Zum Hauptinhalt springen

Juli 1916

Solche Kontraste gibt’s nur an der Front

Das Feuilleton:

Nachdruck verboten.

Bei der Isonzoarmee.

Von Alice Schalek.

(Vom Kriegspressequartier genehmigt.)

Trommelfeuer auf dem Monte San Michele.

Nach langem Bitten bekomme ich die Erlaubnis mitzugehen. Natürlich auf eigene Gefahr und Verantwortung .. Ich fühle, wie die Freiwilligkeit die Last erschwert. Daß ich nicht mitgehen muß, verursacht den innern Hader .. Zur angegebenen Stunde, um 5 Uhr nachmittags, melde ich mich beim General als abmarschbereit .. Ich aber bitte darum, mit einem Herrn gehen zu dürfen, der ohnedies heute in Stellung muß. Durch mich soll keiner gefährdet werden, von dem es der Dienst nicht verlangt .. Ein blutjunger Leutnant, der über die sich eröffnende Abwechslung seelenvergnügt ist, biegt mit mir am Fuße des Berges ab, den wir umgehen, um ihn dann von der Flanke anzufassen. Vorher bekomme ich den Befehl, Punkt 9 Uhr wieder an der Ausgangsstelle zu sein .. Tiu, tiu, tiuuu — geht es uns von der Seite an .. Und plaudernd bummelten wir durch die Mondnacht wiederum heim .. Beim Artilleriebeobachter der Podgora bin ich gesessen, atemlos harrend, was sich in seinem Abschnitte begeben würde .. Eine Bejahung der Instinkte, eine Betonung der Persönlichkeit hat Platz gegriffen, wie sie nie vordem hätte gezeigt werden dürfen .. Oberhalb der Parkmauer des Schlosses bin ich neulich beschossen worden .. Nur die Unsern halten es aus .. Wir stehen da, ohne Regung. Mag der Feind uns sehen! .. Kein Wort haben wir noch gesprochen. Jetzt sehe ich ihn an. Dünn ist er und blaß. Nicht viel über Zwanzig .. Etwas Sonderbares geht in mir vor. Ich sehe den Leutnant an; Volksschullehrer ist er in einem ungarischen Dorf .. Und wie ein blendendes Licht steigt in mir eine Erkenntnis auf .. Während des Trommelfeuers auf dem San Michele erleuchtet ein neues Verstehen jede Windung meines Gehirns .. Der Leutnant ahnt nicht, wie seine Haltung auf meine Erkenntnis wirkt .. Er sieht mich an und lächelt. Er fühlt, daß ich mit ihm denke, unsere Nerven schwingen während des Trommelfeuers im Takt .. Es klingt wie eine Solonummer im Orchester.. Tk, tk, tk — geht es los ... Der erste Ton ist’s des Morgens, wenn ich um halb vier aufstehe, um in die Stellung zu gehen .. Tiu, tiu, tiu — tk, tk, tk — kings! .. Aber auch nicht der Gedanke daran, daß man ungehorsam sein, den Befehl mißachten könnte, kommt einem von uns beiden in den Sinn. Die ungeheure Triebkraft eines Befehls verspüre ich jetzt am eigenen Leib .. Der Leutnant bleibt stehen .. Eine Nachtigall lockt und die Akazien duften betäubend .. Jetzt freilich kommt es von der anderen Seite; nicht mehr so peitschend und eilig, sondern langsam brüllend, fast hohnvoll singend. Der Leutnant zerrt mich an die Wand. Wu — wu — wu — — .. Ein Blindgänger war’s .. Kein Gedanke daran, stehenzubleiben oder Deckung zu suchen. Befehl: Um neun Uhr stellig zu sein. Zum erstenmal kann ich ganz mit der Mannschaft fühlen. Was für eine Erleichterung ist ein Befehl! .. Wunderbar leicht kommt man durchs Feuer, wenn der Befehl es heischt .. Wohl jenem Volk, das im Befehl leben dürfte .. vertrauend, gläubig, daß der Befehl auch der richtige sei, von den Besten der Besten ersonnen; so wie es hier der vorwärtsdrängende und jeden Rückfall abschneidende, das Eigentum schützende Befehl vom Isonzo ist. Verwundete holen uns ein .. Einer ist taubstumm geworden. Er winkt und deutet, was ihm geschah .. Die Autos warten und bald sind wir im Quartier. Der Tisch ist gedeckt und in dampfenden Schüsseln wird das Mahl aufgetragen. In jedem Auge steht noch der Abglanz des Erlebnisses. Alles schweigt. Aber wir essen ganz tüchtig und schlafen prächtig und nächsten Mittag spielt die Militärmusik bei der Offiziersmesse auf. Wir haben ja den benötigten Graben. Im Freien wird gespeist, die Spargel schmecken gar köstlich und süße Walzermelodien wetteifern mit dem Kuckuck und mit dem Specht .. In Rom erfährt Salandra wohl nichts, als daß er heute einen Graben verlor.

Die Honveds auf dem Monte San Michele.

