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II.

〈Anfänge der Psychoanalyse〉

Bald nach der Veröffentlichung der Studien über Hysterie brach die Arbeitsgemeinschaft von Breuer und Freud zusammen. Breuer, der eigentlich Internist war, gab die Behandlung von Nervenkranken auf, Freud bemühte sich, das ihm von dem älteren Kollegen überlassene Instrument weiter zu vervollkommnen; die technischen Neuerungen, die er einführte, und die Funde, die er machte, wandelten das kathartische Verfahren in die Psychoanalyse um. Der folgenschwerste Schritt war wohl der, daß er sich entschloß, auf das technische Hilfsmittel der Hypnose zu verzichten. Er tat es aus zwei Motiven, erstens, weil es ihm, trotz eines Unterrichtskurses bei Bernheim in Nancy, nicht gelang, eine genügend große Anzahl der Patienten in Hypnose zu versetzen, und zweitens, weil er mit den therapeutischen Erfolgen der auf Hypnose gegründeten Katharsis unzufrieden war. Diese Erfolge waren zwar sehr auffällig und traten nach kurzer Behandlungsdauer auf, erwiesen sich aber als nicht haltbar und als allzusehr abhängig vom persönlichen Verhältnis des Patienten zum Arzte. Das Aufgeben der Hypnose bedeutete einen Bruch mit der bisherigen Entwicklung des Verfahrens und einen neuen Anfang.

Die Hypnose hatte aber den Dienst geleistet, das vom Kranken Vergessene seiner bewußten Erinnerung zuzuführen. Sie mußte durch eine andere Technik ersetzt werden. Freud verfiel damals darauf, an ihre Stelle die Methode der freien Assoziation zu setzen, d. h. er verpflichtete die Kranken dazu, auf alles bewußte Nachdenken zu verzichten und sich in ruhiger Konzentration der Verfolgung ihrer spontanen (ungewollten) Einfälle hinzugeben („die Oberfläche ihres Bewußtseins abzutasten“). Diese Einfälle sollten sie dem Arzt mitteilen, auch wenn sie Einwendungen dagegen verspürten, wie z. B. der Gedanke sei zu unangenehm, zu unsinnig oder zu unwichtig oder er gehöre nicht hieher. Die Wahl der freien Assoziation als Hilfsmittel zur Erforschung des vergessenen Unbewußten erscheint so befremdend, daß ein Wort zu ihrer Rechtfertigung nicht überflüssig wird. Freud wurde dabei von der Erwartung geleitet, daß sich die sogenannte freie Assoziation in Wirklichkeit als unfrei erweisen werde, indem nach der Unterdrückung aller bewußten Denkabsichten eine Determinierung der Einfälle durch das unbewußte Material zum Vorschein käme. Diese Erwartung ist durch die Erfahrung gerechtfertigt worden. Durch die Verfolgung der freien Assoziation unter Einhaltung der oben gegebenen „analytischen Grundregel“ erhielt man ein reiches Material von Einfällen, welches auf die Spur des vom Kranken Vergessenen führen konnte. Dies Material brachte zwar nicht das Vergessene selbst, aber so deutliche und reichliche Andeutungen desselben, daß der Arzt mit gewissen Ergänzungen und Deutungen das Vergessene daraus erraten (rekonstruieren) konnte. Freie Assoziation und Deutungskunst leisteten also nun das gleiche wie früher die Versetzung in Hypnose.

Anscheinend hatte man sich die Arbeit sehr erschwert und kompliziert; der unschätzbare Gewinn war aber, daß man Einblick in ein Kräftespiel gewann, welches dem Beobachter durch den hypnotischen Zustand verhüllt worden war. Man erkannte, daß sich die Arbeit zur Aufdeckung des pathogenen Vergessenen gegen einen beständigen und sehr intensiven Widerstand zu wehren hatte. Schon die kritischen Einwendungen, mit denen der Patient die in ihm auftauchenden Einfälle von der Mitteilung hatte ausschließen wollen und gegen welche die analytische Grundregel gerichtet war, waren Äußerungen dieses Widerstandes gewesen. Aus der Würdigung der Widerstandsphänomene ergab sich einer der Grundpfeiler der psychoanalytischen Neurosenlehre, die Theorie der Verdrängung. Es lag nahe anzunehmen, daß dieselben Kräfte, die sich gegenwärtig gegen die Bewußtmachung des pathogenen Materials sträubten, dasselbe Bestreben auch seinerzeit mit Erfolg geäußert hatten. Nun war eine Lücke in der Ätiologie der neurotischen Symptome ausgefüllt. Die Eindrücke und seelischen Regungen, für welche jetzt die Symptome als Ersatz standen, waren nicht grundlos oder infolge einer konstitutionellen Unfähigkeit zur Synthese, wie Janet meinte, vergessen worden, sondern sie hatten durch den Einfluß anderer seelischer Kräfte eine Verdrängung erfahren, deren Erfolg und Zeichen eben ihre Abhaltung vom Bewußtsein und ihr Ausschluß aus der Erinnerung war. Erst infolge dieser Verdrängung waren sie pathogen geworden, d. h. sie hatten sich auf ungewöhnlichen Wegen einen Ausdruck als Symptome geschafft.

