körperlichen Organisation, Richtiges und Falsches vermengen und die Probleme des Geschlechtslebens (das Rätsel der Sphinx: woher die Kinder kommen) nicht lösen können. Die erste Objektwahl des Kindes ist also eine inzestuöse. Die ganze hier beschriebene Entwicklung wird rasch durchlaufen. Der merkwürdigste Charakter des menschlichen Sexuallebens ist sein zweizeitiger Ansatz mit dazwischenliegender Pause. Im vierten und fünften Lebensjahr erreicht es einen ersten Höhepunkt, dann aber vergeht diese Frühblüte der Sexualität, die bisher lebhaften Strebungen verfallen der Verdrängung, und es tritt die bis zur Pubertät dauernde Latenzzeit ein, während welcher die Reaktionsbildungen der Moral, der Scham, des Ekels aufgerichtet werden.2 Die Zweizeitigkeit der Sexualentwicklung scheint von allen Lebewesen allein dem Menschen zuzukommen, sie ist vielleicht die biologische Bedingung seiner Disposition zur Neurose. Mit der Pubertät werden die Strebungen und Objektbesetzungen der Frühzeit wieder belebt, auch die Gefühlsbindungen des Ödipuskomplexes. Im Sexualleben der Pubertät ringen miteinander die Anregungen der Frühzeit und die Hemmungen der Latenzperiode. Noch auf der Höhe der infantilen Sexualentwicklung hatte sich eine Art von genitaler Organisation hergestellt, in der aber nur das männliche Genitale eine Rolle spielte, das weibliche unentdeckt geblieben war (der sogenannte phallische Primat). Der Gegensatz der Geschlechter hieß damals noch nicht männlich oder weiblich, sondern: im Besitze eines Penis oder kastriert. Der hier anschließende Kastrationskomplex wird überaus bedeutsam für die Bildung von Charakter und Neurose.

In dieser verkürzten Darstellung meiner Befunde über das menschliche Sexualleben habe ich dem Verständnis zuliebe vielfach zusammengetragen, was zu verschiedenen Zeiten entstand und als Ergänzung oder Berichtigung in die aufeinanderfolgenden Auflagen meiner „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ Aufnahme fand. Ich hoffe, es läßt sich aus ihr leicht entnehmen, worin die oft betonte und beanstandete Erweiterung des Begriffes Sexualität besteht. Diese Erweiterung ist eine zweifache. Erstens wird die Sexualität aus ihren allzu engen Beziehungen zu den Genitalien gelöst und als eine umfassendere, nach Lust strebende Körperfunktion hingestellt, welche erst sekundär in den Dienst der Fortpflanzung tritt; zweitens werden zu den sexuellen Regungen alle die bloß zärtlichen und freundschaftlichen gerechnet, für welche unser Sprachgebrauch das vieldeutige Wort „Liebe“ verwendet. Allein ich meine, diese Erweiterungen sind nicht Neuerungen, sondern Wiederherstellungen, sie bedeuten die Aufhebung von unzweckmäßigen Einengungen des Begriffes, zu denen wir uns haben bewegen lassen. Die Loslösung der Sexualität von den Genitalien hat den Vorteil, daß sie uns gestattet, die Sexualbetätigung der Kinder und der Perversen unter dieselben Gesichtspunkte zu bringen wie die der normalen Erwachsenen, während die erstere bisher völlig vernachlässigt, die andere zwar mit moralischer Entrüstung, aber ohne Verständnis aufgenommen wurde. Der psychoanalytischen Auffassung erklären sich auch die absonderlichsten und abstoßendsten Perversionen als Äußerung von sexuellen Partialtrieben, die sich dem Genitalprimat entzogen haben und wie in den Urzeiten der Libidoentwicklung selbständig dem Lusterwerb nachgehen. Die wichtigste dieser Perversionen, die Homosexualität, verdient kaum diesen Namen. Sie führt sich auf die konstitutionelle Bisexualität und auf die Nachwirkung des phallischen Primats zurück; durch Psychoanalyse kann man bei jedermann ein Stück homosexueller Objektwahl nachweisen. Wenn man die Kinder „polymorph pervers“ genannt hat, so war das nur eine Beschreibung in allgemein gebräuchlichen Ausdrücken; eine moralische Wertung sollte damit nicht ausgesprochen werden. Solche Werturteile liegen der Psychoanalyse überhaupt fern.

Die andere der angeblichen Erweiterungen rechtfertigt sich durch den Hinweis auf die psychoanalytische Untersuchung, welche zeigt, daß all diese zärtlichen Gefühlsregungen ursprünglich vollsexuelle Strebungen waren, die dann „zielgehemmt“ oder „sublimiert“ worden sind. Auf dieser Beeinflußbarkeit und Ablenkbarkeit der Sexualtriebe beruht auch ihre Verwendbarkeit für mannigfache kulturelle Leistungen, zu denen sie die bedeutsamsten Beiträge stellen.

Die überraschenden Ermittlungen über die Sexualität des Kindes wurden zunächst durch die Analyse Erwachsener gewonnen, konnten aber später, etwa von 1908 an, durch direkte Beobachtungen an Kindern bis in alle Einzelheiten und in beliebigem Ausmaße bestätigt werden. Es ist wirklich so leicht, sich von den regulären sexuellen Betätigungen der Kinder zu überzeugen, daß man sich verwundert fragen muß, wie es die Menschen zustande gebracht haben, diese Tatsachen zu übersehen und die Wunschlegende von der asexuellen Kindheit so lange aufrechtzuhalten. Dies muß mit der Amnesie der meisten Erwachsenen für ihre eigene Kindheit zusammenhängen.


  1. Die Ermittlungen über die infantile Sexualität waren am Mann gewonnen und die aus ihnen abgeleitete Theorie für das männliche Kind zugerichtet worden. Die Erwartung eines durchgehenden Parallelismus zwischen den beiden Geschlechtern war natürlich genug, aber sie erwies sich als unzutreffend. Weitere Untersuchungen und Erwägungen deckten tiefgehende Unterschiede in der Geschlechtsentwicklung zwischen Mann und Weib auf. Auch für das kleine Mädchen ist die Mutter das erste Sexualobjekt, aber um das Ziel der normalen Entwicklung zu erreichen, soll das Weib nicht nur das Sexualobjekt, sondern auch die leitende Genitalzone wechseln. Daraus ergeben sich Schwierigkeiten und mögliche Hemmungen, die für den Mann entfallen.
  2. Die Latenzzeit ist ein physiologisches Phänomen. Eine völlige Unterbrechung des Sexuallebens kann sie aber nur in jenen kulturellen Organisationen hervorrufen, die eine Unterdrückung der infantilen Sexualität in ihren Plan aufgenommen haben. Dies ist bei den meisten Primitiven nicht der Fall.