Wenn man des Morgens um vier zur Front hinaus fährt, muß man unterwegs jedesmal ein wenig halten, um die Verwundetenzüge vorbeizulassen .. Die Leichtverletzten nehmen noch Haltung an und salutieren, andere heben matt den Blick und versuchen mit der Hand nach der Mütze zu fahren, viele aber liegen unbeweglich, haben den Mantel übers Gesicht gezogen und sehen und hören nichts .. Das Gefecht ist zu Ende. Wir können also gehen. ..

Nach San Martino del Carso.

Den Monte San Michele lasse ich heute rechts liegen .. Auf den frontseitigen Mauern stehen mit Erde gefüllte Papierkörbe zum Schutz gegen die Gewehrkugeln .. Heute führt mich mein Weg zur Nachbardivision, zu den ungarischen Truppen des Heeres .. Leichengeruch weht über die Straße weg .. Kein Korso einer Großstadt ist so menschenbelebt wie diese granatenbestrichene Straße .. Hier liegen seit acht bis zehn Monaten zwischen den Stellungen ganz mumifizierte, durchlöcherte Leichen .. Die Gräben sind eng, fast nur mannsbreit und die Leute schlafen langausgestreckt auf ihrem Grunde. Man steigt über sie weg, aber sie wachen nicht auf .. Sechs Einschläge zählen wir und eine rasche Aufnahme gelingt .. Ich darf durch einen Panzerschild hinausschauen und den Trichter bestaunen .. Ich stehe inmitten der Arbeiterabteilung, die eben dabei ist, die Zertrümmerungen unseres Grabens auszubessern. Ihr Kitt hinterläßt lehmartige Flecke auf meiner Jacke, denn um den Trichter zu sehen, muß ich mich dicht an die frischgestrichene Mauer schmiegen. Das amüsiert sie und sie lachen .. und freiwillig schildern sie tausendundeine Einzelheit dieser Nacht .. Ein Mann legt sich eben eine Schnurrbartbinde an .. Beim Bataillonskommandanten bekomme ich ein Glas Eierschnaps. Das tut wohl. Die Nerven vibrieren doch von dem ewigen Krachen ringsum. »Decken Sie frisches Zeitungspapier auf«, ruft der gastfreie Offizier .. Sechs Schüsse — sechs Vollttreffer .. Und während ich Platte auf Platte mit Bildern für die Zukunft fülle, eilt die Mannschaft von allen Ecken herbei. Sie möchten mit auf das Bild. Beim Brigadier wartet ein Frühstück auf uns; dankbar nehme ich’s an .. Weil mich Cadorna heute wiederum verschonte, weil die Granate wiederum gerade um ein Viertelstündchen zu spät kam, gibt’s eine Flasche echten Champagners und als besonderen Lohn eine Dose wirklichen Kaviars. Knusprige Kipfel und bunte Blumen, Radieschen und ein Damastgedeck — solche Kontraste gibt’s nur an der Front. ..

— — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — — —

Der Leitartikel:

Wien, 13. Juli

... An solchen Ausartungen der weiblichen Natur können wir nicht schweigend vorübergehen, weil sie manches erklären, was zu den Erlebnissen dieses Krieges gehört, und weil uns in solcher Denkweise und in solchen Handlungen etwas Fremdartiges entgegentritt, zu dessen Verständnis die bisherigen Erfahrungen wenig zu sagen haben ... diese abstoßende Unweiblichkeit, diese auf der Gasse zur Schau getragene Gemütlosigkeit sind Merkmale ernster Verwilderung.

... Eine Frau, die den Beruf, zu dem sie geschaffen ist, nicht erfüllt, muß durch Anlage und Erziehung gütig sein, damit sich nicht Besonderheiten herausbilden, die aus den Störungen im körperlichen Gleichgewicht entstehen mögen ... Wie das immer zu sein pflegt, daß die Frau, wenn sie aus der Eigenart des Geschlechtes heraustritt, ihre Zartheit abstreift und sich zum Mannweib verunstaltet, zu einer seltsamen Grausamkeit neigt, hat sich diese Erfahrung auch in England wiederholt ...

Ach so!

Da werden Weiber zu Hyänen. Die Spinster.. darf nicht mit ihrer festländischen Schwester verglichen werden. Diese ist gewöhnlich ein liebes, gutmütiges und bescheidenes Wesen .... Die Spinster in England.. will durch Erfolg und Macht im öffentlichen Leben entschädigt sein.

... Sie kann die Kriegsleidenschaften schüren und auch fanatische Frauen mit sich fortreißen, da sie den Schmerz einer Mutter nicht spürt. Wenn es nur wirklich Leidenschaft und Fanatismus wäre. Es kann auch sein, daß die Suffragetten sich in ein nüchternes Geschäft mit der Kriegspartei eingelassen haben ... und vielleicht wurden sie gemietet, um die erlöschende Glut wieder anzufachen ... Dem Himmel sei Dank, daß eine österreichische Frau .. im Kriege dort ihren Platz gewählt hat, wo Kranke zu pflegen, Müde zu erfrischen und Bedrückte zu trösten sind ...

Vgl.: Die Fackel, Nr. 431–436, XVIII. Jahr
Wien, 2. August 1916.