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〈Alfred Adler〉

Die Psychoanalyse hat die Erklärung der Neurosen als nächste Aufgabe vorgefunden, hat die beiden Tatsachen des Widerstandes und der Übertragung zu Ausgangspunkten genommen und für sie mit Rücksicht auf die dritte Tatsache der Amnesie in den Theorien von der Verdrängung, den sexuellen Triebkräften der Neurose und dem Unbewußten Rechenschaft gegeben. Sie hat niemals beansprucht, eine vollständige Theorie des menschlichen Seelenlebens überhaupt zu geben, sondern verlangte nur, daß ihre Ermittlungen zur Ergänzung und Korrektur unserer anderswie erworbenen Erkenntnis verwendet werden sollten. Die Theorie von Alfred Adler geht nun weit über dieses Ziel hinaus, sie will Benehmen und Charakter der Menschen mit demselben Griff verständlich machen, wie die neurotischen und psychotischen Erkrankungen derselben; sie ist in Wirklichkeit jedem anderen Gebiete adäquater als dem der Neurose, welches sie aus den Motiven ihrer Entstehungsgeschichte noch immer voranstellt. Ich hatte viele Jahre hindurch Gelegenheit, Dr. Adler zu studieren, und habe ihm das Zeugnis eines bedeutenden, insbesondere spekulativ veranlagten Kopfes nie versagt. Als Probe der „Verfolgungen“, die er von mir erfahren zu haben behauptet, kann ich ja gelten lassen, daß ich ihm nach der Vereinsgründung die Leitung der Wiener Gruppe übertrug. Erst durch dringende Aufforderung von Seiten aller Vereinsmitglieder ließ ich mich bewegen, den Vorsitz in den wissenschaftlichen Verhandlungen wieder anzunehmen. Als ich seine geringe Begabung gerade für die Würdigung des unbewußten Materials erkannt hatte, verlegte ich meine Erwartung dahin, er werde die Verbindungen von der Psychoanalyse zur Psychologie und zu den biologischen Grundlagen der Triebvorgänge aufzudecken wissen, wozu seine wertvollen Studien über die Organminderwertigkeit. auch in gewissem Sinne berechtigten. Er schuf denn auch wirklich etwas Ähnliches, aber sein Werk fiel so aus, als ob es — in seinem eigenen Jargon zu reden — für den Nachweis bestimmt wäre, daß die Psychoanalyse in allem unrecht habe und die Bedeutung der sexuellen Triebkräfte nur infolge ihrer Leichtgläubigkeit gegen die Darstellung der Neurotiker vertreten hätte. Über das persönliche Motiv seiner Arbeit darf man auch vor der Öffentlichkeit sprechen, da er es selbst in Gegenwart eines kleinen Kreises von Mitgliedern der Wiener Gruppe geoffenbart hat. „Glauben Sie denn, daß es ein so großes Vergnügen für mich ist, mein ganzes Leben lang in Ihrem Schatten zu stehen?“ Ich finde nun nichts Verwerfliches darin, wenn ein jüngerer Mann sich frei zu dem Ehrgeiz bekennt, den man als eine der Triebfedern seiner Arbeit ohnedies vermuten würde. Aber selbst unter der Herrschaft eines solchen Motives müßte man es zu vermeiden wissen, daß man nicht werde, was die Engländer mit ihrem feinen sozialen Takt unfair heißen, wofür den Deutschen nur ein weit gröberes Wort zur Verfügung steht. Wie wenig dies Adler gelungen ist, zeigt die Fülle von kleinlichen Bosheiten, die seine Arbeiten entstellen, und die Züge von unbändiger Prioritätssucht, die sich in ihnen verraten. In der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung bekamen wir einmal direkt zu hören, daß er die Priorität für die Gesichtspunkte der „Einheit der Neurosen“ und der „dynamischen Auffassung“ derselben für sich beanspruche. Es war eine große Überraschung für mich, da ich immer geglaubt hatte, diese beiden Prinzipien seien von mir vertreten worden, ehe ich noch Adler kennengelernt hatte.