Als Motiv der Verdrängung und somit als Ursache jeder neurotischen Erkrankung mußte man den Konflikt zwischen zwei Gruppen von seelischen Strebungen ansehen. Und nun lehrte die Erfahrung eine ganz neue und überraschende Tatsache über die Natur der miteinander ringenden Kräfte kennen. Die Verdrängung ging regelmäßig von der bewußten Persönlichkeit (dem Ich) des Erkrankten aus und berief sich auf ethische und ästhetische Motive; von der Verdrängung betroffen wurden Regungen von Selbstsucht und Grausamkeit, die man allgemein als böse zusammenfassen kann, vor allem aber sexuelle Wunschregungen, oft von der grellsten und verbotensten Art. Die Krankheitssymptome waren also ein Ersatz für verbotene Befriedigungen, und die Krankheit schien einer unvollkommenen Bändigung des Unmoralischen im Menschen zu entsprechen.

Der Fortschritt der Erkenntnis machte es immer deutlicher, welch ungeheuer große Rolle die sexuellen Wunschregungen im Seelenleben spielen, und gab die Veranlassung, die Natur und Entwicklung des Sexualtriebes eingehend zu studieren. Man stieß aber auch auf ein anderes, rein empirisches Ergebnis, indem man entdeckte, daß die Erlebnisse und Konflikte der ersten Kinderjahre eine ungeahnt wichtige Rolle in der Entwicklung des Individuums spielen und unverwischbare Dispositionen für die Zeit der Reife zurücklassen. So kam man dazu, etwas aufzudecken, was bisher von der Wissenschaft grundsätzlich übersehen worden war, die infantile Sexualität, die sich vom zartesten Alter an in körperlichen Reaktionen wie in seelischen Einstellungen äußert. Um diese kindliche Sexualität mit der sogenannten normalen der Erwachsenen und dem abnormen Sexualleben der Perversen zusammenzubringen, mußte der Begriff des Sexuellen selbst eine Berichtigung und Erweiterung erfahren, die sich durch die Entwicklungsgeschichte des Sexualtriebs rechtfertigen ließ.

Seit dem Ersatz der Hypnose durch die Technik der freien Assoziation war das kathartische Verfahren Breuers zur Psychoanalyse geworden, die nun durch länger als ein Jahrzehnt von dem Referenten (Freud) allein entwickelt wurde. Die Psychoanalyse kam in dieser Zeit allmählich in den Besitz einer Theorie, welche über die Entstehung, den Sinn und die Absicht der neurotischen Symptome zureichende Auskunft zu geben schien und eine rationelle Grundlage für die ärztlichen Bemühungen zur Aufhebung des Leidens lieferte. Ich will die Momente, welche den Inhalt dieser Theorie ausmachen, nochmals zusammenstellen. Es sind: die Betonung des Trieblebens (Affektivität), der seelischen Dynamik, der durchgehenden Sinnhaftigkeit und Determinierung auch der anscheinend dunkelsten und willkürlichsten seelischen Phänomene, die Lehre vom psychischen Konflikt und von der pathogenen Natur der Verdrängung, die Auffassung der Krankheitssymptome als Ersatzbefriedigungen, die Erkenntnis von der ätiologischen Bedeutung des Sexuallebens, insbesondere der Ansätze zur kindlichen Sexualität. In philosophischer Hinsicht mußte diese Theorie den Standpunkt einnehmen, daß das Seelische nicht mit dem Bewußten zusammenfalle, daß die seelischen Vorgänge an sich unbewußt seien und nur durch die Leistung besonderer Organe (Instanzen, Systeme) bewußtgemacht würden. Ich füge als ergänzend zu dieser Aufzählung hinzu, daß sich unter den affektiven Einstellungen der Kindheit die komplizierte Gefühlsbeziehung zu den Eltern, der sogenannte Ödipuskomplex, hervorhob, in welchem man immer deutlicher den Kern eines jeden Falles von Neurose erkannte, und daß im Benehmen des Analysierten gegen den Arzt gewisse Erscheinungen der Gefühlsübertragung auffielen, welche eine für die Theorie wie für die Technik gleich große Bedeutung gewannen.

Die psychoanalytische Theorie der Neurosen enthielt in dieser Ausgestaltung schon manches, was herrschenden Meinungen und Neigungen zuwiderlief und bei Fernstehenden Befremden, Abneigung und Unglauben hervorrufen konnte. So die Stellungnahme zum Problem des Unbewußten, die Anerkennung einer kindlichen Sexualität und die Betonung des sexuellen Moments im Seelenleben überhaupt, aber es sollte noch anderes hinzukommen.