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Der Wettkampf mit dem Bogen

Jetzt war auch Penelopes Zeit gekommen. Sie nahm einen schönen Schlüssel aus Erz mit elfenbeinernem Griffe zur Hand und eilte damit, von Dienerinnen begleitet, in eine ferne Hinterkammer, wo allerlei kostbare Geräte des Königs Odysseus aus Erz, Gold und Eisen aufbewahrt waren. Unter andern lag hier auch sein Bogen und der Köcher voller Pfeile, beides Geschenke eines lakedaimonischen Gastfreundes. Als Penelope die Pforte aufgeschlossen, schob sie die Riegel zurück. Diese krachten, wie ein Stier im Felde brüllt, die Türflügel öffneten sich, und Penelope trat ein und musterte die Kästen, wo Kleider und Geräte verwahrt lagen. Da fand sie auch Bogen und Köcher an einem Nagel hängen, streckte sich und nahm beide herab. Der Schmerz überwältigte sie, sie warf sich auf einen Stuhl, und Bogen und Köcher auf dem Schoße, saß sie lang in Tränen da. Endlich erhob sie sich; die Waffen wurden in eine Lade gelegt, mit welcher ihr die Dienerinnen folgten. So trat sie mitten unter die Freier in den Saal, ließ Stille gebieten und sprach: „Wohlan, ihr Freier, wer mich erwerben will, der gürte sich, es gilt jetzt einen Wettkampf! Hier ist der große Bogen meines erhabenen Gemahls: Wer ihn am leichtesten spannt und durch die Löcher von zwölf hintereinander aufgestellten Äxten hinschnellt, dem will ich folgen als sein Gemahlin, will diesen Palast meines ersten Gatten mit ihm verlassen.“

Hierauf befahl sie dem Sauhirten, den Freiern Bogen und Pfeile vorzulegen. Weinend empfing Eumaios die Waffen aus der Lade und breitete sie vor den Kämpfern aus; und auch der Rinderhirt weinte. Das ärgerte den Antinoos. „Dumme Bauern“, schalt er, „was macht ihr mit euren Tränen unserer Königin das Herz schwer! Sättigt euch beim Mahle, oder weinet vor der Türe draußen! Wir aber, ihr Freier, wollen uns an den schweren Wettstreit machen; denn diesen Bogen da zu spannen dünkt mich gar nichts Leichtes. Unter uns allen ist kein Mann wie Odysseus; ich erinnere mich seiner noch wohl, obgleich ich damals noch ein kleiner Knabe war und kaum reden konnte.“ So sprach Antinoos, im Herzen aber dachte er sich die Bogensehne schon gespannt und den Pfeil durch die Äxte hindurchgeflogen. Ihm aber war der erste Pfeil aus der Hand des Odysseus beschieden.

Jetzo stand Telemach auf und sprach: „Fürwahr, Zeus hat mir meinen Verstand genommen! Meine Mutter erklärt sich bereit, dieses Haus zu verlassen und einem Freier zu folgen, und ich lache dazu. Wohlan, ihr Freier, ihr waget den Wettkampf um ein Weib, wie in ganz Griechenland keines mehr ist. Doch das wisset ihr selbst, und ich brauche meine Mutter euch nicht zu loben. Drum ohne Zögern den Bogen gespannt! Hätte ich doch selbst Lust, mich im Wettkampf zu versuchen; dann, wenn ich euch besiegte, würde mir die Mutter das Haus nicht verlassen!“ So sprach er, warf Purpurmantel und Schwert von der Schulter, zog eine Furche durch den Estrich des Saales, bohrte die Äxte, eine um die andere, in den Boden und stampfte die Erde wieder fest. Alle Zuschauer bewunderten seine Kraft und sichere Genauigkeit. Dann griff er selbst nach dem Bogen und stellte sich damit auf die Schwelle. Dreimal versuchte er den Bogen zu spannen, dreimal versagte ihm die Kraft. Nun zog er die Sehne zum viertenmal an, und jetzt wäre es ihm gelungen; aber ein Wink des Vaters hielt ihn mitten in der Anstrengung zurück. „Ihr Götter“, rief er, „entweder bin ich ein Schwächling oder noch zu jung und nicht imstande einen Beleidiger von mir abzuwehren! So versucht es denn ihr andern, die ihr kräftiger seid als ich!“ Also sprechend, lehnte er Bogen und Pfeil an den Türpfosten und setzte sich wieder nieder auf den Thronsessel, von dem er aufgestanden war.

Mit triumphierender Miene erhob sich jetzt Antinoos und sprach: „Auf denn, ihr Freunde, fangt an dort hinten, von der Linken zur Rechten, wie der Weinschenke den Umgang hält!“ Da stand zuerst Leiodes auf, der ihr Opferer war und immer zuhinterst im Winkel am großen Mischkruge saß; er war der einzige, dem der Unfug der Freier zuwider war und der die ganze Rotte haßte. Dieser trat in die Schwelle und bemühte sich vergebens, den Bogen zu spannen. „Tu es ein anderer“, rief er, indem er die Hände schlaff herabsinken ließ, „ich bin der Rechte nicht! und vielleicht ist keiner in der Runde, der es vermag.“ Mit diesen Worten lehnte er Bogen und Köcher an den Pfosten. Aber Antinoos schalt ihn und sprach: „Das ist eine ärgerliche Rede, Leiodes; weil du ihn nicht spannen kannst, soll es auch kein anderer vermögen? Auf, Melanthios“, sagte er dann zum Ziegenhirten, „Zünd ein Feuer an, stell uns den Sessel davor und bring uns eine tüchtige Scheibe Speck aus der Kammer, da wollen wir den ausgedörrten Bogen wärmen und salben, dann soll es besser gehen!“ Es geschah, wie er befohlen, aber es war vergebens. Umsonst bemühte sich ein Freier nach dem andern, den Bogen zu spannen. Zuletzt waren nur noch die beiden tapfersten, Antinoos und Eurymachos, übrig.