Dies Streben Adlers nach einem Platz an der Sonne hat indes auch eine Folge gehabt, welche die Psychoanalyse als wohltätig empfinden muß. Als ich nach dem Hervortreten der unvereinbaren wissenschaftlichen Gegensätze Adler zum Ausscheiden aus der Redaktion des Zentralblattes veranlaßte, verließ er auch die Vereinigung und gründete einen neuen Verein, der sich zuerst den geschmackvollen Namen „Verein für freie Psychoanalyse“ beilegte. Allein die Menschen draußen, die der Analyse fernestehen, sind offenbar so wenig geschickt, die Differenzen in den Anschauungen zweier Psychoanalytiker zu würdigen, wie wir Europäer, die Nuancen zu erkennen, welche zwei Chinesengesichter voneinander unterscheiden. Die „freie“ Psychoanalyse blieb im Schatten der „offiziellen“, „orthodoxen“ und wurde nur als Anhang an dieselbe abgehandelt. Da tat Adler den dankenswerten Schritt, die Verbindung mit der Psychoanalyse völlig zu lösen und seine Lehre als „Individualpsychologie“ von ihr abzusondern. Es ist soviel Platz auf Gottes Erde, und es ist gewiß berechtigt, daß sich jeder, der es vermag, ungehemmt auf ihr herumtummle, aber es ist nicht wünschenswert, daß man unter einem Dach zusammenwohnen bleibe, wenn man sich nicht mehr versteht und nicht mehr verträgt. Die „Individualpsychologie“ Adlers ist jetzt eine der vielen psychologischen Richtungen, welche der Psychoanalyse gegnerisch sind und deren weitere Entwicklung außerhalb ihres Interesses fällt.

Die Adlersche Theorie war von allem Anfang ein „System“, was die Psychoanalyse sorgfältig zu sein vermied. Sie ist auch ein ausgezeichnetes Beispiel einer „sekundären Bearbeitung“, wie sie z. B. vom Wachdenken am Traummaterial vorgenommen wird. Das Traummaterial wird in diesem Falle durch das neugewonnene Material der psychoanalytischen Studien ersetzt, dies wird nun durchwegs vom Standpunkte des Ichs erfaßt, unter die dem Ich geläufigen Kategorien gebracht, übersetzt, gewendet und genau so, wie es bei der Traumbildung geschieht, mißverstanden. Die Adlersche Lehre ist denn auch weniger durch das charakterisiert, was sie behauptet, als durch das, was sie verleugnet; sie besteht demnach aus drei recht ungleichwertigen Elementen, den guten Beiträgen zur Ichpsychologie, den — überflüssigen, aber zulässigen — Übersetzungen der analytischen Tatsachen in den neuen Jargon und in den Entstellungen und Verdrehungen der letzteren, soweit sie nicht zu den Ichvoraussetzungen passen. Die Elemente der ersteren Art sind von der Psychoanalyse niemals verkannt worden, wenngleich sie ihnen keine besondere Aufmerksamkeit schuldig war. Sie hatte ein größeres Interesse daran zu zeigen, daß sich allen Ichbestrebungen libidinöse Komponenten beimengen. Die Adlersche Lehre hebt das Gegenstück hiezu hervor, den egoistischen Zusatz zu den libidinösen Triebregungen. Dies wäre nun ein greifbarer Gewinn, wenn Adler diese Feststellung nicht dazu benützen würde, um jedesmal zugunsten der Ichtriebkomponente die libidinöse Regung zu verleugnen. Seine Theorie tut damit dasselbe, was alle Kranken und was unser Bewußtdenken überhaupt tut, nämlich die Rationalisierung, wie Jones es genannt hat, zur Verdeckung des unbewußten Motives gebrauchen. Adler ist hierin so konsequent, daß er die Absicht, dem Weib den Herrn zu zeigen, oben zu sein, sogar als die stärkste Triebfeder des Sexualaktes preist. Ich weiß nicht, ob er diese Ungeheuerlichkeiten auch in seinen Schriften vertreten hat.

Die Psychoanalyse hatte frühzeitig erkannt, daß jedes neurotische Symptom seine Existenzmöglichkeit einem Kompromiß verdankt. Es muß darum auch den Anforderungen des die Verdrängung handhabenden Ichs irgendwie gerecht werden, einen Vorteil bieten, eine nützliche Verwendung zulassen, sonst würde es eben demselben Schicksal unterliegen wie die ursprüngliche, abgewehrte Triebregung selbst. Der Terminus des „Krankheitsgewinnes“ hat diesem Sachverhalt Rechnung getragen; man wäre noch berechtigt, den primären Gewinn für das Ich, der schon bei der Entstehung wirksam sein muß, von einem „sekundären“ Anteil zu unterscheiden, welcher in Anlehnung an andere Absichten des Ichs hinzutritt, wenn sich das Symptom behaupten soll. Auch daß die Entziehung dieses Krankheitsgewinnes oder das Aufhören desselben infolge einer realen Veränderung einen der Mechanismen der Heilung vom Symptom ergibt, ist der Analyse längst bekannt gewesen. Auf diese unschwer festzustellenden und mühelos einzusehenden Beziehungen fällt in der Adlerschen Lehre der Hauptakzent, wobei gänzlich übersehen wird, daß das Ich ungezählte Male bloß aus der Not eine Tugend macht, indem es sich das unerwünschteste, ihm aufgezwungene Symptom wegen des daran gehängten Nutzens gefallen läßt, z. B. wenn es die Angst als Sicherungsmittel akzeptiert. Das Ich spielt dabei die lächerliche Rolle des dummen August im Zirkus, der den Zuschauern durch seine Gesten die Überzeugung beibringen will, daß sich alle Veränderungen in der Manege nur infolge seines Kommandos vollziehen. Aber nur die Jüngsten unter den Zuschauern schenken ihm Glauben.

Für den zweiten Bestandteil der Adlerschen Lehre muß die Psychoanalyse einstehen wie für eigenes Gut. Er ist auch nichts anderes als psychoanalytische Erkenntnis, die der Autor aus den allen zugänglichen Quellen während der zehn Jahre gemeinsamer Arbeit geschöpft und dann durch Veränderung der Nomenklatur zu seinem Eigentum gestempelt hat. Ich halte z. B. selbst „Sicherung“ für ein besseres Wort als das von mir gebrauchte „Schutzmaßregel“, aber ich kann einen neuen Sinn darin nicht finden. Ebenso würden in den Adlerschen Behauptungen eine Menge altbekannter Züge hervortreten, wenn man anstatt „fingiert, fiktiv und Fiktion“ das ursprünglichere „phantasiert“ und „Phantasie“ wieder einsetzen würde. Von Seiten der Psychoanalyse würde diese Identität betont werden, auch wenn der Autor nicht durch lange Jahre an den gemeinsamen Arbeiten teilgenommen hätte.

Der dritte Anteil der Adlerschen Lehre, die Umdeutungen und Entstellungen der unbequemen analytischen Tatsachen, enthält das, was die nunmehrige „Individualpsychologie“ endgültig von der Analyse trennt. Der Systemgedanke Adlers lautet bekanntlich, es sei die Absicht der Selbstbehauptung des Individuums, sein „Wille zur Macht“, der sich in der Form des „männlichen Protests“ in Lebensführung, Charakterbildung und Neurose dominierend kundgibt. Dieser männliche Protest, der Adlersche Motor, ist aber nichts anderes als die von ihrem psychologischen Mechanismus losgelöste Verdrängung, die überdies sexualisiert ist, was mit der gerühmten Vertreibung der Sexualität aus ihrer Rolle im Seelenleben schlecht zusammenstimmt. Der männliche Protest existiert nun sicherlich, aber bei seiner Konstituierung zum Motor des seelischen Geschehens hat die Beobachtung nur die Rolle des Sprungbrettes gespielt, welches man verläßt, um sich zu erheben. Nehmen wir eine der Grundsituationen des infantilen Begehrens vor, die Beobachtung des Geschlechtsaktes zwischen Erwachsenen durch das Kind. Dann weist die Analyse bei jenen Personen, deren Lebensgeschichte später den Arzt beschäftigen wird, nach, daß sich in jenem Moment zwei Regungen des unmündigen Zuschauers bemächtigt haben, die eine, wenn es ein Knabe ist, sich an die Stelle des aktiven Mannes zu setzen, und die andere, die Gegenstrebung, sich mit dem leidenden Weibe zu identifizieren. Beide Strebungen erschöpfen miteinander die Lustmöglichkeiten, die sich aus der Situation ergeben. Nur die erstere läßt sich dem männlichen Protest unterordnen, wenn dieser Begriff überhaupt einen Sinn behalten soll. Die zweite, um deren Schicksal sich Adler nicht kümmert oder die er nicht kennt, ist aber die, welche es zu einer größeren Bedeutung für die spätere Neurose bringen wird. Adler hat sich so ganz in die eifersüchtige Beschränktheit des Ichs versetzt, daß er nur jenen Triebregungen Rechnung trägt, welche dem Ich genehm sind und von ihm gefördert werden; gerade der Fall der Neurose, daß sich diese Regungen dem Ich widersetzen, liegt außerhalb seines Horizonts.

Bei dem durch die Psychoanalyse unabweisbar gewordenen Versuch, das Grundprinzip der Lehre an das Seelenleben des Kindes anzuknüpfen, haben sich für Adler die schwersten Abweichungen von der Realität der Beobachtung und die tiefgehendsten Begriffsverwirrungen ergeben. Der biologische, soziale und psychologische Sinn von „männlich“ und „weiblich“ sind dabei zu hoffnungsloser Mischbildung vermengt. Es ist unmöglich und durch die Beobachtung zurückzuweisen, daß das — männliche oder weibliche — Kind seinen Lebensplan auf eine ursprüngliche Geringschätzung des weiblichen Geschlechts begründen und sich zur Leitlinie den Wunsch machen könne: ich will ein rechter Mann werden. Das Kind ahnt die Bedeutung des Geschlechtsunterschiedes anfänglich nicht, geht vielmehr von der Voraussetzung aus, daß beiden Geschlechtern das nämliche (männliche) Genitale zukomme, beginnt seine Sexualforschung nicht mit dem Problem der Geschlechtsdifferenz und steht der sozialen Minderschätzung des Weibes völlig ferne. Es gibt Frauen, in deren Neurose der Wunsch, ein Mann zu sein, keine Rolle gespielt hat. Was vom männlichen Protest zu konstatieren ist, führt sich leicht auf die Störung des uranfänglichen Narzißmus durch die Kastrationsdrohung, respektive auf die ersten Behinderungen der Sexualbetätigung zurück. Aller Streit um die Psychogenese der Neurosen muß schließlich auf dem Gebiete der Kinderneurosen zum Austrage kommen. Die sorgfältige Zergliederung einer Neurose im frühkindlichen Alter macht allen Irrtümern in betreff der Ätiologie der Neurosen und Zweifeln an der Rolle der Sexualtriebe ein Ende. Darum mußte auch Adler in seiner Kritik der Jungschen Arbeit ‚Konflikte der kindlichen Seele‘ zu der Unterstellung greifen, das Material des Falles sei „wohl vom Vater“ einheitlich gerichtet worden.1

Ich werde nicht weiter bei der biologischen Seite der Adlerschen Theorie verweilen und nicht untersuchen, ob die greifbare Organminderwertigkeit oder das subjektive Gefühl derselben — man weiß nicht, welches von beiden — wirklich imstande ist, als Grundlage das Adlersche System zu tragen. Nur der Bemerkung sei Raum gegönnt, daß die Neurose dann ein Nebenerfolg der allgemeinen Verkümmerung würde, während die Beobachtung lehrt, daß eine erdrückend große Mehrheit von Häßlichen, Mißgestalteten, Verkrüppelten, Verelendeten es unterläßt, auf ihre Mängel mit der Entwicklung von Neurose zu reagieren. Auch die interessante Auskunft, die Minderwertigkeit ins Kindheitsgefühl zu verlegen, lasse ich beiseite. Sie zeigt uns, in welcher Verkleidung das in der Analyse so sehr betonte Moment des Infantilismus in der Individualpsychologie wiederkehrt. Dagegen obliegt es mir hervorzuheben, wie alle psychologischen Erwerbungen der Psychoanalyse bei Adler in den Wind geschlagen worden sind. Das Unbewußte tritt noch im „nervösen Charakter“ als eine psychologische Besonderheit auf, aber ohne alle Beziehung zum System. Später hat er folgerichtig erklärt, es sei ihm gleichgültig, ob eine Vorstellung bewußt oder unbewußt sei. Für die Verdrängung fand sich bei Adler von vornherein kein Verständnis. In dem Referat über einen Vortrag im Wiener Verein (Februar 1911) heißt es: „An der Hand eines Falles wird darauf hingewiesen, daß der Patient weder seine Libido verdrängt hatte, vor der er sich ja fortwährend zu sichern suchte ...“2 In einer Wiener Diskussion äußerte er bald darauf: „Wenn Sie fragen, woher kommt die Verdrängung, so bekommen Sie die Antwort: Von der Kultur. Wenn Sie aber dann fragen: Woher kommt die Kultur?, so antwortet man Ihnen: Von der Verdrängung. Sie sehen also, es handelt sich nur um ein Spiel mit Worten.“ Ein kleiner Bruchteil des Scharfsinnes, mit dem Adler die Verteidigungskünste seines „nervösen Charakters“ entlarvt hat, hätte hingereicht, ihm den Ausweg aus diesem rabulistischen Argument zu zeigen. Es ist nichts anderes dahinter, als daß die Kultur auf den Verdrängungsleistungen früherer Generationen ruht und daß jede neue Generation aufgefordert wird, diese Kultur durch Vollziehung derselben Verdrängungen zu erhalten. Ich habe von einem Kinde gehört, welches sich für gefoppt hielt und zu schreien begann, weil es auf die Frage: Woher kommen die Eier? zur Antwort erhalten hatte: Von den Hühnern, auf die weitere Frage: Woher kommen die Hühner? aber die Auskunft bekam: Aus den Eiern. Und doch hatte man da nicht mit Worten gespielt, sondern dem Kinde etwas Wahres gesagt.

Ebenso kläglich und inhaltsleer ist alles, was Adler über den Traum, dieses Schibboleth der Psychoanalyse, geäußert hat. Der Traum war ihm zuerst eine Wendung von der weiblichen auf die männliche Linie, was nichts anderes besagt als die Übersetzung der Lehre von der Wunscherfüllung im Traume in die Sprache des „männlichen Protestes“. Später findet er das Wesen des Traumes darin, daß der Mensch sich durch ihn unbewußt ermögliche, was bewußt versagt sei. Auch die Priorität für die Verwechslung des Traumes mit den latenten Traumgedanken, auf der die Erkenntnis seiner „prospektiven Tendenz“ ruht, ist Adler zuzusprechen. Maeder ist ihm hierin später nachgekommen. Dabei übersieht man bereitwillig, daß jede Deutung eines Traumes, der in seiner manifesten Erscheinung überhaupt nichts Verständliches sagt, auf der Anwendung der nämlichen Traumdeutung beruht, deren Voraussetzungen und Folgerungen man bestreitet. Vom Widerstand weiß Adler anzugeben, daß er der Durchsetzung des Kranken gegen den Arzt dient. Dies ist gewiß richtig; es heißt soviel als: er dient dem Widerstände. Woher er aber kommt und wie es zugeht, daß seine Phänomene der Absicht des Kranken zu Gebote stehen, das wird, als für das Ich uninteressant, nicht weiter erörtert. Die Detailmechanismen der Symptome und Phänomene, die Begründung der Mannigfaltigkeit von Krankheiten und Krankheitsäußerungen finden überhaupt keine Berücksichtigung, da doch alles in gleicher Weise dem männlichen Protest, der Selbstbehauptung, der Erhöhung der Persönlichkeit dienstbar ist. Das System ist fertig, es hat eine außerordentliche Umdeutungsarbeit gekostet, dafür auch nicht eine einzige neue Beobachtung geliefert. Ich glaube gezeigt zu haben, daß es mit Psychoanalyse nichts zu schaffen hat.

Das Lebensbild, welches aus dem Adlerschen System hervorgeht, ist ganz auf den Aggressionstrieb gegründet; es läßt keinen Raum für die Liebe. Man könnte sich ja verwundern, daß eine so trostlose Weltanschauung überhaupt Beachtung gefunden hat; aber man darf nicht daran vergessen, daß die vom Joch ihrer Sexualbedürfnisse bedrückte Menschheit bereit ist, alles anzunehmen, wenn man ihr nur die „Überwindung der Sexualität“ als Köder hinhält.


  1. „Zentralblatt für Psychoanalyse“, Bd. l, S. 122.
  2. „Korrespondenzblatt“ Nr. 5, Zürich, April 1911.